Lilja Sigurðardóttir– Betrug

Lilja Sigurdardóttir – Betrug

Nach zwei schwierigen Einsätzen in einem Ebolagebiet und Syrien kehrt Úrsúla zurück nach Island zu ihrem Mann und den beiden Kindern. Als man ihr interimsweise den Posten der Innenministerin anbietet, kann sie nicht ablehnen und wird schon am ersten Tag mit einem Vertuschungsfall bei der Polizei konfrontiert. Sie will ihre Arbeit besser machen als die Vorgänger, doch die Politik ist ein Haifischbecken und man hat nur auf neues Futter gewartet. Es dauert nicht lange, bis sie Drohungen an ihrem Auto findet, bis plötzlich der Mörder ihres Vaters auftaucht und bis ihr fragiles Privatleben gänzlich aus dem Runder zu laufen droht. Kommt die toughe Frau, die glaubte, schon alles gesehen zu haben, jetzt in ihrer beschaulichen Heimat an den Rand ihrer Grenzen?

Nach der Reykjavík Trilogie nun ein Standalone-Thriller der mit Theaterstücken bekannt gewordenen Autorin Lilja Sigurðardóttir. In „Betrug“ führt sie ihre Protagonistin in die schmutzige Welt der Politik ein, die von Korruption und Frauenfeindlichkeit geprägt ist – auch einem Land, das international eher wie alle nordischen Länder für egalitär gehalten wird. Aus ganz unterschiedlichen Richtungen scheinen die Angriffe zu kommen, wie diese zusammenhängen und wem man glauben und vertrauen kann, bleibt lange im Dunkeln. Ein spannender Fall für eine starke Frau, die auch Schwächen zeigen darf.

Úrsúla ist von Idealismus geprägt, sie zieht es in die Gebiete, wo die Lage am prekärsten ist und hat keine Angst, sich selbst auch großer Gefahr auszusetzen. Was soll dann auf Island Großes drohen? Sie übernimmt den Posten als Ministerin in der Überzeugung, etwas besser machen zu können, muss aber schnell erkennen, dass ihr Handlungsspielraum begrenzt ist. Und erleben, dass sie besonders als Frau Anfeindungen ausgesetzt ist. Es sind viele kleine Nadelstiche, die sie aushalten muss, während sie ihre Erlebnisse aus Afrika und Syrien noch nicht verarbeitet hat. Auch der brutale Tod ihres Vaters in ihrer Kindheit verfolgt sie nach wie vor.

Was mich besonders überzeugte, war, dass sie zwar zunächst noch versucht, über einen Schutzpanzer emotional nichts an sich heranzulassen, dann aber doch einsieht, dass ein Psychologe und ein offenes Gespräch ein Weg aus dem Teufelskreis sein kann. Eine starke Persönlichkeit besticht eher dadurch, dass sie durchdacht mit Problemen umgeht als dass sie als Einzelkämpfer versucht, nichts an ihrem Image kratzen zu lassen. Eine Facette, die man auch in Romanen bis dato eher selten findet.

Die politischen Verstrickungen sind clever inszeniert und lassen die Zusammenhänge nicht gleich erkennen. Die Spannung zieht sich so geschickt durch die Handlung und muss nicht unnötig durch actiongeladene Szenen aufrechterhalten werden.

Ein überzeugender Fall, der vor allem durch die Figuren und einen komplexen Fall besticht.

Frank Heer – Alice

Frank Heer – Alice

Obwohl die Trennung von seiner Jugendfreundin Alice schon einige Zeit zurückliegt, ist Max Rossmann noch nicht ganz über sie hinweg. Als er jedoch in einem Club eine noch unbekannte Sängerin sieht, ist er sofort fasziniert von ihr. Sie heißt ebenfalls Alice und er nutzt seinen Job als Lokaljournalist beim Der Anzeiger, um über sie zu berichten und sich ein Interview mit ihr zu sichern. Sie nähern sich an, dank seines Berichts kommt Alice auch zu ungeahnter Popularität, doch dann verschwindet sie plötzlich. Dafür taucht die andere Alice wieder auf und Max wird bei seinem Zeitungsjob gefordert: nicht nur scheint ihn ein mysteriöser Anrufer zu stalken, auch die Erkenntnis, dass er nicht einfach alles berichten kann, wie er möchte, setzt ihm zu.

