Sayaka Murata – Die Ladenhüterin

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Sayaka Murata – Die Ladenhüterin

Keiko Furukura ist mit sich und ihrem Leben eigentlich im Reinen. Als Studentin hatte sie bereits in einem Konbini, einem 24-Stunden-Supermarkt, angefangen und auch 18 Jahre später arbeitet sie immer noch dort als Aushilfe. Ihr ganzes Leben richtet sich nach dem Takt des Markes, in ihrer Freizeit ruht sie sich aus, um für ihren Einsatz wieder fit zu sein und unzählige Chefs und neue Mitarbeiter hat sie kommen und gehen sehen, sie selbst wurde zum Gesicht ihres Marktes. Als sie Shiraha wiedertrifft, der als Aushilfe ihr Kollege war, wegen seiner zahlreichen Verfehlungen aber nach kurzer Zeit bereits wieder gehen musste, wird dies ihr Leben verändern. Sie nimmt den obdachlosen Mann mit in ihre kleine Wohnung, nicht ahnend, dass sie ihn nicht so einfach wieder loswerden würde und dass ausgerechnet dieser Taugenichts ihren Lebensentwurf ins Wanken bringen würde.

Aus westlicher Sicht mutet vieles in diesem Roman sehr befremdlich an, die Werte und Normen der japanischen Gesellschaft weichen doch sehr stark von den unseren ab und lassen einem mit Verwunderung auf sich manchen Dialog blicken. Dies ist jedoch auch der interessante und spannende Aspekt des Romans, der so einen Einblick in diese fremde Welt ermöglicht und das beleuchtet, was von außen nicht so offensichtlich ist.

Das erste, was einem irritiert, ist Keikos absolute Verbindung mit ihrer Arbeit. Dies kann an sich bei uns genauso vorkommen, doch sie ist nur eine Aushilfe, noch dazu in einem Supermarkt, wofür sie mit ihrem Universitätsabschluss völlig überqualifiziert ist. Dass sie so in dieser Arbeit aufgehen kann, ist nicht einfach nachzuvollziehen und vor allem, dass dies sich auch in einem solchen Maß auf ihr Privatleben ausdehnt, das sie explizit zur Regenerierung für ihre Arbeit gestaltet.

Der zweite verwunderliche Aspekt war für mich die gesellschaftliche Bewertung der Menschen. Es gibt akzeptable Lebensentwürfe, die sich aber für die beiden Geschlechter auch stark unterscheiden, alle anderen werden recht rigoros abgelehnt. Dass Keiko eine Arbeitsstelle hat und mit ihrem Einkommen ihr Leben offenbar problemlos bestreiten kann, ist dennoch wegen ihres Status als Aushilfe nicht hinnehmbar. Wäre sie verheiratet, würde dies wiederum akzeptiert werden. Die Definition über den Job und die Art der Anstellung als Grundlage für das gesellschaftliche Ansehen muten sehr befremdlich und für die heutige Zeit ausgesprochen rückständig an.

Am meisten jedoch hat mich verwundert, wie die eigentlich unabhängige Frau, die ihr Leben im Griff hat und im Reinen mit sich und ihrer Situation ist, so schnell unter dem Einfluss eines Mannes geraten kann, ihre eigenen Bedürfnisse verleugnet und sich ausnutzen lässt. Shiraha ist ein Schmarotzer, anders kann man es wohl kaum ausdrücken, doch sie lässt ihn gewähren, ordnet sich ihm in ihrer eigenen Wohnung unter und befolgt seine Anweisungen. Kurzzeitig scheint man die Motivation – das vorgeblich geregelte Leben an der Seite eines Mannes, was für eine Frau mit Mitte 30 der einzig akzeptable Zustand zu sein scheint – nachvollziehbar, doch sie kann diese Rolle gar nicht ausfüllen und scheitert im Prinzip vom ersten Tag an daran.

Ein insgesamt sehr japanischer Roman, der gesellschaftliche Mechanismen ebenso offenlegt wie den Arbeitsethos, der sich drastisch von unserer Work-Life-Balance Diskussion unterscheidet. Zwar sind die Figuren auch dort weitgehend Außenseiter, dennoch bieten sie ausreichend Projektionsfläche für einen kurzen Blick auf so manche schiefe Entwicklung.

Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore I

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Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore I

Als seine Frau sich von ihm trennt, sieht der namenlose Maler darin ein Zeichen und beschließt noch mehr an seinem Leben zu ändern. Nicht nur zieht er sofort aus der gemeinsamen Wohnung aus, nein, er wird auch keine Portraits mehr malen, obwohl er damit in den vergangenen Jahren nicht nur gutes Geld verdient hat, sondern sich auch einen Namen als Künstler machen konnte. Vorübergehend zieht er in das leerstehende Haus des Vaters eines Freundes, der nun wegen Demenz in einem Pflegeheim lebt. Von seltsamen Geräuschen angelockt, findet er auf dem Dachboden ein verpacktes Gemälde mit dem Titel „Die Ermordung des Commendatore“, das ihn sofort fasziniert. Er nimmt es mit in den Wohnbereich, doch bevor er sich näher damit befassen kann, erhält er einen mysteriösen Auftrag von seinem Agenten. Ein letztes Portrait soll er anfertigen, obwohl er zunächst abgeneigt ist, hat der Auftraggeber doch einen gewissen Reiz und so setzt der Maler eine Reihe seltsamer Dinge in Gang.

Haruki Murakami bleibt seinem sehr eigenen Stil treu. Nachdem ich mehrere Bücher von ihm abgebrochen hatte, konnten mich „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ als Hörbuch doch überzeugen, weshalb ich auch bei dem aktuellen zu dieser Variante gegriffen habe. Im Gegensatz zu den Pilgerjahren ist hier jedoch wieder der typische magische Realismus Murakamis vorhanden, hierauf muss man sich einlassen oder es seinlassen.

Der Untertitel suggeriert bereits („Teil 1: Eine Idee erscheint“), dass die Geschichte am Ende des Hörbuchs noch nicht erzählt ist und in der Tat hört es mit einem gemeinen Cliffhanger auf. Davor wird viel über die Malerei, vor allem die Abgrenzung der europäischen von japanischen, gesprochen – ich fand das interessant, bin mir aber nicht sicher, ob das jeden Leser in dieser Tiefe anspricht. Über den Charakter des Protagonisten lässt sich tatsächlich auch nach all den Stunden wenig sagen, er ist ein Einsiedler und die Abgeschiedenheit in dem Haus auf dem Berg scheint wie gemacht für ihn. Auch seine Maltechnik ist außergewöhnlich, unterstreicht aber nur seine sehr eigene Persönlichkeit

Erst durch die Begegnung mit seinem Modell kommt etwas mehr Handlung auf, wobei hier die magischen Elemente erscheinen. Man fragt sich, ob dies alles den Halluzinationen der Figuren zuzuschreiben ist, gleichsam könnte man sich aber auch vorstellen, dass in Japan die Dinge einfach anders gedeutet werden und „Realität“ anders aufgefasst wird als bei uns. Die rein örtliche Distanz zum Handlungsort macht es für Leser wie mich, die realistische Geschichten bevorzugen, hier leichter, diese Elemente als Teil der Handlung zu akzeptieren.

Alles in allem, eine interessante Geschichte, die natürlich jetzt auf ihre Fortsetzung wartet.

Keigo Higashino – Unter der Mitternachtssonne

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Keigo Higashino – Unter der Mitternachtssonne

Der Mord an einem Pfandleiher wirft im Osaka des Jahres 1973 Fragen auf. Kirihara wird in einem verlassenen Gebäude gefunden, der Polizist Sasagaki und seine Kollegen finden jedoch keine wirklich verwertbare Spur, einzig zu einer bescheidenen Frau und deren Tochter, doch es scheint zu abwegig, dass diese etwas mit dem Mord zu tun haben. Die Jahre vergehen, immer wieder gibt es Vorfälle in Osaka, die nicht wirklich geklärt werden können: Überfälle auf junge Frauen, Menschen verschwinden. Sasagaki lässt der alte Fall keine Ruhe und stetig verfolgt er die Spuren, bis er irgendwann eine Verbindung erkennt, die sich immer wieder auf ein Pärchen zurückführen lässt: der Sohn des Pfandleihers und die Tochter der verdächtigen Frau. Aber es ist doch undenkbar, dass die beiden über Jahrzehnte eine Spur der Verwüstung hinter sich herziehen, oder?

Keigo Higashino ist ein auch in Deutschland seit vielen Jahren sehr populärer japanischer Krimi- und Thriller Autor, „Unter der Mitternachtssonne“ ist inzwischen mein dritter Roman von ihm und wieder einmal kann er mich mit dem sehr eigenen japanischen Flair und einer psychologisch reizvollen Geschichte überzeugen.

