Yasmina Reza – Serge

Yasmina Reza – Serge

Die drei Kinder der Familie Popper könnten kaum verschiedener sein. Als die Mutter stirbt, wird dies dem Lebemann Serge, dem ewig unentschlossenen Jean und ihrer kleinen Schwester Nana bewusst. Auch ihre Wurzeln kennen sie nicht, weshalb der Vorschlag von Serges Tochter Joséphine, nach Auschwitz zu fahren und die Spuren der mütterlichen Verwandtschaft zu erkunden, aufgegriffen wird. Ein Familienausflug ins Vernichtungslager – diese absurde Konstruktion kann nur der Meisterin der zwischenmenschlichen Eskalation einfallen.

Yasmina Reza erspart ihren Figuren auch in „Serge“ nichts. Ein gänzlich unjüdische Familie, die alle Konflikte eskalieren lässt und sich auch am schlimmsten Erinnerungsort Europas nicht davon abhalten lässt. Weshalb die Autorin dem ältesten Bruder die Ehre der Titelgebung gemacht hat, bleibt für mich indes unklar, denn erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive Jeans, der immer zwischen den Geschwistern stand und so ganz natürlich die Rolle des Vermittlers und Schlichters bekommen hat, die er aber nur mäßig ausfüllen kann.

„Souviens-toi. Mais pourquoi ? Pour ne pas le refaire ? Mais tu le referas. Un savoir qui n’est pas intimement relié à soi est vain. Il n’y a rien à attendre de la mémoire. Ce fétichisme de la mémoire est un simulacre. “

Der Tod zieht sich in unterschiedlichen Facetten durch das Buch. Erst der Verlust der Mutter, dann, im Zentrum des Romans, der Besuch in Auschwitz. Bemerkenswert, wie hübsch der Bürgermeister im Übrigen die Stadt mit Blumen hergerichtet hat. Die Erinnerung an den Holocaust wird auch von der kleinen Reisegruppe in all ihrer Absurdität zelebriert. Sich an etwas erinnern, das man gar nicht erinnern kann, Menschen gedenken, die man nicht kennt. Und eigentlich sind es doch eher die weltlichen Dinge, die mehr interessieren.

Reza gelingt es einmal mehr, ähnlich wie ihrem Landsmann Michel Houellebecq, den Finger in eine Wunde – hier: die französische Erinnerungskultur, nicht nur bezogen auf den Mord an Millionen Juden, sondern auch an jüngste Opfer von Anschlägen – zu legen, sondern gleichzeitig auch den feinen Sarkasmus und Ironie französischer Komödien in derselben Geschichte unterzubringen. Sprachlich wie gewohnt ausgefeilt und ein Genuss zu lesen.

Zwar fand ich „Serge“ insgesamt etwas schwerer zugänglich als beispielsweise den „Gott des Gemetzels“ oder „Kunst“, aber vielleicht benötigt der Roman auch einfach nur etwas mehr Raum zum Wirken. Lesenswert ist er ganz ohne Frage.

Leon De Winter – SuperTex

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Leon De Winter – SuperTex

Weil seine unfähige Sekretärin eine Akte vertauscht hat, kann Max Breslauer jetzt den wichtigen Anruf nicht tätigen und muss am Samstagmorgen ins Büro. In seinem Porsche rast er mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch Amsterdam und fährt prompt einen chassidischen Jungen an. Wie kann er als Jude überhaupt zu dieser Zeit in einem Auto sitzen, noch dazu in einem Porsche? Plötzlich bricht alles über ihn herein und er ruft Dr. Jansen an, eine Psychologin, bei der er schon einmal in Behandlung war. Er drängt sie, den ganzen Tag für ihn zu reservieren und auf der Couch kommt er tatsächlich nicht nur ins Reden, sondern muss sich seinem ganzen Leben stellen: der komplizierten Beziehung zu seinem Vater, der das SuperText Imperium aufgebaut hatte, das er jetzt leitet; seine gescheiterte Beziehung zu Esther und das Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Boy. Was steckt hinter der Fassade Max Breslauer, dem erfolgreichen Unternehmer?