Frank Heer teilt einige Charakteristika mit seinem jungen Protagonisten: der Journalist schreibt ebenfalls über Musik und Film und lebt in Zürich. „Alice“ schildert nicht nur die Kompliziertheit von jugendlicher Liebe, sondern auch das Erwachsenwerden und Ankommen in einer Welt, in die man nicht hineinpasst, in der andere Werte gelten als die, von denen man überzeugt ist, und die vor allem aus Kämpfen zwischen den Generationen zu bestehen scheint. Der Autor fängt dabei nicht nur das Gefühl der Jugend ein, sondern auch das der 70er Jahre, das zwischen politischen Aktivismus und drogeninduziertem Eskapismus vor den Gräuel der Realität oszilliert.

Auch wenn die beiden Frauen Namensgeberinnen des Romans sind, ist doch Max die zentrale Figur, an der Heer die Konflikte des Heranwachsens authentisch abarbeitet. Die Erwartungen seiner Eltern, den biederen Anwaltsweg zu gehen, kann und will er nicht erfüllen. Zeiten von Sinnsuche, die hohe Identifikation mit Musik, die es schafft, die Emotionen zum Ausdruck zu bringen, für die ihm die Worte fehlen. Bei seiner Arbeit für die Zeitung lernt er nicht nur das Schreiben, sondern auch Zwänge kennen, von denen er nichts ahnte. Ungerechtigkeiten, die er empfindet, gehen gegen die Interessen des Besitzers und können nicht veröffentlicht werden. Der der Jugend eigenen Kampf für die großen Werte wird für ihn zur Zerreißprobe und er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

Die beiden Alice könnten kaum verschiedener sein und doch oder vielleicht auch gerade deshalb haben sie ihren Reiz. Unterschiedliche Lebensentwürfe, in denen Max sich spiegelt und die er als Reflexionsfläche benutzt. Die Handlung ist auf eine kurze Spanne beschränkt, die Max auf eine emotionale Achterbahn schicken und Entscheidungen fordern. Die ganze Bandbreite des Lebens bricht über ihn herein, überfordert bisweilen, lässt ihn jedoch auch wachsen und seinen Platz finden.

Ein dichter, aber restlos überzeugender Roman, dem es gelingt, mit passender Atmosphäre die Zeit der Unsicherheit und des Schwankens einzufangen.

Sofi Oksanen – Hundepark

Sofi Oksanen – Hundepark

Im Hundepark in Helsinki sieht sie sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder. Olenka dachte fernab der Heimat in Sicherheit zu sein, nicht gefunden zu werden, doch jetzt ist Daria aufgetaucht und das kann nichts Gutes bedeuten. Sie blicken auf die glückliche Familie mit den beiden Kindern. Ihren Kindern. Die jedoch nichts davon wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und wie sie gezeugt wurden. Und schon gar nichts wissen sie von den rücksichtslosen Machenschaften in der Ukraine, an denen Olenka selbst beteiligt war und bei denen die prekäre Lage junger, mittelloser Frauen ausgenutzt wurde. Doch nun holt sie die Vergangenheit und das, was sie getan hat, ein und sich muss sich ihren Taten stellen.

Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen thematisiert immer wieder politisch und gesellschaftlich brisante Themen in ihren Romanen und lässt dabei ihre eigene Biografie als Kind einer Einwanderin mit einfließen. Sowohl ihr Debüt „Stalins Kühe“ sowie auch „Als die Tauben verschwanden“ konnten mich bereits begeistern. „Hundepark“ ist jedoch deutlich ausgereifter und ein Text von psychologischer Tiefe, der nachhallt.