Zunächst tappt man ganz wie die Polizei im Dunkeln, der Mord am Pfandleiher steht im Zentrum, wird aber dann scheinbar aufgegeben. Erst langsam erschließt sich dem Leser, worum es eigentlich geht. Die Geschichte zieht immer weitere Kreise, mehr und mehr Figuren kommen hinzu, verwirren zunächst das Konstrukt, nur um dann umso klarer ein Bild der beiden rücksichtslosen Menschen zu ergeben. Dass sie hinter den zahlreichen Taten stecken, ist recht schnell durchschaut, spannender wird nun die Frage: gelingt es dem Ermittler, ihnen auf die Spur gekommen und was genau geschah beim Mord an dem Pfandleiher und vor allem: warum musste er sterben?

Der Thriller weicht gewagt vom klassischen Szenario ab, was ihm jedoch kein bisschen an Spannung nimmt. Im Gegenteil, das hochriskante Spiel wird in immer neuen Varianten ausgetragen und erhält so seinen Reiz. Genaugenommen handelt es sich nicht um einen einzigen Mordfall, sondern um viele, die miteinander verbunden sind und sich nach und nach spiralförmig dem Showdown nähern.

Eine ausgesprochen komplexe Handlung, die durch die vielen Figuren mit ihren japanischen und damit doch eher ungewöhnlichen Namen eine Herausforderung darstellen. Diese sollte man jedoch unbedingt annehmen, denn „Unter der Mitternachtssonne“ ist ein kleines Meisterwerk.

Clarissa Goenawan – Rainbirds

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Clarissa Goenawan – Rainbirds

When the news of his beloved sister’s death reaches Ren, he hurries to the small town of Akakawa where she had been worked as a teacher for the last couple of years. The police do not have many cues about the young woman’s crucial death, she fell victim to a merciless murderer and was heavily mutilated. Ren starts to ask questions himself, first the landlord where his sister had stayed and with whom she seemed to have had quite a delicate agreement. But also at her work place, there are interesting people who might know more than they would admit at first. In his dreams, Ren is haunted by a young girl with pigtails who obviously wants to tell him something, but he needs time to understand the girl’s message.

Clarissa Goenawan’s novel is set in 1990s in rural Japan and thus the atmosphere is far from the Tokyo rush that you might have in mind when thinking about young people on the Asian island. The plot moves at a moderate pace; modern media simply does not exist so people need to talk to each other to get information or to – very conventionally – send letters. Even though the motive that drives the action is an unsolved murder case, the novel is far from being a real crime novel. It is much more about the brother’s loss, a rather dysfunctional family (or rather: families since none of the families presented can be considered functional in any way) and in a way also about love or different kinds of love. It is a quite melancholy book with some rather dark and even mystical aspects.

I felt sorry for the young protagonist most of the time. He is quite lonely and now with his beloved sister gone, he got nobody to rely on anymore. His childhood memories were quite depressing and it is a wonder that from what he and his sister experienced they didn’t develop any serious mental illness. There is something intriguing about the other characters, too, albeit I assume that this is also stemming from the fact that they are portrayed in a fairly typical Japanese way, eccentric to some extent, which is rather unknown or unusual for Europeans. What I found quite interesting is the fact that the writer herself isn’t Japanese, but for me, her novel is thoroughly Japanese concerning the atmosphere and the characters.

Tomoka Shibasaki – Spring Garden

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Tomoka Shibasaki – Spring Garden

Taro lives alone in one of Tokyo’s anonymous block of flats. His family is far away and they are hardly in contact, his father died already ten years ago, yet the memories of him are still alive. His neighbours, he only knows the names that were given to the flats they inhabit, but not who is living close to him. Since the flats are going to be destroyed soon, they will have to leave anyway.  One day, he observes a woman walking around the sky-blue house neighbouring their block. She seems to try to look into it through the window. When she realises that she is spotted, they make contact and Nishi explains Taro why she is behaving this strangely: the house is actually quite famous, she even possesses a book about its interior and her greatest wish is to enter and have a look herself. A singular friendship forms between the two neighbours, centred around a building close but far away for them.

Tomoka Shibasaki’s novel “Spring Garden” has many typical features of what I expect from Japanese literature. First of all, the characters. We have two protagonists who seem to live a life without close connection to other people, loneliness and isolation are reoccurring themes in Japan’s novels and from the news I read about the country this really seems to be a major topic. Yet, it is not the suffering from being alone that is central, they seem to have accepted that this is just how it is for them. When they finally bond with somebody – even if it is just a weak connection like the one of neighbours – there are many societal rules which prevent an honest friendship in my opinion. E.g. when Taro is given a present he does not like, it is not easy for him and he nevertheless feels obliged to behave in a certain manner. Even to eat things he doesn’t like in order not to appear impolite.