Leon de Winters Roman erschien bereits Anfang der 1990er Jahre auf Niederländisch, doch der Text hat nichts von seiner Aussagekraft verloren. Ganz im Gegenteil, für mich zeigt sich gerade in diesem Buch de Winters die besondere Stäke des Welt-Literatur- und Buber-Rosenzweig-Medaillen-Preisträgers: er lässt die großen Fragen des Lebens in einem einzigen Augenblick kulminieren und führt vor allem die Spannung zwischen weltlichem und religiösem Leben und der Bedeutung der Wurzeln zu einem grandiosen Höhepunkt. Interessant, wenn auch unbeantwortet, bleibt dabei die Frage, wie viel von de Winter selbst in seinem Protagonisten steckt. Ganz sicher jedoch steckt in dem Roman sehr viel jüdischer Humor und Ironie, die hervorragend mit der Melodramatik der Handlung austariert sind.

Max Breslauer ist – genau wie sein Vater – fast schon eine Karikatur des wohlhabenden Juden: wirtschaftlich erfolgreich, selbstherrlich; arrogant und jähzornig gegenüber anderen und rücksichtslos, wenn es ums Geschäft geht. Doppelmoral wird von beiden entspannt gelebt: geheiratet wird nur ein jüdisches Mädchen, mit wem man daneben noch das Bett teilt, ist weniger relevant; Regeln des Kashrut werden eher nach Bedarf ausgelegt denn befolgt; wenn es der Sache jedoch dient, kann man sich auch zügig wieder seiner jüdischen Herkunft besinnen und die Erlebnisse des Holocaust als Argumentationsschleuder verwenden. Dies entlässt Max jedoch nicht aus dem schwierigen Verhältnis zu dem Familienoberhaupt, das einst als einziger das Konzentrationslager überlebt hat. Sind es zunächst typisch pubertäre Streitigkeiten, führen die Auseinandersetzungen jedoch schließlich so weit, dass der Sohn beinahe zum Vatermörder wird.

Über den Bruder erfährt man zunächst nur, dass dieser in Casablanca sitzt, die ehemalige Partnerin ist nach Israel geflohen. Es scheint als wenn Max ein Händchen für komplizierte Beziehungen hätte, die sich vor allem dadurch lösen lassen, dass die anderen davonlaufen. Doch der Tag der Läuterung ist bereits angebrochen und auch wenn weitere Rückschläge noch an selbigem drohen, ist der Wandlungsprozess nicht mehr aufzuhalten.

Ganz herrliche Szenen hat de Winter in seinem Roman geschaffen – allein das Essen beim ersten Besuch der Freundin erinnert fast einen Sketsch aus Loriots Hand – auch die Erkenntnis des Protagonisten führt über eine gehörige Portion Selbstironie. So wird das analytische Gespräch zu einer unterhaltsamen Angelegenheit und bleibt trotz der Tragik leicht im Ton.

Olivier Guez – Das Verschwinden des Josef Mengele

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Olivier Guez – Das Verschwinden des Josef Mengele

Josef Mengele – Todesengel von Auschwitz, der wohl grausamste und rücksichtsloseste Arzt der Geschichte. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gelingt ihm die Flucht über mehrere europäische Länder nach Südamerika, wo er dank der Hilfe eifriger Unterstützer und mit falscher Identität untertauchen kann. Unter Perón führt er in Argentinien zunächst ein sicheres Leben, die deutsche Community ist gut vernetzt und steht unter dem Schutz des Diktators, doch nach dessen Sturz wird die Lage unbequem. Es folgen Jahrzehnte des Irrens über mehrere Länder, immer wieder auf der Flucht und in Angst vor Entdeckung. Mehrfach sind ihm Israelis wie auch andere auf den Spuren, aber dank eines guten Netzes starker Verbündeter gelingt es dem tausendfachen Mörder immer wieder, sich seiner gerechten Strafe zu entziehen.