Die Handlung hat mehrere Erzählstränge. Zum einen erleben wir Olenka in der finnischen Gegenwart, wo sie sich mit Darias plötzlichem Auftauchen auseinandersetzen muss und offenbar große Angst vor dieser bzw. dem, was sie mit sich bringt, hat. Das Warum erklärt sich durch die Rückblenden, die an mehreren Zeitpunkten in der ukrainischen Vergangenheit ansetzen. Als Model wollte sie einst in Paris große Karriere machen und der Armut entfliehen, doch sie war zu störrisch, um die Tipps anzunehmen, und so fand sie sich bald wieder in der Einöde des Donbass. Ihr Vater war schon viele Jahre zuvor in einer illegalen Mine verunglückt – zumindest ist das die offizielle Version der Familie. Aber es gibt viele Versionen ihres Lebens.

Es entfaltet sich eine Geschichte, von der man weiß, dass sie in der Realität so geschehen kann und vor der man doch lieber die Augen verschließen möchte. Menschenhandel, Organhandel oder wie auch hier, junge Frauen zu Leihmüttern für jene machen, in der Regel aus dem Westen, die es sich leisten können. Nicht nur die finanzielle Not, sondern auch politischen Verstrickungen sind es, die dem Roman auch Spannung verleihen und die komplexe Realität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Ländern zwischen Ost und West greifbar machen.

Die Dichotomie von Täter und Opfer ist schwierig hier, denn man kann den Wunsch nach einem besseren Leben, nach einem kleinen Stückchen vom Kuchen des Glücks, gut nachvollziehen. Und es ist ebenso offenkundig, dass man entweder mitspielt und selbst zum Täter wird oder eben auf der Seite der Ausgebeuteten landet. Moral und Ethik haben es schwer in einem solchen Umfeld.

Ein erzählerisch starker Roman, der langsam in einem hineinkriecht und nicht mehr loslässt.

Arianna Farinelli – Aufbrüche

Arianna Farinelli – Aufbrüche

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario – dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.

Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort

Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort

Franz-Josef Klenke ist Redenschreiber für Außenminister Hans Behring. Worte sind sein Spezialgebiet, nachdem er in der Werbebranche schnell Erfolg hatte, wurde er vom Auswärtigen Amt angeworben, wo er nun dem ranghohen Minister die Worte in den Mund legt. Ausgerechnet er jedoch verliebt sich in Maria, die an selektivem Mutismus leidet. Sie hat die Worte, nur kommen sie ihr nicht über die Lippen. In Gesellschaft von Menschen verstummt sie, wird unsicher, will sich verstecken. Die nächste Reise führ Klenke mit seinem Vorgesetzten erst nach Mali und anschließend nach Marokko, wo Cornelius von Schröder zum Botschaftspersonal gehört. Dieser hatte eigentlich eine strahlende Karriere geplant, doch es läuft nicht rund. In ein unbedeutendes B-Land ohne Perspektive abgeschoben kriselt es nun auch noch in seiner Ehe. Sein Leben ist eine Farce, nein, die ganze Welt ist eine Farce, das scheinen nur noch nicht alle begriffen zu haben. Dabei kann man das auf Youtube alles ansehen. Immer mehr steigert er sich in seinen Wahn, bis er seinen ganz eigenen Plan entwirft.

Sönke Wortmann ist bislang eher als Regisseur in Erscheinung getreten und gehört seit Jahrzehnten zur Riege der großen deutschen Namen im Filmgeschäft. Er ist Mitglied der Autoren-Fußballnationalmannschaft, wenn auch bisher nur sein WM Tagebuch erschienen ist, das er parallel zum Film über die Nationalmannschaft 2006 verfasste. „Es gilt das gesprochene Wort“ ist sein erster belletristischer Roman, den er in Anbetracht seines Hintergrunds in einem eher unerwarteten Milieu angesiedelt hat. Es ist die Geschichte zweier Männer in der zweiten Reihe der politischen Riege. Sie kennen die Spielregeln, finden innerhalb des engen Rahmen des Beamtentums jedoch ihre Nischen und Ausflüchte.

