Lana Bastašić – Fang den Hasen


Lana Bastašić – Fang den Hasen

Ein Anruf katapultiert Sara aus ihrem Leben in Dublin zurück in ihre Kindheit und Jugend nach Bosnien. Einst waren sie und Lejla unzertrennliche Freundinnen, am ersten Schultag haben sie sich kennengelernt und selbst beim Studium noch die Bank geteilt. So gegensätzlich sie waren – Sara Tochter des Polizeichefs, immer eher zurückhaltend und nachdenklich, Lejla die Wilde aus der Familie mit zweifelhaftem Ruf – so eng war doch die Freundschaft. Ebenso zu Lejlas Bruder, der nur wenige Jahre älter für Sara der erste Kontakt zu einem Jungen darstellte. Bis Armin verschwand, wie so viele zur Zeit des auseinanderfallenden Jugoslawien. Doch nun ist er scheinbar in Wien und Lejla benötigt einen Fahrer, weshalb sie nach 12 Jahren Funkstille um Saras Hilfe bittet.

Lana Bastašićs Roman „Fang den Hasen“ wurde 2020 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Dieser wird jährlich an aufstrebende Schriftsteller:innen verliehen und würdigt den Reichtum der zeitgenössischen Literatur sowie das kulturelle und sprachliche Erbe Europas. Obwohl die Autorin viele Jahre in Irland und auch Spanien lebte, erschien der Roman in bosnischer Sprache. Als Mitbegründerin des „3+3 sisters“ Projekts fördert sie Schriftstellerinnen des Balkans. Dort ist auch ihre Geschichte tief verwurzelt.

Das weiße namenlose Kaninchen, dem einst schon Alice in das Wunderland folgte, ist einer der wesentlichen Verbindungen zwischen Lejla und Sara. Immer wieder taucht der Hase und die Erinnerung an diesen bzw. auch dessen Nachfolger im Roman auf. Wie die andere literarische Mädchenfigur stößt auch Sara auf zahlreiche Türen, wenn auch in ihrem Gedächtnis, die sich nach und nach öffnen und all das, was sie viele Jahre vergessen glaubte, wieder hervorbringen.

Die Reise der beiden Freundinnen von Mostar nach Wien ist kein fröhlich-freudiges Wiedersehen. Eine hat sich davongemacht, im reichen Europa ein gutes Leben gefunden, während die andere zwischen den Trümmern des Balkankrieges über die Runden kommen muss. Konnten sie als Kinder noch über die Ungleichheiten und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Volksgruppen hinwegsehen, war es für die jungen Erwachsenen nicht mehr möglich, die unterschiedlich verteilten Privilegien zu ignorieren.

Aus Sicht Saras wird die Begegnung mit der Vergangenheit geschildert. Dies ist notwendigerweise völlig subjektiv und wirft immer wieder auch Fragen auf – ist sie wirklich so unschuldig an der Situation, wie sie sich sieht? Sind ihre Erinnerungen korrekt oder hat sie sich etwas zusammengereimt, was für sie die günstigere Darstellung ist? Diese hindern sie jedoch nicht an einem humorvollen und oft ironischen Erzählton, der locker durch die Handlung trägt, auch wenn diese durchaus nachdenklich stimmende und hochpolitische Aspekte beinhaltet. Es ist kein harmloser Roadtrip, auf den sich beiden jungen Frauen begeben, dieser ist nur der Hintergrund, vor dem sich die Zerrissenheit einer ganzen Region offenbart.

Ein beachtenswertes Debüt, das unter einer lockeren Oberfläche einen tiefen Abgrund bereithält.

Saša Stanišić – Herkunft

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Saša Stanišić – Herkunft

Die Frage danach, wo man herkommt, scheint so einfach und ist doch so kompliziert. Wenn Saša Stanišić gefragt wird, muss er zunächst zurückfrage: wie, jetzt gerade? Oder wo ich wohne? Oder das Land, in dem ich geboren bin, und das es gar nicht mehr gibt? Oder die ethnische Zugehörigkeit seiner Eltern? Er beleuchtet dieses komplizierte Thema anhand seiner eigene Biografie. Geboren als Sohn einer Bosniakin und eines Serben in einer jugoslawischen Kleinstadt, ist es in der Kindheit relativ egal, wer was ist, es sind eh alle für Roter Stern Belgrad, die Mannschaft, die 1991 den Europapokal gewinnt, bevor das Land auseinanderbricht und Jahrzehnte im fußballerischen Nirgendwo versinkt. Der Krieg kommt näher und die Familie flüchtet nach Deutschland, wo im Kreis zahlreicher anderer Flüchtlinge die Herkunft wieder egal ist, alle sitzen letztlich im gleichen Boot. Und heute? Die Mutter in Kroatien, wo sie als Nicht-EU Bürgerin nicht dauerhaft wohnen darf, die Großmutter dement und damit gänzlich ohne Herkunft und der Rest der Familie in alle Himmelsrichtungen verstreut. Was gibt man da an die Kinder weiter?

Der Autor selbst liest sein Buch, was der Geschichte durch den merklichen Akzent eine noch eindringlichere Wirkung verleiht. Thematisch könnte Stanišić kaum mehr den aktuellen Zeitgeist treffen, auch wenn seine Einwanderungsgeschichte unter gänzlich anderen Voraussetzungen stattgefunden hat als die derjenigen, die seit 2015 angekommen sind. Ohne Frage gilt der vielfach ausgezeichnete Autor als perfekt integriert und Musterschüler. Gut, dass er den Finger auch in die Wunde legt, denn er hat eine Chance bekommen, hätte seine Familie 15 Jahre später versucht zu flüchten, wären sie vermutlich von einem ungarischen Zaun gestoppt worden.