Olivier Guez‘ Roman „Das Verschwinden des Josef Mengele“ zeichnet die Spuren eines der schlimmsten Verbrecher des Nazi-Regimes nach. Dies gelingt dem Autor eindrucksvoll und dafür wurde er 2017 völlig zurecht mit den renommierten französischen Literaturpreis Prix Renaudot ausgezeichnet. Drei Jahre hat er an dem Buch gearbeitet, das auf wahren Eckdaten basiert, in weiten Teilen jedoch fiktiv bleiben muss, da bis heute das komplette Leben des Arztes nicht lückenlos dokumentiert ist.

In erster Linie besticht der Roman natürlich durch die Person des Josef Mengele. Er ist sicher eine der bekanntesten Figuren des Hitler-Regimes und viel wurde über ihn berichtet und geschrieben. Am beeindruckendsten war für mich jedoch die Haltung, die er bis zum letzten Tag standhaft beibehielt: er leugnete seine Taten nicht, aber die Bewertung dessen, was er getan hat, steht in starkem Kontrast zu Realität. Vermutlich um sich selbst zu schützen und sich nicht dem stellen zu müssen, was er verbrochen hat, sah er sich als Wissenschaftler und Forscher, der der Menschheit einen Dienst erweisen wollte:

„Was ist denn nun mit Auschwitz, Papa? Mengele weist die Schuld von sich. Er hat gekämpft, um „unbestrittene traditionelle Werte“ zu verteidigen, nie jemanden umgebracht. Im Gegenteil: Indem er bestimmte, wer arbeitsfähig ist, konnte er Leben retten. Er verspürt keinerlei Schuld.“

Seine grenzenlose Angst gerade von den Israelis entdeckt zu werden, zeigt jedoch auch, dass ihm trotz allem sehr bewusst gewesen sein muss, dass diese nicht nur Rache an ihm walten lassen würden, sondern durchaus mit guten Grund und Recht eine Verurteilung forderten. Womöglich ist das Leben in Angst schon die irdische Strafe, die ihm mehr zusetzt, als man vermuten mag:

„Nun ist er dem Fluch Kains ausgeliefert, dem ersten Mörder der Menschheit: ein Getriebener, der über die Erde irrt, wer ihm begegnet, wird ihn töten.“

Aber auch Guez Sprachgewalt ist überzeugend. Die nuancierten Zwischentöne, die die Verachtung seines Protagonisten deutlich hervortreten lassen, sind glänzend platziert. Aber auch die Kritik an den nachlässigen deutschen Behörden, die Mengele schon zeitnah nach Kriegsende hätten auffinden können, wird nachhaltig zum Ausdruck gebracht.

Man spürt eine gewisse Fassungslosigkeit ob der Haltung Mengeles, aber auch, weil auf Erden die Taten nicht gesühnt wurden. Auch wenn der Text letztlich eine fiktive Erzählung ist, was jedoch dem Erzählfluss zugutekommt, kann er als Mahnmal verstanden werden, das in breiter Masse gelesen werden sollte, damit die Geschichte sich nicht wiederholt.

Lena Gorelik – Mehr Schwarz als Lila

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Lena Gorelik – Mehr Schwarz als Lila

Sie waren immer zu dritt, Alex, Paul und Nina genannt Ratte. Drei Freunde, die sich alles erzählten, den Kummer teilten und sich trösteten. Sie haben ihre eigenen Spiele, die niemand sonst versteht und die sie nicht teilen. Doch dann kommt der neue Referendar und plötzlich sind da vier. Alex freut sich auf jede Stunde bei ihm, Paul teilt mit ihm die Interessen für Kunst und Ratte verbringt mehr und mehr Zeit mit S. Immer mehr entfernen sie sich, aus dem festen Molekül der Freundschaft werden wieder Atome, andere Moleküle. Doch eine Klassenfahrt wird sie wieder zusammenschweißen, bis das Unglaubliche passiert, das Ungehörige, über das jeder sprechen wird und das die letzten Wochen und Monate in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Lena Gorelik findet in „Mehr Schwarz als Lila“ ebenso die Stimme von Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenen, wie ihr das auch schon in „Null bis unendlich“ überzeugend geglückt ist. Dieses Mal sind es die widersprüchlichen Emotionen, das Zueinanderfinden und sich verlieben, das die jugendlichen Protagonisten ehrausfordert. Die Erwachsenen taugen dabei auch nur bedingt als Vorbild: Alex‘ Vater trauert immer noch seiner Frau nach, die seit inzwischen fast zehn Jahren tot ist. Alex muss ohne Mutter groß werden, ohne jemandem, mit dem sie über das sprechen könnte, was sie verwirrt, ihr Papagei ist da nur ein schwacher Ersatz. Auch „Johnny“ wie sie den Referendar privat nennen, ist selbst noch mehr auf der Suche als dass er Hilfe bieten könnte.

