Andrej Kurkow – Samson und Nadjeschda

Andrej Kurkow – Samson und Nadjeschda

Seine Mutter und seine Schwester sind bereits verstorben und nun hat auch sein Vater den Überfall auf sie beiden nicht überlebt. Der 17-jährige Samson ist auf sich allein gestellt und das mit nur noch einem Ohr. Als das Geld knapp wird – wie alles andere in den Wirren der Revolution von 1919 – stellt er sich bei der Miliz vor und erhält den Job, jemand, der schreiben kann, ist eindeutig nützlich. Kiew versinkt langsam im Chaos und Samsons erster Fall ist mehr als mysteriös: Diebstähle von Silber, während das Gold und Diamanten nicht angetastet werden, ein unfertiger Anzug in seltsamem Format und der ermordete deutsche Schneider Balzer. Samson stürzt sich in die Arbeit, wenn sein Vorgehen auch für Verwunderung sorgt.

Andrej Kurkows Roman „Samson und Nadjeschda“ ist der Auftakt einer historischen Krimiserie um den cleveren Samson Koletschko, der zur unübersichtlichen Zeit der Revolution spielt. Plötzlich auf sich allein gestellt muss er das Beste aus seiner Situation machen, mit der Hausmeisterwitwe und mit Nadjeschda hat er jedoch auch zwei patente Frauen an seiner Seite.

Samson löst den Fall mit Beharrlichkeit und guter Beobachtungsgabe. Dass er dabei von den üblichen Wegen abweicht und seinen Vorgesetzten mehr als einmal verwundert, erstaunt nicht, er hat die Ermittlungsarbeit ja nicht gelernt, bringt aber alles mit, um mit den richtigen Fragen und Schlüssen dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen.

„Wenn ein Mensch sich in sein Gegenteil verkehrt, kann er auch mit Gut und Böse durcheinanderkommen.“

Neben der Kriminalhandlung überzeugt der Roman vor allem durch die Atmosphäre. Das Chaos der Revolution wird greifbar, Freund und Feind reichen als Kategorien nicht mehr aus und Sicherheit wird ein rares Gut. Redlichkeit und Gerechtigkeitssinn, wie Samson sie zeigt, werden immer seltener. Er ist zwar nicht ganz unbezwingbar wie sein biblischer Namensvetter und seine Liebe zu Nadjeschda wird ihm hier auch nicht zum Verhängnis, aber seinem Volk Gerechtigkeit zu verschaffen, ist auch sein Ziel.

Eine überzeugende Geschichte, mit ungewöhnlicher Falllösung, die atmosphärisch sofort verfängt.

Tanja Maljartschuk – Blauwal der Erinnerung

Tanja Maljartschuk – Blauwal der Erinnerung

Die Ich-Erzählerin leidet und Angststörungen, die sie zunehmend lähmen und an die Wohnung fesseln. Auch schreiben kann die Autorin kaum mehr. Als sie in einer Zeitung auf die Todesanzeige Wjatscheslaw Lypynskyjs stößt, einen vergessenen ukrainischen Volkshelden, mit dem sie kaum etwas gemein hat, ist sie auf unerklärliche Weise fasziniert und ihr wird Interesse geweckt. Sie beginnt zu forschen und zeichnet das Leben des Adelsspross nach, der von der Gründung eines ukrainischen Staates träumte und der dafür bereit war, sehr viel zu opfern.

Es gibt Romane, deren Erscheinung man wahrnimmt, sie unter „merken zum irgendwann lesen“ abspeichert und dann doch langsam vergisst. „Blauwal der Erinnerung“ war so ein Buch für mich. Im Zuge der aktuellen politischen Entwicklungen und einem Interview mit Tanja Maljartschuk bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden und war von Wjatscheslaw Lypynskyj ebenso beeindruckt wie die Erzählerin. Der ukrainischen Autorin und Journalistin gelingt es, einem sofort für den idealistischen Mann zu begeistern und mit ihm auf den steinigen Weg zu seinem großen Ziel zu gehen. Nicht nur als Roman unterhaltsam, sondern auch gerade vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen und der Diskussion um das Existenzrecht des Staates ein sehr erhellendes Buch, das ich nur unbedingt empfehlen kann.