Der Roman braucht einiges an Vorlauf, bevor er sich der eigentlichen Handlung nähert. Auch wenn dieser Rahmen einiges zum Hintergrund des diplomatischen Dienstes und den beiden Protagonisten liefert, hätte die eigentliche Geschichte für mich etwas unmittelbarer beginnen dürfen.

„Die Macht der Worte. Worte konnten die Welt verändern, können die Welt besser machen.“

Klenkes Philosophieren über Worte, seine Bewunderung für begnadete Redenschreiber sind für mich das Highlight des Romans. Nicht nur, weil diese Kunst heutzutage – von engagierten Deutschlehrerinnen mal abgesehen – kaum mehr wahrgenommen wird, sondern auch, weil er hervorragend transportiert, wie gewaltig sie wirken könne, welche Macht sie haben können und wie sie die Welt der Dinge mit Bedeutung füllen. Ganz besonders dünnes Eis ist dabei die Diplomatie, wo jedes falsche Wort zu einer Katastrophe führen kann – oder dem Gegenteil. Viele große Figuren der Geschichte sind durch starke Worte in Erinnerung geblieben. Doch heute findet mehr der Haarschnitt oder der Sitz des Anzugs Beachtung als das, was gesagt wird.

Sein Gegenspieler von Schröder ist zwar mit interessanten Anlagen versehen – von adeligem Stand, aber doch profanem Namen; nicht ganz so erfolgreich die Laufbahn verfolgt wie geplant; mit chilenischer Gattin eigentlich international passend geprägt – bleibt aber dennoch für mich etwas zu blass. Seine Radikalisierung ist zwar nachvollziehbar motiviert, verläuft aber doch etwas zu schnell und ohne Brüche, als dass ich sie ganz überzeugend finden würde.

Der Erzählton ist leicht wie Wortmanns Filme: unterhaltsam, plaudernd und humorvoll. Ein insgesamt durchaus gelungenes Debüt, das aber noch etwas Luft nach oben hat.

Sarah Höflich – Heimatsterben

Sarah Höflich – Heimatsterben

Der nahende Tod ihrer geliebten Großmutter bringt Hanna aus den USA zurück nach Deutschland. Eigentlich sollte es nur ein kurzer Besuch werden, doch die Journalistin beobachtet fasziniert, was sich in ihrer Heimat tut. Konservative Kräfte haben immer mehr Zulauf, geradezu völkisch mutet das an, was die neue Partei BürgerUnion in ihrem Programm stehen hat. Ganz weit vorne in der Bewegung ist Felix von Altdorff, Spross einer alten Adelsfamilie, Ehemann von Hannas Schwester Trixie und aussichtsreichster Kandidat auf die Kanzlerschaft. Als er Hanna überraschend um Unterstützung bittet, ist die Journalistin zunächst geneigt, dies abzulehnen, aber die Chance, ein Gegengewicht zu bilden und das Abdriften an den rechten Rand verhindern und am Rädchen der großen Politik mitdrehen zu können, überzeugen sie dann. So erlebt sie unmittelbar, wie sich die Regierung 80 Jahre nach der schlimmsten Katastrophe wieder in selbige bewegt.

„Pass bloß auf. Das da drüben ist nicht mehr Deutschland, Hanna.“ Ihre Stimme klang heiser. „Das ist das Vierte Reich!“

Sarah Höflichs Roman greift aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen auf und treibt diese gar nicht mal so unheimlich viel weiter. Eine vorgeblich bürgerliche Partei, jedoch mit radikalem rechten Flügel, der alte Parolen nur etwas moderner verpackt, kann weite Teile der enttäuschten Bevölkerung erreichen. All die Abgehängten und Enttäuschten, die einen Sündenbock für das suchen, was in ihrem Leben nicht glückt, werden bedient und finden sich wieder. Unheilvoll rast die einstmalige Musterrepublik auf den Abgrund zu.