Die Ich-Erzählerin Alex spricht nicht nur zum Leser, sondern sie spricht auch den Menschen an, den sie zu lieben glaubt. Es dauert etwas, bis man durschaut, dass sie ihren Lehrer damit meint. Auch das Zeitkonstrukt erschließt sich erst beim Lesen, beginnt sie doch damit, dass Paul verschwunden ist, warum dies geschah, muss jedoch erst rückblickend aufgelöst werden. Beides lenkt jedoch nicht von der emotionalen Achterbahn der 17-Jährigen ab, die ihre Gefühle nur schwer einordnen kann und so fokussiert auf sich ist, dass vieles um sie herum geschieht, ohne dass sie sich dessen bewusst wäre. Diese Blindheit für die Umwelt ist so typisch für das Alter und doch so singulär eingefangen in diesem Roman.

Klingt die Geschichte fast banal, hundertfach erzählt in immer wieder neuen Varianten desselben Stoffes, ist Lena Goreliks Roman doch viel mehr als ein durchschnittliches Jugendbuch über die erste Liebe. Es ist vor allem die sprachliche Versiertheit der Autorin, die den Roman aus der Masse der Coming-of-Age-Jugendbücher hervorhebt, denn ihre Protagonistin geht vorsichtig mit der Sprache um, analysiert sie beim Erzählen und drängt immer wie das Was hinter das Wie zurück.

Heather Morris – The Tattooist of Auschwitz

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Heather Morris – The Tattooist of Auschwitz

When times become hard for Jews in 1942 Slovakia, Ludwig Eisenberg, named Lale, decides to save his family and to present himself to the enemy. After some days waiting he is transported to Auschwitz-Birkenau, today the synonym with Nazi cruelty. He soon attracts attention due to his knowledge of several languages and his ability to cope with people. He becomes the tattooist of Auschwitz, the person who replaces the peoples’ names with a number on their wrist. Lale’s extraordinary capabilities make him wander between the lines, on the one hand, he serves the Nazis, on the other, he supports the Jews and gypsies in the camp. When He first sees Gita, he completely falls for her. But a concentration camp is not the best scenery for a love story, especially since you never know if you will die tomorrow.

Heather Morris has written a compelling story in one of the most awful places the Nazi regime has created. Auschwitz-Birkenau, the largest concentration camp where more than one million persons found death during the second world war and where Josef Mengele carried out is gruesome experiments, is today a museum and remembrance site which aims at preventing such a thing from happening ever again.

The story is based on the narration of the real Lale Eisenberg who later called himself Sokolov when he, after surviving the Holocaust, started a new life first in Slovakia and then Australia. It is incredible to read about his life in the camp, especially considering the fact that he as a kind of collaborator was relatively well off. Those who are burnt in the gas chambers, those who fell prey to Menegle’s experiments and all the ones who died from hunger or illness are only on the fringes of the story. So after all, we actually get one of the happier sides of being held prisoner under unimaginable conditions even though this one isn’t free of tragedy either.

But it is not only the story itself which is moving, it is also the author’s style which makes the book stand out. Most of the narration is in chronological order, only towards the end Lale has some kind of flashbacks of the time before he came to the camp. He never would have guessed that they were in real danger, that Hitler would invade Slovakia and certainly not all that he sees in Auschwitz. Morris makes the reader actually feel what Lale feels, quite often his emotions are palpable which makes the story go deep inside you. Especially in the moments when he is separated from Gita or close to death.

Since it is based on a true story, this is certainly a life which needed to be told and which should be read about widely.