Lypynskyj wird 1882 als Sohn einer polnischen Adelsfamilie in der heutigen Ukraine geboren. Das Land, dessen Sprache und Existenz er sein Leben verschreibt, existiert damals noch nicht. Polen und das russische Zarenreich teilen sich das Gebiet, die Sprache wird als bäuerlicher Dialekt angesehen, keineswegs den beiden Hochsprachen gleichgestellt und bald sogar in Russland verboten. Eigentlich will er in Krakau Argrawissenschaften studieren, doch Geschichte und Literatur interessieren den jungen Mann mit schwacher Gesundheit viel mehr. Er wird zum politischen Aktivisten, findet in Polen und später auch in Wien mutige Mitstreiter, während seine Familie sich von seinen absurden Hirngespinsten abwendet, auch seine Frau hält es nur wenige Jahre an seiner Seite aus.

„Folklore und die Liebe zu Alltagsantiquitäten waren das Einzige, dessen sich das Ukrainertum des Jahres 1903 rühmen konnte. Aufgeteilt zwischen zwei Großmächten erinnerte es immer mehr an eine mit Staub überzogene Dekoration, die keiner brauchte.“

Eng verwoben mit der Lebensgeschichte des Idealisten ist die Entstehung der Ukraine. Zunächst der Ukrainischen Volksrepublik, die für wenige Monate nach dem Ersten Weltkrieg ausgerufen und doch bald schon in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingegliedert wird. Erst mit dem Mauerfall konnte die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Nationalbewegung einen eigenen Staat und Anerkennung ihrer Identität als Nation realisieren. Es lässt sich einiges an historischen Begründungen, die aktuell als vermeintliche Argumente für die Invasion angeführt werden, nicht unbedingt nachvollziehen, aber einordnen. Der Gedanke an den unabhängigen Staat, der Lypynskyj trotz schwerer Tuberkulose am Leben hielt und dazu brachte, weit über seine Kräfte hinauszuwachsen, glaubt man aktuell bei ganz vielen seiner Nachfahren gleichermaßen erkennen zu können.

„Man muss kein Hellseher sein, um offensichtliche Dinge vorauszusagen, die seit Langem durch die Geschichte vorherbestimmt sind. Die Ukrainer – zerrissen zwischen Kaiser und Zar – befinden sich in einer Situation, in der sie sich entweder aufgeben und als Volk verschwinden oder sich erheben müssen.“

Unabhängig von der Aktualität und Relevanz besticht der Roman durch eine geschickte Verwebung der beiden Handlungsstränge und vor allem durch die Figurenzeichnung und die pointierte Darstellung der gesellschaftlichen sowie politischen Strömungen, denen sich der vergessene Volksheld gegenüber sah.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Lena wächst im ukrainischen Teil der Sowjetunion auf. Die Sommer darf sie bei der Großmutter in Sotschi verbringen, doch als sie zur Schule kommt, beginnt der Ernst des Lebens und die Eltern wissen, wie wichtig Leistung in der UDSSR ist. Das ganze Jahr über pauken, bevor dann das Pionier-Lager die langen Ferien füllt. Früh schon ist ihre Mutter krank, die Ärzte scheinen nicht helfen zu können, was bei der kleinen Lena den Wunsch nach einem Medizinstudium weckt. Doch gute Leistungen allein genügen nicht, das Land ist korrupt und ohne die richtigen Menschen und entsprechende Zahlungen sind auch Bestnoten nichts wert. Sie kann sich den Traum erfüllen, ist erfolgreich, doch als das Land zusammenbricht, steht sie vor dem nichts und muss mit ihrer Familie in der Ferne neu beginnen.

Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ springt über Generationen und Grenzen, der rote Faden bildet die Sprachlosigkeit der Töchter und Mütter. So wie Lenas Mutter und Großmutter in der beengten Wohnung in Gorlowka in der Oblast Donezk nicht zu einander finden, die eine schwerkrank, die andere die Freiheit am Schwarzen Meer vermissend, sind es später Lena und ihre Tochter Edi, die einander nicht verstehen, ebenso wie Lenas Freundin Tatjana und deren Tochter Nina. Sie habe allen Vorstellungen und Vermutungen über die anderen, der Mangel an Kommunikation jedoch führt sie immer wieder aneinander vorbei statt zueinander hin.