Dramaturgisch raffiniert aufgebaut beginnt der Roman mit Flucht und endet mit dieser. Der alte Spruch, dass Geschichte sich wiederholt, wird in „Heimatsterben“ überzeugend umgesetzt. Nicht nur zeigt er, dass ein gewisses Gedankengut schlichtweg nicht totzukriegen ist, sondern auch, dass gemäßigte Kräfte, die mit besten Ansinnen an ihre Aufgaben gehen, letztlich auch zum Opfer der Geister werden können, die sie selbst gerufen und gestärkt haben. Es ist nicht der plötzliche große Umsturz, sondern der schrittweise Marsch in eine Richtung, die die gemäßigten, weltoffenen Bürger ihr Land nicht mehr erkennen lässt. Man hat es kommen sehen, nur: niemand hat etwas dagegen getan.

Wenn Literatur relevant sein möchte, muss sie auf das reagieren, was sich in der Welt tut. Genau das gelingt der Autorin, sie zeichnet ein erschreckendes Szenario, das nicht schwarz/weiß ist, sondern auch die feinen Schattierungen aufweist, die das Leben so komplex und undurchschaubar machen. Ihre Figuren wirken dabei authentisch, was die Handlung ausgesprochen real wirken lässt. Das, was sie in ihrem Roman schildert, könnte genau so Realität werden. Ein charismatischer Anführer für ein enttäuschtes und frustriertes Volk – viel mehr benötigt es manchmal nicht, um den Stein ins Rollen bringen, der sich nicht mehr aufhalten lässt.

Ruth Lillegraven – Tiefer Fjord

Ruth Lillegraven – Tiefer Fjord

Als das nächste Kind in der Notaufnahme deutliche Spuren von häuslicher Gewalt aufzeigt, reißt bei dem Arzt Haavard der Geduldsfaden. Wie lange soll er noch tatenlos mitansehen, wie Kinder vor seinen Augen leiden müssen, oftmals mit dem Leben bezahlen und niemand etwas unternimmt? Auch seine Frau Clara ist schockiert ob des neuerlichen Falles, schon lange versucht sie einen Gesetzentwurf zum Schutz misshandelter Kinder durchzubringen, doch wieder einmal wird ihr Vorhaben abgeschmettert. Haavard beginnt seine Beobachtungen zu sammeln und hat bald schon eine Liste mit eindeutig verdächtigen Eltern zusammen. Doch genau diese wird ihm zu Verhängnis, denn jemand nimmt die Sache, vor der die Öffentlichkeit die Augen verschließt, in die Hand und ausgerechnet Haavard war gleich zwei Mal in unmittelbarer Nähe, als brutal Rache geübt wurde.

Die norwegische Autorin Ruth Lillegraven wurde bereits mehrfach für ihre Bücher ausgezeichnet, „Tiefer Fjord“ ist ihr erster Thriller, der nicht nur wegen der brutalen Thematik nahegeht, sondern auch clever konstruiert wurde und so unerwartete Überraschungen und Wendungen bietet. Auch die Einblicke in den Politikbetrieb sind überzeugend integriert, da sie nebenbei der Krimihandlung mit informativen Hintergründen mehr Tiefe verleihen.

Man kann die Wut der Figuren nachvollziehen. Immer wieder erleben zu müssen, wie scheinbar alle staatlichen Institutionen versagen, wenn es um den Kinderschutz geht, kann niemanden kaltlassen. Das Motiv des Mörders liegt auf der Hand, moralisch kann man ihm durchaus folgen, auch wenn das gewählte Mittel jenseits aller Legalität ist.

Haavard erscheint zunächst als liebender Vater und engagierter Arzt, doch bald schon bekommt das perfekte Image Risse und reißt ihn von dem gerade errichteten Sockel. In seiner Ehe kriselt es schon lange, weshalb er sich heimlich mit seiner Kollegin trifft, fest davon überzeugt, dass Clara davon nichts ahnt. Doch diese ist deutlich aufmerksamer und vor allem cleverer darin etwas zu verbergen. Die pflichtbewusste Beamtin des Justizministeriums erscheint zunächst etwas blass, offenbart im Laufe der Handlung jedoch unerwartete Abgründe.

