Natasha Brown – Assembly [Dt. Zusammenkunft]

Natasha Brown – Assembly (Zusammenkunft)

Eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Arbeite hart, mehr als die anderen, pass dich an. Das haben ihr ihre Eltern mitgegeben. Sie hat fleißig gelernt, einen guten Abschluss an einer renommierten Universität gemacht, einen Job im Finanzsektor ergattert und doch besteht ihr Alltag hauptsächlich aus Diskriminierungserfahrungen. Weil sie eine Frau ist. Weil sie die falsche Hautfarbe hat. Weil sie der falschen Klasse entstammt. Im Privaten? Nicht viel besser. Die Familie ihres Freundes toleriert sie, sie ist nur eine Phase, aber ganz sicher keine standesgemäße Partie, die als heiratstauglich angesehen werden könnte. Sie hat alles getan, um dazuzugehören und hat doch keinen Platz erhalten.

Natasha Browns Debütroman „Assembly“ (dt. Zusammenkunft) ist mit begeisterten Stimmen aufgenommen und vom Feuilleton gefeiert worden. Rassismus, Klassismus, Misogynie – sie bringt die großen Themen auf kaum mehr als 100 Seiten zusammen und verdeutlicht damit, dass Großbritannien nichts von all dem überkommen hat, was seit Jahrzehnten beklagt wird. Wichtige Aspekte, Themen, über die gesprochen werden sollte, aber: das hat man schon besser gelesen. Die Protagonistin kann sich kaum entwickeln, da ist der Roman – oder ehe: die Novelle – schon wieder zu Ende. Themen anreißen, ja, aber wichtiger wäre noch eine gewisse Tiefe.

Mir fehlt in der Geschichte ein wenig die Kohärenz, eher episodenhaft werden Szenen präsentiert, in denen die Hauptfigur Diskriminierungserfahrungen macht, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Klasse oder ihrer Hauptfarbe. Sie versucht sich anzupassen, was nur leidlich gelingen kann und immer wieder wird sie zur Projektionsfläche derer, die gescheitert sind und sie dafür verantwortlich machen – als Frau, als Ausländerin, da werden ihr die Jobs ja geradezu nachgeworfen, nur um Diversität zu fördern.

Sie ergibt sich, schweigt, spielt mit – im Gegensatz zu ihrer Freundin Rach, die lauthals für die Gleichberechtigung einsteht. Die Protagonistin schafft es hingegen nicht einmal vor Schulkindern ehrlich von ihren Erlebnissen zu berichten. Der Kampf wäre auch nicht einfach möglich, zu schwer wirkt die Intersektionalität; es ist eben nicht der eine Grund, der sich zum Opfer von Diffamierung macht und sie daran hindert, sich mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren.

Trotz all dem, was in der kurzen Geschichte steckt, für mich waren hier Bernardine Evaristo mit ihrem Roman „Girl, Woman, Other“ oder auch mit ihrem Sachbuch „Manifesto“ ebenso wie Michaela Coels „Misfits“ viel greifbarer und ausgereifter in der Thematik.

Heinrich Steinfest – Amsterdamer Novelle

Heinrich Steinfest – Amsterdamer Novelle

Es ist ein zufälliger Schnappschuss seines Sohnes, der den Visagisten Roy Paulsen nach Amsterdam führt. Ein Radfahrer, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist, vor einem typischen Amsterdamer Gebäude. Nach kurzer Wanderung durch die Grachten-Stadt findet er das gesuchte Haus im Hintergrund und zu seiner Verblüffung ist die Haustür der Familie van Dongen offen. Was er nicht ahnt, ist, dass er Mitten in einen Mord gerät und sein Leben eine dramatische Wendung nehmen wird: entweder als Leiche ein vorzeitiges Ende oder einen anderen gänzlich unerwarteten Ausgang.

„Zudem verspürte Roy kein geringes Glück darüber, in diese Situation geraten zu sein. Denn das war das mit Abstand Aufregendste und Extremste, was er je erlebt hatte. Es war genau die Sache, die man einmal in seinem Leben durchmachen möchte, aber unter der Bedingung, sie zu überleben.“

Heinrich Steinfests „Amsterdamer Novelle“ ist ein kurzer aber herrlicher Spaß, der vor allem durch die lakonische Sprache des Erzählers begeistert. Es ist die Geschichte eines mysteriösen Fotos, das es gab oder eher: geben wird, wie die eines Buchs, das es nicht gab und das doch da ist und eine ganz entscheidende Rolle spielen wird. Zufälle oder Fügungen des Schicksals – es ist letztlich egal, denn die Geschichte trägt sich zu, wie sie sich nun einmal zuträgt und man amüsiert sich köstlich.