Dramaturgisch dreht sich die Geschichte im Kreis, beginnt in der Gegenwart in Deutschland, kehrt in Lenas sowjetische Kindheit zurück und nähert sich wieder an. Von Kindern mit großen Träumen, die ihre Realität jedoch nicht erfüllen kann, von Sprachlosigkeit in der Familie und dem Wunsch, sich in die Umwelt möglichst geräuschlos einzufügen, um nicht aufzufallen und dazuzugehören, was jedoch keiner der Frauenfiguren gelingt.

Für mich fügen sich zwar die Teile zu einem Gesamtbild, aber Lenas Lebensgeschichte über die drei letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist deutlich stärker als die nachfolgenden Handlungsteile. Sie wird als Charakter am greifbarsten, bekommt jedoch im Vergleich zu Edi, Tatjana und Nina auch den größten Raum, um sich zu entfalten. Es bleibt am Ende etwas Ratlosigkeit, wäre nicht mit der Flucht nach Deutschland schon der richtige Endpunkt gesetzt gewesen? Insbesondere Tatjanas Geschichte konnte mich kaum mehr erreichen, war auch zu wenig verbunden mit Lenas Vergangenheit, als dass sie für mich logische Handlungskonsequenz gewesen wäre.

Die Autorin hat ein Händchen für Dramaturgie und kann begeisternd erzählen, wie auch ihr Roman „Außer sich“ empfinde ich den aktuellen jedoch etwas zu sperrig, alles andere als ein geschmeidiger Lesegenuss, was ihn jedoch auch wiederum interessant und zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises macht.

Martin Walker – The Shooting at Château Rock

Martin Walker – The Shooting at Château Rock

The death of an old sheep farmer does not seem too suspicious, he was suffering from heart problems and scheduled for getting a pacemaker. Yet, when his son and daughter find out that they have been disinherited and that their father had planned to move into a luxurious retirement home, this raises questions. Even more so when neither the insurance nor the notaire responsible for the contract can be gotten hold of. While Bruno Courrèges, Chief of Police of St. Denis, investigates, he also enjoys the Dordogne summer and especially the time with his friends, amongst them former musician Rod Macrae who lives in an old nearby castle and is waiting for his children to spend some time there. Bruno is fond of the two now grown-ups and quite surprised when gets to know Jamie’s girl-friend: Galina Stichkin, daughter of a superrich oligarch and close friend of the Russian president.

The 15th case for the amiable French policeman again offers the pleasant atmosphere of the southern French countryside with a lot of talk about the historical heritage of the region and even more about the local food and the best way to enjoy it. What starts with a suspicious case of foul play and thus seems to be quite in line with the former novels, quickly, however, turns into a highly political plot covering debatable recent affairs and bringing the big political picture to the small community. Therefore, “The Shooting at Château Rock” isn’t just a charming cosy crime novel but rather a complex political mystery.

There are several reasons why one can adore the Bruno, Chief of Police series. On the one hand, you will be never disappointed when you like to delve into the French cuisine and learn something new about the Dordogne regions rich nature and food. On the other hand, this is surely not the place for fast-paced action with a lot of shootings and deaths. The plots centre around the people and some very basic motives for their deeds – as expected, all to be uncovered by Bruno.

What I liked most this time was how Walker combined a petty crime – if one can call a cold-blooded murder a petty crime – with the global organised crime which operates in the financial sector just as in politics and is long beyond being controlled by official security agencies. He convincingly integrates real life events which shook the public and will ever remain notes in the history books of where mankind simply failed to protect civilians from underground forces with their very own agenda.

Another perfect read for some summer escape to the French countryside.