Ein Psychothriller, der seinen Namen verdient. Komplexe Figuren, deren Handeln jedoch überzeugend durch ihre Erlebnisse motiviert ist und die widersprüchliche Emotionen aushalten müssen, was sie authentisch und glaubwürdig wirken lässt.

Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Eines dieser Unglücke, von denen sich jeder später fragt, wie sie geschehen konnte. Wegen eines Unwetters strömen Menschenmassen in die U-Bahn, die dem Ansturm nicht gewachsen ist, Panik und Enge führen zu unzähligen Opfern. Unter ihnen auch der Schüler des Konservatoriums Franzisk, der zwar überlebt, aber in ein Koma fällt. Nach Wochen des Bangens verlieren nach und nach alle die Hoffnung, außer seiner Babuschka, die weiterhin täglich an seinem Bett sitzt und ihm davon erzählt, was sich außerhalb der Krankenhausmauern zuträgt. Das Wunder, an das keiner mehr glauben mag, ereignet sich nach zehn langen Jahren doch noch: Franzisk erwacht und sieht eine Welt, die einerseits genauso ist wie ein Jahrzehnt zuvor und doch ganz anders.

Sasha Filipenko ist eine der jungen Stimmen aus Belarus, die über die Landesgrenzen hinaus gehört werden und einen Blick hinter die Fassade des Regimes erlauben. „Der ehemalige Sohn“ ist sein erster Roman, der in seiner Heimat auch mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, auf Deutsch ist im vergangenen Jahr bereits „Rote Kreuze“ erschienen. Als Journalist macht er Missstände öffentlich und engagiert sich für die Protestbewegung, dieses politische Engagement spielt auch in seinem Debütroman eine entscheidende Rolle.

Der erste Teil des Romans lässt den Leser in die gesellschaftlichen Strukturen des recht abgeschotteten Landes am östlichen Rand Europas blicken. Auf den Staat hofft niemand, die Familie und Beziehungen sind es, die darüber bestimmen, welche Chancen und Möglichkeiten man hat. Die öffentliche Hand ist von Korruption unterwandert und ein falsches Wort kann zu drakonischen Strafen führen, was im kollektiven Rückzug ins Private resultiert. Während Franzisk im Koma liegt, sorgt dich die Großmutter aufopfernd um ihn und lässt nichts unversucht, während seine Mutter mit dem Arzt anbändelt, um sich selbst ein besseres Leben zu ermöglichen.

„Ich will einfach sehen, dass außer mir auch andere Leute hinausgehen, die genauso nicht an diese Farce glauben, und spüren, dass ich nicht die einzige Geisel in diesem Narrenhaus bin.“

Franzisks Welt ist eingefroren im Jahr 1999, dies erlaubt ihm den Blick eines Fremden, als er seine Heimat 2009 neu kennenlernt. Trotz formeller Unabhängigkeit hängt das Land noch immer am Tropf des großen Bruders, der über ausreichend Druckmittel verfügt, Belarus gefügig zu machen. Der vorgeblich demokratisch gewählte Präsident ist ein Autokrat wie er im Buche steht und der keine Scheu zeigt, gegen sein Volk alle verfügbare Gewalt anzuwenden, um dieses in Schach zu halten. Die staatliche Propaganda glaubt schon lange niemand mehr und wer kann, der flieht ins Ausland. Der Protagonist muss sich schon fragen, weshalb er in dieses Leben zurückgekehrt ist.

Auch in diesem Roman gelingt Filipenko das Private mit dem Politischen zu verbinden und über die Erzählung hinaus nachzuwirken. Die Musik spielt ebenfalls wieder eine wichtige Rolle und dient letztlich als Flucht vor einer kaum ertragbaren Realität. Nicht ganz so ausdrucksstark wie sein späterer Roman „Rote Kreuze“ lässt aber auch dieser schon erkennen, dass man es mit einem beachtenswerten Autor zu tun hat, der unbedingt gehört werden sollte, da er Literatur nicht nur als Unterhaltungsmedium, sondern auch als Sprachrohr nutzt und damit auch an seine Leser eine Aufforderung über den Genuss der Geschichte hinaus sendet.