Kein Satz ist zu viel und doch reißt der Autor ganz essentielle Fragen an: kann man Fotos und dem, was sie zeigen, heutzutage noch trauen? Zeigen Fotos die Realität oder doch nur eine Interpretation dieser – von bewussten Manipulationen ganz zu schweigen. Wie können Zufälle plötzliche ganze Leben umleiten, ihnen eine neue Richtung geben? Und: kann ein Commissaris als literarische Figur einem klassischen Gemälde entsprungen sein?

Die Novelle füllt nicht einmal einen Abend, erfüllt aber fraglos den Zweck hervorragend zu unterhalten.

Georges Simenon – Madame Maigrets Liebhaber

Georges Simenon – Madame Maigrets Liebhaber

Madame Maigret betrügt ihren Gatten? Unvorstellbar! Und auch nicht wahr, wie schon im ersten Kapitel schnell aufgelöst wird. Der Kommissar neckt seine Gattin lediglich damit, denn seit Tagen beobachtet sie vom Fenster ihrer Wohnung aus einen Mann, der täglich morgens über die Place des Vosges spaziert und nachmittags stundenlang regungslos auf einer Bank sitzt. Auch Maigret kann einen Blick auf ihn werfen, etwas kommt ihm jedoch seltsam vor und tatsächlich: der Mann ist nicht mehr nur regungslos, sondern mausetot. Am helllichten Tag inmitten von spielenden Kindern und Dienstmädchen erschossen. Ein Mord direkt vor seiner Haustür und dieses Mal ist die wichtigste Zeugin genau jene Frau, die er am besten kennt: seine Gattin. Diese nutzt die seltene Gelegenheit und wird zur Assistenzkommissarin im Viertel.

Der vielversprechende Titel sowie das Cover – zwei nicht erkennbare Personen, die sich in einem Metrogang innig küssen – scheinen so gar nicht zu den biederen Kommissar Maigret Geschichten zu passen. Einen schönen Spaß hat sich der Autor mit dem irreführenden Titel da für seine Novelle erlaubt, die ansonsten im typischen Stil des französischen Polizisten gehalten ist. Eine Podcastfolge von „Shedunnit“ hat in mir die Lust auf einen klassischen Krimi geweckt. In Folge 45„The Detection Club“ berichtet Caroline Crampton von einer Vereinigung Krimiautoren, die sich Ende der 20er Jahre regelmäßig zu exklusiven Dinner Meetings trafen und die klare Regeln für das Genre aufstellten. Unter den Gründungsmitgliedern waren so prominente Namen wie Agatha Christie, G.K. Chesterton und Dorothy L. Sayers. Auch wenn Simenon kein Mitglied war, erfüllt sein Werk doch ziemlich perfekt Ronald Knox‘ 10 Anforderungen an einen fairen Kriminalroman.

»Nein, nein und noch mal nein!«, rief er, sich halb im Bett aufrichtend. »Fang gar nicht erst an, mir gute Ratschläge zu erteilen, nur weil du beinahe die richtige Fährte aufgenommen hast. Jetzt ist es an der Zeit, zu schlafen …«

Maigret erlebt eine ungewöhnliche Herausforderung, nicht nur geschieht ein Mord direkt vor seiner Nase und Wohnung, nein, seine Gattin ermittelt mindestens genauso geschickt wie er, was er natürlich nicht zugeben kann. So höflich und liebeswürdig er sie behandelt, das würde nun wahrlich zu weit gehen. Zu dem Fall lässt sich nur wenig sagen ohne zu viel zu verraten: ein Mord, klassische Befragung, Lesen von Spuren und zielgerichtete Lösung des Falles. Herausragend dieses Mal die Rolle von Madame, die sogar einen Tick flotter ist als ihr Mann.

Ein schnelles Vergnügen, das keine Wünsche offenlässt.