Lana Lux – Jägerin und Sammlerin

lana lux jägerin und Samm,lerin
Lana Lux – Jägerin und Sammlerin

Sie ist eine hervorragende Schülerin, aber morgens rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit für Alisa. Sie arbeitet abends zu lange und der Blick in den Spiegel auf die unreine Haut, macht stundenlange Vorbereitungen erforderlich, bevor sie sich unter Menschen trauen kann. Überhaupt ist ihr Aussehen ein Problem, sie ist nicht attraktiv wie ihre Mutter, der immer noch alle Männer nachschauen oder wie ihre Freundin Mascha, die als elfengleiche Ballerina bezaubert. Mehr und mehr hadert Alisa mit sich und zunehmend versucht sie ihren Frust förmlich runterzuschlucken, doch die Fressanfälle helfen nur kurz und das zwanghafte Erbrechen danach ist zur Sucht geworden. Dass sie Hilfe braucht, lässt sich bald nicht mehr übersehen, doch woher rührt das alles, wie konnte es nur so weit kommen?

Lana Lux hatte mich mit ihrem Debüt „Kukolka“ schwer begeistern können, gespannt war ich auf diesen Roman, der mit der ukrainisch stämmigen Protagonistin auch wieder Parallelen zu ihrer eigenen Biografie aufweist. Über weite Strecken konnte mich die Geschichte auch fesseln und überzeugen, der Schluss jedoch hat mich etwas enttäuscht.

Es ist leicht vorstellbar, dass Leser*innen mit eigenen Erfahrungen in Bezug auf Essstörungen stark getriggert werden. Alisas Gedankenwelt, die sich extrem um ihren Körper und ihr Aussehen dreht und ausgesprochen negativ geprägt ist, wirkt authentisch und stimmig. Genau diese begrenze und fehlgeleitete Sicht führt in die Anorexie oder Bulimie, aus der die Betroffenen selbst meist nicht mehr alleine herauskommen. In Alisas Fall wird die Ursache durch das Verhalten der Mutter – von klein auf Fokussierung auf das Aussehen, immer wieder Kritik an der Figur und dem Essverhalten, ganz offensive Bevorzugung der tanzenden Freundin bei mangelnder Zuneigung – überzeugend motiviert und erklärt. Die Bulimie kommt nicht plötzlich und wird ebenso wenig über Nacht geheilt, es ist ein langer Prozess mit Rückschlägen, den auch Familienmitglieder nicht immer nachvollziehen können.

Im letzten Teil geht die Geschichte weg von Alisa hin zur Mutter. Diese Hintergrundinformationen zu deren Kindheit und Jugend, zu ihren Träumen und Enttäuschungen erklären zwar ihr Verhalten gegenüber der Tochter, für mich war es jedoch weitaus weniger interessant und zugänglich als Alisas Story. Vielleicht wäre die Handlung für mich sogar stimmiger gewesen ganz ohne diesen Teil, da er so gar nicht zu der Perspektive davor passt. Alisa als Figur war genug und überzeugend und es ist schade, dass sie gerade mit dem geringen Selbstbewusstsein und der Überzeugung, dass ihre Mutter sie nicht sieht und sich nicht für sie interessiert, selbst hier dieser Frau wieder weichen muss. Da hätte Lana Lux liebevoller mit ihrer Figur umgehen dürfen.

Die Thematik des Würgegriffs durch Essstörungen kommt glaubhaft und plastisch rüber, so sehr dies das Leben einschränkt, bedingt es auch die Handlung. Der letzte Teil für mich inhaltlich fast verzichtbar und insgesamt gestalterisch nicht so stark wie die ersten beiden, führt zu einem kleinen Abzug. Gelungen dafür der Titel, für den ganz am Ende noch eine Erklärung gegeben wird.