Jérôme Leroy – Der Schutzengel

Jérôme Leroy – Der Schutzengel

Berthet soll getötet werden, von seinen eigenen Leuten, die wie er Mitglied der Unité sind, jeder Einheit, die im Verborgenen die Schmutzwäsche des Staates beseitigt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Berthet ist Agent, Auftragsmörder, der nicht viele Fragen stellt, sondern sauber die Befehle ausführt. Nebenbei hat er seit Jahren jedoch auch seine eigene Agenda, diese hat auch einen Namen: Kardiatou Diop. Als er ihr zum ersten Mal begegnete, war sie eine 14-jährige Göre aus der Vorstadt mit schlechter Zukunftsprognose, doch im Geheimen hat er immer wieder die Weichen gestellt und eine schützende Hand über das Mädchen gehalten, das inzwischen zur populären Politikerin aufgestiegen ist. Doch bevor seine Kollegen ihren ultimativen Anschlag durchführen, muss Berthet noch etwas erledigen: seine Geschichte erzählen.

„Das ist das Alter, denkt Berthet erneut. Oder die Wehmut. Berthet ist ein Nostalgiker. Das weiß er. Dabei gibt es eigentlich nicht viel, dem er nachtrauern kann. Er hat sich sein Leben lang mit nichts anderem als Mord, Folter, Erpressung, Destabilisierung, Manipulation, Vergewaltigung, Verstümmelung, Attentaten und Entführungen beschäftigt. Trotzdem ist Berthet ein Nostalgiker.“

Schon Jérôme Leroys Krimi „Der Block“ über die extremen Rechten in Frankreich konnte mich sehr begeistern, weshalb die Erwartungen an „Der Schutzengel“ hoch waren. Wieder einmal greift er in einem Roman politische Ereignisse und gesellschaftliche Strömungen auf, die maßgeblich für die Handlung sind. Der aktuelle Krimi ist jedoch in seiner Konstruktion etwas sperrig, was das Lesen nicht ganz einfach macht, wenn dies auch literarisch experimentell und interessant gestaltet ist. So kommt es für mich nach extrem starkem Beginn im ersten Teil zu einem langsamen Nachlassen, Teil drei ist mit Abstand der schwächste, was ich einzig der Perspektivwahl zuschreiben würde.

Der Krimi beginnt damit, dass Man Berthet in Lissabon in voller Aktion erlebt. Nein, eigentlich hat er dort keinen Auftrag, sondern genießt nur die Stadt unter einer seiner vielen Identitäten, als er auf ein ziemlich dilettantisch agierendes Trio aufmerksam wird. Es endet nicht nur im Blutbad, sondern im völligen Chaos. In Teil zwei will er den Autor Joubert davon überzeugen, seine Memoiren zu schreiben. Joubert ist gerade verlassen worden und ziemlich abgebrannt, aber ein dreiteiliges, ziemlich totes Mordkommando in seinem Wohnzimmer überzeugt ihn dann doch recht schnell.

»Wenn ich jedes Mal geheult hätte, wenn mein Leben im Umbruch war und ich Zeuge eines Blutbads wurde … Diese linken Intellektuellen sind die reinsten Waschlappen. Verdammt noch mal.« »Und dann wird er bald auch noch fünfzig«, fügt Berthet hinzu, während er Joubert die Schulter tätschelt. »Und er hat nicht viel Geld und auch keine Rolex.«

Berthet ist ohne Frage die interessanteste Figur. Zahlreiche Brüche – kaltblütiger Mörder hier, Poesie liebender Schutzengel dort – zeigen immer wieder neue Seiten. Daneben verliert man beinahe die politischen Implikationen seines Daseins aus den Augen. Der Aufstieg der extremen Rechten, die verzweifelten Versuche diese im Zaum zu halten und das Mächtegleichgewicht nicht ins Wanken zu bringen, man kann sich problemlos das Dasein der Unité vorstellen. Mit dem SAC (service d’action civique) gab es ja durchaus schon eine reale Vorlage.