Ronit Matalon – Und die Braut schloss die Tür

Und die Braut schloss die Tuer von Ronit Matalon
Ronit Matalon – Und die Braut schloss die Tür

Eigentlich sollte es der schönste Tag im Leben werden, die Hochzeit von Matti und Margi, doch dann schließt sich die Braut ins Schlafzimmer ein und verweigert jedes Gespräch. Weder Matti kann sie dazu bewegen, die Tür wieder zu öffnen, noch seine Eltern Pninit und Arje. Auch Margis Mutter Nadja dringt nicht zur Tochter durch, deren letzter Satz „Ich heirate nicht“ – dreimal wiederholt – unheilvoll im Raum steht. Man sucht Hilfe bei Julia Englander vom Büro für „Bereuende Bräute“, doch auch die Therapeutin kann nur etwas erreichen, wenn die junge Frau mit sich reden lässt. Man muss wohl radikaler vorgehen und von außen Zugang zum Zimmer ermöglichen, denn es warten 500 Gäste auf ein rauschendes Fest.

Ronit Matalons letzter Roman „Und die Braut schloss die Tür“ ist eine Komödie, die sich immer haarscharf auch an der Tragödie vorbeiwindet. Voller Wort- und Situationskomik und treffsicher mitten hinein in das Zentrum des arabisch-jüdischen Lebens. Die Autorin wurde mit zahlreichen Preisen für ihre Bücher geehrt und arbeitete als Dozentin an der Universität in Haifa. Mit ihrem Tod verliert das Land eine wichtige feministisch-orientalische Stimme. Am Tag vor ihrem Tod sollte die Autorin den Brenner-Preis für den Roman entgegennehmen, konnte aber krankheitsbedingt das Bett nicht verlassen – an einem wichtigen Tag im Zimmer gefangen, fast ironisch, wie sich dies mit ihrer Protagonistin spiegelt.

Der Roman ist eigentlich eher eine Novelle, dreht es sich im Kern doch um die Frage, weshalb die junge Frau sich einschließt und nicht heiraten möchte. Sowohl Handlungsort wie auch Figuren sind begrenzt auf die engste Familie, die dieses unerwartete und außergewöhnliche Ereignis ereilt. Die Krise, die üblicherweise zu einem Bruch oder einer Versöhnung führen kann, bewirkt jedoch wenig bei den Figuren außerhalb des Schlafzimmers. Die Elterngeneration ist festgefahren in ihren Vorstellungen, vor allem jenen, was die Braut zu tun hat. Auch Matti kann sich keinen Reim auf das seltsame Verhalten seiner Geliebten machen. Nur die alte Sabtuna, die schon nicht mehr gut hört, scheint die relevanten Zwischentöne wahrzunehmen und sie ist es auch, die die einzige Nachricht richtig deuten kann. Manchmal sind es nicht die offenkundigen Dinge, die zählen.

Matalon arbeitet mit starken Kontrasten, immer wieder schwanken die Figuren zwischen extremer Hitze – die Klimaanlage muss just an diesem Tag ausfallen – und einer Kälte, die sie spüren, die sie schon immer in sich trugen. Das Büro der „Bereuenden Bräute“ – für uns eine geradezu absurde Vorstellung, aber hier spielt der kulturelle Faktor und insbesondere der Druck, der auf jüdischen Frauen herrscht, möglichst jung heiraten und zahlreiche Kinder gebären – sicher auch eine Rolle. Mit allen Mitteln sollen sie unterstützt werden, diese Erwartungen von Familie und Gesellschaft zu erfüllen, seien sie noch so absurd. Dass ausgerechnet jener Mann von der Polizei zum Verhör mitgenommen hat, der letztlich die Situation entschärfen konnte, aber mit arabischen Schriftzeichen auf seinem Wagen natürlich direkt verdächtig wirkt, gehört wohl zu den Alltagsabsurditäten Israels.