Oleksij Tschupa – Märchen aus meinem Luftschutzkeller

oleksij-tschupa-märchen-aus-meinem-luftschutzkeller
Oleksij Tschupa – Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Ein Haus im ostukrainischen Makijiwka. Die Bewohner leiden unter der brütenden Sommerhitze und unter ihren Nachbarn; oder den Familienangehörigen; oder dem Dasein ganz allgemein. Erdgeschoss, erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock: jeweils drei Wohnungen mit drei Schicksalen. Die verrückte Labuha aus dem Parterre bringt mit ihrer lauten Musik und den nie enden wollenden Partys alle um den Verstand, außer vielleicht Klawa aus dem Stockwerk über ihr, denn die ist seit Jahrzehnten taub und kann sich kaum mehr mit ihrer Tochter und dem Enkel verständigen. Auch Forman im zweiten und seinen Freunden ist das heute wohl egal, nachdem sie zu plötzlichem Reichtum gekommen sind, muss geplant werden, was mit dem Geld zu tun ist. Derweil erweckt Olena ihre Großmutter mit isländischer Musik wieder zum Leben und zum ersten Mal seit Jahren reden die beiden Frauen wirklich miteinander. Zwölf Wohnungen, zwölf Geschichten, die Tschupa belauscht in einem Haus, das heute im Kriegsgebiet steht.

Literatur aus der Ukraine ist mir wenig bekannt, aber Oleksij Tschupas Text weist für mich einige Gemeinsamkeiten auf, die ich in osteuropäischen Bücher wiederholt gefunden habe. Auch er leitet nicht lange ein, sondern stürzt den Leser ins Geschehen, das schonungslos und direkt die Dinge beim Namen nennt. Wir befinden uns nicht in einer Märchenwelt, sondern in der unbarmherzigen Realität, die es mit den Figuren nicht immer gut meint. Es braucht bisweilen einen gewissen Humor oder Zynismus, um dies zu ertragen.

Viel mehr als den Hauseingang scheinen die Figuren nicht zu teilen. Wobei doch eine gewisse Melancholie über allen Episoden schwebt, vermutlich ist es genau dies, was auch in zwei der Geschichten anklingt, in denen der schwermütige Charakter der slawischen Literatur erwähnt wird, der sich unweigerlich auch auf die Leser niederschlagen muss. Ob die Menschen wegen der Literatur so sind oder die Literatur wegen der Menschen und der Lebensumstände, sei dahingestellt.

Besonders hat mir gefallen, dass die Bandbreite unheimlich groß ist; wir erleben Kinder ebenso wie junge und mittlere Erwachsene und die Alten, die das Ende ihres Lebens bereits kommen sehen. Die Kinder sind mir hierbei vor allem aufgefallen: obwohl es mehrere von ihnen im Haus gibt, scheinen sie keinen Kontakt zueinander zu haben, sondern ausgesprochen isoliert zu sein. Dass diese Einsamkeit nicht guttut, liegt auf der Hand und so ist auch ihr trauriges Schicksal nicht weiter verwunderlich. Mehr noch war ich jedoch von den alten Frauen beeindruckt – die Männer werden nicht alt in der Ukraine, scheinbar flüchten sie sich vorher in den Tod. Unfreiwillig erleben sie ebenfalls eine Isolation wie die Kinder. Zwar mag die Familie physisch nah sein, es fehlt jedoch die Verbindung zwischen den Generationen.

Neben den Geschichten, die mich jede auf ihre Weise ansprechen konnte, überzeugte mich Tschupa aber mit Zweierlei: er schafft es ausgezeichnet die Gegebenheiten in Worte zu fassen. Das Schwanken zwischen überbordendem Humor und erschreckend abstoßend lässt einem manchmal jedoch geradezu schwindelig werden. An anderen Stellen findet er großartige Metaphern wie beispielsweise bei Iryna, die sich und ihre Welt als Insel begreift, ein Motiv, das nicht nur wunderbar zur Figur passt, sondern auch überzeugend durch die ganze Episode hindurchgeführt wird.

Vieles ist voller Gegensätze in Oleksij Tschupas Roman. Es beginnt beim Titel, in dem die Begriffe Märchen und Luftschutzkeller zusammengebracht werden und dem grell-bunten Cover, dem ein schwarzer Hintergrund auf der Rückseite entgegensteht. Im Haus ist Leben in allen Facetten, tatsächlich jedoch wird die Region seit Jahren von Krieg und Tod beherrscht. Mal lacht man, man wird man nachdenklich, aber immer scheint man sich nur im Extrem bewegen zu können und so bleibt das Buch auch ganz sicher bei keinem Leser ohne nachhaltigen Eindruck.