Some aspects I found really strange and I do not know if this is the case because the character of Taro is a bit bizarre or if this is just a cultural matter which is quite far from the world I life in. Taro keeps the mortar and pestle in his kitchen cupboard with which he turned the remains of his father’s bones into powder to distribute them. They remind him of the father and he frequently thinks about him when he comes across the two utensils. Both, first the idea of working on a deceased’s bones and keeping the utensils close to pots and pans is very astonishing to me to put it politely.

The most interesting part of the novel for me was the house that Taro and Nishi go to explore, first through the book and the outside, later also from the inside. It is not only the poetical language, especially about the lighting of the colourful windows, which makes it quite impressive, but also how human boing have an impact on the outer world. Even though the walls and windows are the same, with the change of the inhabitants, the whole ambiance can change and everybody leaves his mark on his surroundings.

Marion Poschmann – Die Kieferninseln

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Marion Poschmann – Die Kieferninseln

Ein Traum, so realistisch, dass er einfach wahr sein muss. Gilbert Silvester, Privatdozent und aktuell an Männerbärten forschend, hat geträumt, dass ihn seine Frau Mathilda betrügt und da sie ihn ohnehin verlassen wird, kann er auch direkt gehen. Kurzerhand bucht er einen Flug nach Japan, völlig sinn- und ziellos und findet sich nur wenige Stunden später in einem sterilen Tokioter Hotel wieder. Er irrt durch die Stadt und wird Zeuge eines versuchten Selbstmordes in der U-Bahn. Yosa Tamagotchi wollte sich vor den Zug werfen, doch Silvester verhinderte dies durch seine Kontaktaufnahme. Nachdem er realisiert, welchem Schauspiel er gerade beigewohnt hat, überzeugt er den Japaner, dass die U-Bahn ein unwürdiger Ort für eine solche Tat ist. Das Land hat so viel inspirierendere Orte, an denen man sich das Leben nehmen kann. Der ohnehin verunsicherte Student gibt sich und sein Leben also in die Hände des Wissenschaftlers, der für Yosa den perfekten Ort zum Sterben finden will. Eine moderne Odyssee mit dem Ziel nicht der Heimkehr, sondern der Reise in die Ewigkeit, beginnt.

Marion Poschmann hat einen geradezu lyrischen Roman verfasst, der eigentlich eher einer Novelle gleicht. Im Zentrum steht Gilbert Silvester, der in seinem Leben nur wenige der erhofften beruflichen Ziele realisieren konnte und nun aufgrund eines Traums die Flucht ans andere Ende der Welt angetreten hat. Orientierung und Halt in dieser außergewöhnlichen Situation gibt ihm ein Gedicht- und Erzählband des japanischen Schriftstellers Basho, dessen Reise er verfolgen wird. Über den zweiten Protagonisten erfahren wir nicht viel mehr als dass er große Selbstzweifel bezüglich seines Könnens hegt und sich daher das Leben nehmen will. Ein überschaubares Set an Figuren und Charakterzügen.

Sie machen sich auf zu einer einstmals modernen Siedlung, die Vorbild für die Nachkriegsbauweisen im zerstörten Europa wurde und heute nur noch Verfall ausstrahlt. Auch der sogenannte Wald der Toten, Aokigahara, ist nicht der geeignete Ort, zu viele Leichen liegen dort schon rum als dass man in Ruhe seinen Frieden finden könnte. Der Mihara-Vulkan wäre eine angemessene Lokalität, doch diese liegt nicht auf ihrem Weg. Die Kiefernwälder in der Bucht von Matsushima könnten die Erfüllung bringen und sind ohnehin ein Ziel Gilbert Silvesters.

Es ist nicht nur das ungewöhnliche Motiv, dass die beiden Figuren zusammen und durch den Roman führt, mit dem Marion Poschmann überzeugen kann. Die Erzählung lebt von der sprachlichen Umsetzung, die den feinen Unterschieden zwischen Westen und Osten in jeder Nuance gerecht wird und die scharfsinnigen Beobachtungen der Natur und der Menschen fabelhaft in Worte transformiert. Ihre Beschreibungen der Natur lassen eher an Poesie erinnern als an romanhafte Beschreibungen, hier greift sie vor allem auf fernöstliche Bilder der japanischen Mystik zurück, die dem Wald und den Bäumen übernatürliche Kräfte zuschreiben. Ein starker Kontrast zum eher verkopften und sachlichen Westen. Dort gibt es auch die Schattierungen nicht, die Zwischentöne und Nuancen, die Gilbert Silvester nur in Japan in der freien Natur finden und bewundern kann:

„Die Schau der Naturerscheinungen war weder mit Kunst noch mit Architektur, noch mit Geschichte verbunden, sie war zart und geheimnisvoll, und wenn daraus doch eine Form von Bildung erwuchs, ließ sie sich hinterher weder erklären noch abrufen.“ (Pos. 1657)

Eine Bildungsreise der ganz anderen Art, die erst in die Ferne und doch wieder zurück führt. Nominiert auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 und aufgrund der Sprachgewalt für mich ein klarer Favorit.