Man findet viel typisch jüdischen Humor in dem kurzen Buch, Klischees werden ebenso bedient wie der selbstironische Blick auf das eigene Dasein. Und egal wie verzweifelt die Lage auch ist, ein Grund den Glauben und die Hoffnung zu verlieren ist es sicher nicht. Ein kurzer, aber gelungener Roman, der mich neugierig auf die Autorin gemacht hat.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal und an die Verlagsgruppe Random House für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Marion Poschmann – Die Kieferninseln

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Marion Poschmann – Die Kieferninseln

Ein Traum, so realistisch, dass er einfach wahr sein muss. Gilbert Silvester, Privatdozent und aktuell an Männerbärten forschend, hat geträumt, dass ihn seine Frau Mathilda betrügt und da sie ihn ohnehin verlassen wird, kann er auch direkt gehen. Kurzerhand bucht er einen Flug nach Japan, völlig sinn- und ziellos und findet sich nur wenige Stunden später in einem sterilen Tokioter Hotel wieder. Er irrt durch die Stadt und wird Zeuge eines versuchten Selbstmordes in der U-Bahn. Yosa Tamagotchi wollte sich vor den Zug werfen, doch Silvester verhinderte dies durch seine Kontaktaufnahme. Nachdem er realisiert, welchem Schauspiel er gerade beigewohnt hat, überzeugt er den Japaner, dass die U-Bahn ein unwürdiger Ort für eine solche Tat ist. Das Land hat so viel inspirierendere Orte, an denen man sich das Leben nehmen kann. Der ohnehin verunsicherte Student gibt sich und sein Leben also in die Hände des Wissenschaftlers, der für Yosa den perfekten Ort zum Sterben finden will. Eine moderne Odyssee mit dem Ziel nicht der Heimkehr, sondern der Reise in die Ewigkeit, beginnt.

Marion Poschmann hat einen geradezu lyrischen Roman verfasst, der eigentlich eher einer Novelle gleicht. Im Zentrum steht Gilbert Silvester, der in seinem Leben nur wenige der erhofften beruflichen Ziele realisieren konnte und nun aufgrund eines Traums die Flucht ans andere Ende der Welt angetreten hat. Orientierung und Halt in dieser außergewöhnlichen Situation gibt ihm ein Gedicht- und Erzählband des japanischen Schriftstellers Basho, dessen Reise er verfolgen wird. Über den zweiten Protagonisten erfahren wir nicht viel mehr als dass er große Selbstzweifel bezüglich seines Könnens hegt und sich daher das Leben nehmen will. Ein überschaubares Set an Figuren und Charakterzügen.

Sie machen sich auf zu einer einstmals modernen Siedlung, die Vorbild für die Nachkriegsbauweisen im zerstörten Europa wurde und heute nur noch Verfall ausstrahlt. Auch der sogenannte Wald der Toten, Aokigahara, ist nicht der geeignete Ort, zu viele Leichen liegen dort schon rum als dass man in Ruhe seinen Frieden finden könnte. Der Mihara-Vulkan wäre eine angemessene Lokalität, doch diese liegt nicht auf ihrem Weg. Die Kiefernwälder in der Bucht von Matsushima könnten die Erfüllung bringen und sind ohnehin ein Ziel Gilbert Silvesters.

Es ist nicht nur das ungewöhnliche Motiv, dass die beiden Figuren zusammen und durch den Roman führt, mit dem Marion Poschmann überzeugen kann. Die Erzählung lebt von der sprachlichen Umsetzung, die den feinen Unterschieden zwischen Westen und Osten in jeder Nuance gerecht wird und die scharfsinnigen Beobachtungen der Natur und der Menschen fabelhaft in Worte transformiert. Ihre Beschreibungen der Natur lassen eher an Poesie erinnern als an romanhafte Beschreibungen, hier greift sie vor allem auf fernöstliche Bilder der japanischen Mystik zurück, die dem Wald und den Bäumen übernatürliche Kräfte zuschreiben. Ein starker Kontrast zum eher verkopften und sachlichen Westen. Dort gibt es auch die Schattierungen nicht, die Zwischentöne und Nuancen, die Gilbert Silvester nur in Japan in der freien Natur finden und bewundern kann:

„Die Schau der Naturerscheinungen war weder mit Kunst noch mit Architektur, noch mit Geschichte verbunden, sie war zart und geheimnisvoll, und wenn daraus doch eine Form von Bildung erwuchs, ließ sie sich hinterher weder erklären noch abrufen.“ (Pos. 1657)

Eine Bildungsreise der ganz anderen Art, die erst in die Ferne und doch wieder zurück führt. Nominiert auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 und aufgrund der Sprachgewalt für mich ein klarer Favorit.