Neben den kritischen Anspielungen begeistert der Roman jedoch vor allem durch die lakonische Erzählweise. Berthet fackelt nicht lange rum, er nennt die Dinge beim Namen, er hat zu viel gesehen, um noch irgendwas zu beschönigen. Außer in der Poesie, da darf es schon mal etwas verspielter für ihn werden.

Arvid Heubner – Totenstill

Arvid Heubner – Totenstill

Ein Eliteinternat in Sachsen-Anhalt. Seit vielen Jahren schon ist es Tradition, dass die Abiturientinnen zu einer Silentiumwoche aufbrechen, um vor den Prüfungen nochmals mentale Energie zu tanken. Doch nun ist seit mehreren Tagen kein Kontakt mehr zu ihnen herzustellen und die winterlichen Temperaturen und der starke Schneefall machen den Verantwortlichen Sorgen. Die Polizei kämpft sich zur Hütte vor, diese ist jedoch verlassen, von den Mädchen und ihrem Lehrer keine Spur. Erst als einige Stunden später die 18-jährige Mia völlig erschöpft aufgefunden wird und den Hinweis auf eine Höhle geben kann, gibt es die erste hilfreiche Spur. Doch was die Ermittler dort erwartet, ist ein Bild des Grauens: alle Schülerinnen sowie der Tutor sind tot, brutal und eiskalt ermordet. Tinus Geving vom LKA und ehemaliger Europol Ermittler leitet die Mordkommission, die schon bald merkt, dass der Fall nicht nur wegen der Herkunft der höheren Töchter brisant ist, sondern auch ganz aktiv aus den eigenen Reihen behindert wird.

Der Klappentext hat mich unmittelbar neugierig auf den Thriller gemacht. Welche Intrigen wohl in diesem Internat gesponnen wurden, dass sie mit einem solchen Verbrechen endeten? Und wer sind die Eltern der Mädchen, dass diese statt zu trauern Einfluss auf die Ermittlung nehmen können? Leider jedoch blieb die Geschichte für mich etwas hölzern und an vielen Stellen nicht wirklich nachvollziehbar. Der Fokus liegt nicht auf den Geschehnissen der Schule, sondern auf der Soko Eichenburg, allen voran dem Geving, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und dessen negative Gemütsverfassung dich bleiern über den ganzen Text senkt.

Die Ermittlungen der Sonderkommission kommen nur langsam voran, viel zu wenige Hinweise erschweren die Spurensuche, wesentliche Untersuchungen werden schlichtweg vergessen. Weshalb Geving nicht mehr Europol ist, erschließt sich im Laufe der Handlung durch seine Flashbacks, dass er aber in der tiefsten Provinz versauert, erklärt sich dadurch für mich nicht. Auch dass sein letzter internationaler Fall plötzlich mit den Vorkommnissen des Internats in Verbindung steht und er die großen Zusammenhänge erkennt, war für mich etwas zu viel des Zufalls.

Parallel werden die Intrigen innerhalb der sachsen-anhaltinischen Landesregierung gesponnen. Auch hier leider nur eine Ansammlung eindimensionaler Figuren, die sich durch Machtgeilheit und Rücksichtslosigkeit auszeichnen, weitere Charaktermerkmale sind Fehlanzeige. Politik ist hier kein komplexes Thema, sondern eine Spielwiese für Egozentriker, die diese maximal ausreizen.

Die Kapitelüberschriften weisen eine gewisse Anlehnung an die sieben Todsünden auf, was sehr viel hergegeben hätte, leider bleiben aber die Figuren insgesamt zu flach, um dies in glaubwürdige Motive und überzeugende Aktionen umzusetzen. Zwar werden am Ende die Zusammenhänge restlos offengelegt, diese sind aber für mein Empfinden etwas zu abenteuerlich, um glaubwürdig zu wirken. Ein spannendes Szenario und durchaus ansprechender und spannender Schreibstil, aber in der Gesamtschau nicht ganz rund.