Kanae Minato – Geständnisse

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Kanae Minato – Geständnisse

Am letzten Schultag des Semesters kündigt Lehrerin Moriguchi ihren Achtklässlern an, dass sie nach den Ferien nicht zurückkommen wird. Kein Wunder, denken sich die Kinder, hat die alleinerziehende Mutter doch erst ihre Tochter durch einen tragischen Unfall verloren. Doch wie sie ihnen erläutert, war der Tod des Kindes kein Unfall, sondern Mord und sie hat ihre ganz eigene Rache an den beiden Schuldigen geplant, die sich auch im Klassenraum befinden. Mikuzi, die Klassensprecherin erzählt die Geschichte etwas anders. Auch der beschuldigte Naoki, seine Mutter und Schwester, die die Folgen der Lektion der Lehrerin mitansehen müssen, sowie der zweite Verdächtige, Shuya, kommen zu Wort. Jeder hat einen etwas anderen Blick auf die Geschehnisse. Und jeder gibt einen ganz anderen Grund für sein Handeln, der jedoch dem außenstehenden Betrachter zunächst verborgen bleibt und die Dinge in einem immer wieder neuen Licht erscheinen lässt.

Der Titel des Romans, „Geständnisse“, ist bei Kanae Minato Programm. Nacheinander offenbare sich die Figuren. Immer mehr Abgründe werden sichtbar und führen den Leser an seine Schmerzgrenze. Kaum hat man sich einen Reim auf die Geschehnisse des unheilvollen Tages gemacht, muss dieser ob der neuen Erkenntnisse schon wieder revidiert und adaptiert werden. Geradezu verstörend wirkt die brutale und kaltblütige Macht, die die Figuren in ihren Bann reißt und zu unsäglichen Taten anstiftet. Aber man erkennt auch, welch ein Druck auf den Japanern lastet. Das Gesicht für die Außenwelt, die Selbstdarstellung, ist so viel wichtiger als der Seelenzustand und die hinter der Fassade lauernden Abgründe, die sie schließlich alle ins Verderben stürzen.

Die Autorin gilt in Japan als Meisterin des iyamisu, einer literarischen Unterform des Thrillers, der insbesondere die dunklen Seiten der menschlichen Natur behandelt. Dies gelingt ihr in Geständnisse in der Tat meisterlich. Was die Figuren antreibt, ist ganz unterschiedlich. Ebenso wie sie mit Druck umgehen und gar mit der Angst vor dem drohenden Tod. Es sind vor allem die Beweggründe, die einem zwischen Faszination und Erschrecken auf die Seiten starren lassen. Man kann sich dies alles vorstellen, aber wie kann kein Mensch dafür so weit gehen?

Unweigerlich stellt man sich die Frage, ob dies ein typisch japanisches, oder eher asiatisches Phänomen ist und ob eine solche Geschichte von einem Europäer oder Nordamerikaner in derselben Weise hätte verfasst werden können. Diese sehr eigenen Figuren kamen mit zuletzt in Han Kangs „The Vegetarian“ unter, auch bei der Koreanerin war das Handeln der Figuren nach unseren Maßstäben eher verstörend, aber offenbar in der östlichen Welt völlig stimmig. Das Phänomen der „Hikikomori“ etwa, der Menschen, die sich aufgrund des schulischen und gesellschaftlichen Drucks immer weiter zurückziehen und sich schließlich gänzlich von der Außenwelt abschotten, ist sicherlich in dieser Weise in Europa nicht denkbar, zu individualistisch und hedonistisch streben wir nach Selbstverwirklichung, die sich an den eigenen Normen bemisst.

Kanae Minato reißt allerhand Fragen auf: Schuld und Rache als vorderste, aber auch der Umgang mit einer todbringenden Erkrankung, konkret dem AIDS Virus, dysfunktionale Familienstrukturen, Verlustängste und der Wunsch nach Anerkennung durch diejenigen, die einem wichtig sind. An den Abgründen der menschlichen Seele siedelt sie diese Fragen an, so dass sie keine simplen Antworten dulden können.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel finden sich auf der Internetseite der Verlagsgruppe Random House.