Was mich besonders begeistern konnte war die gelungene Verbindung von persönlicher Geschichte und großen politischen Linien. Der Autor selbst erlebt die Flucht und Ankunft in der neuen Welt als Jugendlicher. Schnell findet er Anschluss, denn er ist nicht alleine, aus aller Herren Länder sitzen Mitschüler in seinem Vorbereitungskurs und schnell freundet man sich an und arrangiert sich mit der Situation. Eine gewisse Normalität kann er sich so schnell aufbauen, seine Eltern hingegen müssen einfache Arbeiterjobs annehmen, die ihren akademischen Qualifikationen in keiner Weise gerecht werden, bis sie schließlich nur wenige Jahre später ohnehin wieder rausgeworfen werden.

Bei einer Reise mit seiner Großmutter nach Višegrad viele Jahre später sucht er nicht nur nach Wurzeln, sondern stellt auch fest, wie sich Menschen immer wieder anpassen. Den Zweiten Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen, die sich dann letztlich doch auch nur als Menschen herausstellten und sich mit der lokalen Bevölkerung arrangierten, haben die Alten genauso ausgehalten wie den angeordneten Vielvölkerstaat und dessen brutalen Zerfall.

Anekdoten reihen sich aneinander, von kindlicher Unbedarftheit bis zu unschönen Wahrheiten. Er trifft auf Deutsche, die aus Schlesien stammen und ebenso mit scheinbar willkürlichen Grenzen und Definitionen leben müssen wie er und muss als Jugendlicher mit überschaubarem Wortschatz Wörter wie Brandanschlag, Ausländerhass und Molotow-Cocktail lernen, weil überall im Land gerade Neonazi Flüchtlingsunterkünfte anzünden.

Er findet keine Antwort auf die Eingangsfrage, außer vielleicht, dass diese Frage nur gestellt wird vor dem Hintergrund eines sehr begrenzten Weltbildes, das aus Schubladen besteht, deren Sortierordnung nicht nur überholt, sondern weltfremd, unnütz und rassistisch ist.

Robert Prosser – Phantome

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Robert Prosser- Phantome

2015, Wien. Sara und ihr Freund kennen die Geschichte von Saras Mutter Anisa nur aus deren Erzählungen. Die Flucht aus Bosnien, wegen des Krieges aus der Heimat vertrieben. Der Konflikt, der plötzlich Nachbarn zu Feinden machte und Familien auseinanderriss. Die beiden Jugendlichen machen sich auf nachzuforschen, vor Ort, im Süden, da wo einst ein Land war und was inzwischen in unzählige Kleinstaaten zersplittet ist. Schnell wird das Leben von damals wieder lebendig und der Leser befindet plötzlich im Jahr 1992 und auf der Flucht vor dem Krieg. Anisa, die als Flüchtling hofft in Sicherheit zu kommen und ihr Freund Jovan, der von der Armee eingezogen werden soll und zwischen die Fronten gerät. Anisa kann die schrecklichen Kriegserlebnisse auch im fernen Wien nicht hinter sich lassen, die Ungewissheit, was mit dem Freund und dem Vater ist, lähmt sie immer wieder. Doch sie muss auch nach vorne blicken, sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen – doch wie?

Robert Prosser greift in seinem Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 stand, einen Konflikt auf, den man in Europa nur zu gerne verdrängt, weil es der erste Krieg auf europäischen Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges war. Dieser Konflikt hat jedoch auch unzählige Menschen gen Norden flüchten lassen und sie vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der Fremde ein neues Leben beginnen zu müssen, obwohl das alte weder abgeschlossen war noch man dieses freiwillig aufgegeben hatte.

Die Schilderungen der Kriegserlebnisse von Anisa und ihrem jungen Freund sind grausam. Der Autor gibt sich nicht mit Andeutungen zufrieden, sondern schildert das, was sich in solchen Zeiten nun einmal zuträgt schonungslos und direkt. Auch das Leben im Flüchtlingsheim, wo man das Schlimmste eigentlich hinter sich gelassen hat, ist kein angenehmes und entspanntes Dasein. Andere Konflikte und Sorgen bestimmten den Alltag und soziale Gruppenprozesse, wie sie auch in jeder Dorfgemeinschaft zu finden sind, greifen auch dort und setzen den Bewohnern zusätzlich zu.

Im Rückblick etwas verwunderlich der Vorspann des Romans, der sehr auf den Graffiti sprayenden Freund von Anisas Tochter fokussiert und dessen nächtlichen illegalen Aktionen sehr ausufernd schildert. Ob es der Kontrast sein soll zwischen den beiden jungen Pärchen? Das eine, das den Nervenkitzel sucht, weil das Leben womöglich nicht genug zu bieten hat, das andere, das unmittelbare Kriegserfahrung machen muss – ich weiß es nicht, aber vom Ende an blickend ist dieser ganze Abschnitt eigentlich irrelevant.

Was jedoch auf jeden Fall gelungen ist, ist das Thema Balkan und die vielen ungelösten Fragen aufzugreifen und zu mahnen, dass man nicht nur die aktuellen Krisen im Blick haben sollte, sondern auch die vor unserer Haustür befindlichen, die auch 20 Jahre nach dem Friedensschluss noch immer nicht aufgearbeitet sind und liebsten offenbar vergessen wären. Aber viele der Betroffenen leben unter uns und sollten viel mehr daran erinnern.

Ein thematisch interessantes und sprachlich eindringliches Buch, das für mich nicht unbedingt durch besondere literarische Kniffe oder eine auffällige Sprache punkten kann, sondern das mit einer authentisch wirkenden Geschichte und politischer Relevanz überzeugt.