Maria Kuznetsova – Oksana, Behave!

maria-kuznetsova-oksana-behave
Maria Kuznetsova – OKsana, Behave!

Ukraine is not what it was anymore and therefore, Oksana’s family decides to leave the country for America. Yet, life is not easy there. The father, a former physicist, does not find an adequate job and therefore delivers pizza; the mother is depressed after having lost another child early in her pregnancy; for the eccentric grandmother things are even worse. And Oksana? She is the strange kid in school. Due to her frequent misunderstandings, she gets herself constantly in trouble and behaves in a very bizarre way in her classmates’ opinion. However, while growing up, life in this strange country gets easier for her, but there is a Ukrainian part in Oksana that still lings for another side of per personality and in Roman, also of Russian decent, she finds a man with whom she can share the undefined longing.

Maria Kuznetsova herself knows what Oksana goes through when being moved from an eastern European country to the US, since she herself had to leave Kiev as a child to emigrate. Her debut is hard to sum up in just a couple of words: it is hilariously funny at the beginning when the family arrives in Florida, throughout the plot, however, they superficial amusement turns into a more thoughtful narrative that focuses on the sincerer aspects of migration and its impact on the development of a young person.

Oksana surely is a very unique character, very naive and trusting at first, she quite naturally falls prey to masses of misunderstandings and is bullied by the other children. Throughout the novel, it is not the relationships with the outside world that are interesting, but first and foremost, those within the family. Especially between Oksana and her father who is fighting hard to succeed and offer the best to his family. As a young girl, Oksana cannot really understand her mother, it takes some years until she finally realises what makes her depressed and cry so much. However, it is especially the grandmother who has a big impact on her, even though the full extent of their love and commitment will only show at the very end.

“Oksana, Behave!” is an exceptional novel in several respects. What I appreciated most is the comical tone with which the story is told and the way in which Maria Kuznetsova showed the girl’s growing up as a process which does not go without trouble but is also heart-warming.

Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol

Natascha-Wodin-sie-kam-aus-mariupol
Natascha Wodin – Sie kam aus Mariupol

Natascha Wodin wurde 1945 als Kind russischer Zwangsarbeiter in Deutschland geboren. Schon jung hat sie ihre Mutter verloren, die offenbar aufgrund von Depressionen den Freitod wählte. Jahrzehnte lang hat sie sich gefragt, was hinter der Geschichte der eigenen Mutter steckt, doch erst im fortgeschrittenen Alter begibt sie sich auf die Suche nach den Ursprüngen. Diese Suche nach der Familie und der Vergangenheit hat sie in ihrem Roman „Sie kam aus Mariupol“ festgehalten.

Entstanden ist eine recht typische Geschichte einer Familie, die einst unter den Zaren zur gebildeten Oberschicht gehörte, sogar recht vermögend war, aber durch den Übergang zum Stalinismus nicht nur an sozialem Rang verlor, sondern einem Leben ausgesetzt war, auf das sie nicht vorbereitet war. Aber umgekehrt gab es in Natascha Wodins Familie auch starke Frauen, die sich den Obrigkeiten widersetzt haben und ihren Weg gingen, die clevere Entscheidungen getroffen haben, die sie im Leben voranbrachten.

Eine Geschichte einer Familie, wie man sie in Europa tausendfach findet. Geprägt von Verlust und Vertreibung, vom Neuanfang in der Fremde, der in jeder Generation aufs Neue begangen werden muss. Auch das Schicksal der Vertriebenen aus dem Osten, die oftmals hinter den jüdischen Opfern zurückstehen und deren Leid kaum Beachtung gefunden hat.

Auch wenn die Geschichte keine wirkliche Spannung hat, bleibt das Hörbuch doch über viele Stunden hinweg fesselnd und interessant. Natascha Wodin ermöglicht sehr persönliche und private Einblicke in das Leben ihrer Vorfahren, die auf so manche Randnotiz der Geschichte ein anderes Licht werfen.

Lana Lux – Kukolka

lana-lux-kukolka
Lana Lux – Kukolka

Ein Kinderheim in Dnepropetrowsk, Ukraine. Samira und Marina kennen ihre Eltern nicht, auch kein Leben in einer Familie, nur das im Kinderheim kennen sie und immer träumen sie von einem besseren Dasein. Regelmäßig kommen Erwachsene, um sich Kinder auszusuchen, so auch Marina, die die Heimat verlassen und in Deutschland ein neues Leben beginnen darf. Ihrer Freundin zu folgen wird für die nächsten Jahre der sehnlichste Wunsch von Samira bleiben. Sie reißt aus dem Kinderheim aus und wird von Rocky aufgegriffen. Er ist jedoch nicht der freundliche Helfer, als der er zunächst scheint, sondern hat eine ganze Bande von Kindern angestellt, die für ihn klauen und betteln. Trotz aller Widrigkeiten hat Samira eine Ersatzfamilie und mit Dascha und Lydia so etwas wie große Schwestern. Doch die Zeiten ändern sich und mit zunehmendem Alter wird Samira für Männer als Sexobjekt interessant. Dima scheint die Rettung zu sein, er schafft es sogar, Samira nach Deutschland zu bringen, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch.

„Kukolka“ – das Püppchen. Das ist die dunkelhaarige Samira zunächst für alle. Das ahnungslose naive Mädchen, das mit seinen 6-7 Jahren alleine davonläuft und den Weg nach Deutschland antritt. Leicht findet sie Menschen, die sich um sie kümmern, doch diese haben immer Hintergedanken und nichts ist umsonst in ihrem Leben. Bei jeder Etappe denkt man, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann. Zum Betteln und Stehlen versklavt, verwahrlost und ohne jede Bildung – was sie bei Rocky erlebt ist der böse Alptraum eines unsäglichen Kinderlebens. In einem Haus ohne fließendes Wasser, immer wieder auch mit dem Tod und Gewalt konfrontiert – was sollte das noch überbieten können?

Dima scheint die Hoffnung zu sein. Er ist freundlich, hat eine saubere Wohnung, behandelt Samira gut – doch sein wahres Gesicht zeigt er erst später. Viel zu jung wird Samira missbraucht, verraten, verkauft. Ob all der Grausamkeiten, die das Mädchen ertragen muss, kann man gar nicht glauben, dass ein einziges Menschenleben das aushalten kann. Bei realistischer Betrachtung weiß man jedoch, dass dies auch eine Realität ist, die sich in einer Parallelgesellschaft mitten unter uns abspielt, vor unseren Augen ohne dass wir es sehen.

Lana Lux erspart ihrer Protagonistin und dem Leser nichts. Ein unbändiger Überlebenswille, getrieben von den Gedanken die Freundin wiederzusehen und ebenfalls eine gute deutsche Familie zu finden, hält sie am Leben und lässt sie all das ertragen, was man ihr zufügt. Der Roman ist ganz sicher nichts für feinbesaitete Gemüter, zu schonungslos und direkt schildert die Autorin Gewalttätigkeiten und Missbrauch. Gleichzeitig zeichnet sie das Psychogramm einer starken jungen Frau, die zwar immer wieder droht sich in ihrer Phantasiewelt zu verlieren, einem Schutzwall um das Leben zu ertragen, aber letztlich ihren Weg mutig geht und überlebt. Sie deckt Mechanismen auf, die es Menschen erlauben, sich anderer zu bemächtigen und diese auszunutzen:

„Ich wusste, dass mich das gleiche Schicksal erwartet wie Dascha und Lydia. Ich wusste, dass ich zu niemandem gehöre und nichts wert bin. Dass ich einfach da bin, so wie Kakerlaken. Niemand weiß, wo die ehrkommen. Niemand braucht sie. Sie leben, bis einer sie wegklatscht.“ (Pos. 2480)

Sie glaubt, dass sie schuld am Schicksal von Dascha und Lydia sei und nun ihre gerechte Strafe bekommt. Mit dieser Schuld muss sie leben und die Strafe ertragen, bis sie irgendwann tot ist.

Ein beeindruckender Roman, der einem als Leser nicht kalt lassen kann. Trotz oder gerade wegen einer gewissen Nüchternheit in der Erzählung geht er unter die Haut und setzt sich fest. Für mich eindeutig eins der literarischen Highlights 2017.