Frank Heer – Alice

Frank Heer – Alice

Obwohl die Trennung von seiner Jugendfreundin Alice schon einige Zeit zurückliegt, ist Max Rossmann noch nicht ganz über sie hinweg. Als er jedoch in einem Club eine noch unbekannte Sängerin sieht, ist er sofort fasziniert von ihr. Sie heißt ebenfalls Alice und er nutzt seinen Job als Lokaljournalist beim Der Anzeiger, um über sie zu berichten und sich ein Interview mit ihr zu sichern. Sie nähern sich an, dank seines Berichts kommt Alice auch zu ungeahnter Popularität, doch dann verschwindet sie plötzlich. Dafür taucht die andere Alice wieder auf und Max wird bei seinem Zeitungsjob gefordert: nicht nur scheint ihn ein mysteriöser Anrufer zu stalken, auch die Erkenntnis, dass er nicht einfach alles berichten kann, wie er möchte, setzt ihm zu.

Frank Heer teilt einige Charakteristika mit seinem jungen Protagonisten: der Journalist schreibt ebenfalls über Musik und Film und lebt in Zürich. „Alice“ schildert nicht nur die Kompliziertheit von jugendlicher Liebe, sondern auch das Erwachsenwerden und Ankommen in einer Welt, in die man nicht hineinpasst, in der andere Werte gelten als die, von denen man überzeugt ist, und die vor allem aus Kämpfen zwischen den Generationen zu bestehen scheint. Der Autor fängt dabei nicht nur das Gefühl der Jugend ein, sondern auch das der 70er Jahre, das zwischen politischen Aktivismus und drogeninduziertem Eskapismus vor den Gräuel der Realität oszilliert.

Auch wenn die beiden Frauen Namensgeberinnen des Romans sind, ist doch Max die zentrale Figur, an der Heer die Konflikte des Heranwachsens authentisch abarbeitet. Die Erwartungen seiner Eltern, den biederen Anwaltsweg zu gehen, kann und will er nicht erfüllen. Zeiten von Sinnsuche, die hohe Identifikation mit Musik, die es schafft, die Emotionen zum Ausdruck zu bringen, für die ihm die Worte fehlen. Bei seiner Arbeit für die Zeitung lernt er nicht nur das Schreiben, sondern auch Zwänge kennen, von denen er nichts ahnte. Ungerechtigkeiten, die er empfindet, gehen gegen die Interessen des Besitzers und können nicht veröffentlicht werden. Der der Jugend eigenen Kampf für die großen Werte wird für ihn zur Zerreißprobe und er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

Die beiden Alice könnten kaum verschiedener sein und doch oder vielleicht auch gerade deshalb haben sie ihren Reiz. Unterschiedliche Lebensentwürfe, in denen Max sich spiegelt und die er als Reflexionsfläche benutzt. Die Handlung ist auf eine kurze Spanne beschränkt, die Max auf eine emotionale Achterbahn schicken und Entscheidungen fordern. Die ganze Bandbreite des Lebens bricht über ihn herein, überfordert bisweilen, lässt ihn jedoch auch wachsen und seinen Platz finden.

Ein dichter, aber restlos überzeugender Roman, dem es gelingt, mit passender Atmosphäre die Zeit der Unsicherheit und des Schwankens einzufangen.

Sandra Cisneros – Das Haus in der Mango Street

Sandra Cisneros – Das Haus in der Mango Street

Esperanza wohnt in der Mango Street in Chicago. Es ist nicht das, was sie als ihr „Zuhause“ betrachten würde, aber das Haus, in dem sie wohnt, befindet sich nun einmal dort. Die Mango Street ist ein wildes Sammelsurium an Menschen, die dort alle gestrandet sind und auf bessere Zeiten hoffen. Esperanza wächst zwischen ihnen und den unterschiedlichen Lebensentwürfen auf, schon früh mit der Absicht, irgendwann einmal als Schriftstellerin mit ihrem eigenen Haus erfolgreich zu sein.

Wie die mexikanisch-amerikanische Autorin Sandra Cisneros bereits im Vorwort ankündigt, handelt es sich nicht um einen Roman im eigentlichen Sinne. Zur Entstehungszeit Anfang der 80er Jahre waren kurze Texte angesagt und so finden sich in „Das Haus in der Mango Street“ 44 kurze Episoden aus dem Lebensalltag Esperanzas, die den realen Erfahrungen der Autorin entlehnt sind. Sie ermöglicht durch ihre Augen einen kurzen Blick in die Leben der Bewohner der Straße, wirft durchaus auch brisante Fragen auf, führt die Geschichten jedoch nie so ganz zu einem Ende.

„Leute, die keine Ahnung haben, kommen ganz verschreckt in unser Viertel. Sie glauben, wir sind gefährlich. Sie glauben, wir gehen mit blitzenden Messern auf sie los. Sie sind Dummköpfe, die sich verirrt haben und nur versehentlich hier gelandet sind. Wir aber haben keine Angst.“

„Das Haus in der Mango Street“ wird vielfach als wichtiges Werk sowohl der Chicano-Literatur wie auch aus feministischer Sicht interpretiert. Cisneros schildert vor allem das Leben der mexikanischen Einwanderer bzw. ihrer Nachfahren, so werden Ehefrauen aus Mexico importiert, die kein Englisch sprechen und dadurch ans Haus gebunden sind, andere hoffen mit dem Umzug in die reichen USA auf ein besseres Leben. Alte Familienstrukturen und vor allem das Verhältnis von Männern und Frauen zueinander wird nicht an die neuen, offeneren gesellschaftlichen Lebensrealitäten angepasst, sondern so wie schon immer fortgesetzt. Man kennt sich im Viertel und weiß, wann etwas zu kommentieren ist und wann auch einfach nicht.

Esperanza ist am Beginn der Pubertät, interessiert sich zunehmend für das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungs, sucht selbst aber noch keinen Kontakt. Es steht jedoch außer Frage, dass sie irgendwann einen Freund und dann auch Mann braucht, wenn das nicht einfach so klappt, kann man immer noch zur Zauberhexe gehen, die dann Abhilfe weiß.

Die kurzen Episoden lassen durchscheinen, dass das Leben in der Mango Street nicht einfach, vielfach auch von Gewalt geprägt ist und doch alle ihre Träume von einem besseren Leben hegen – oder sie hoffen dies zumindest für ihre Kinder. Insbesondere für die Frauen wird es aber beim Traum bleiben, denn ihre Lebenswege sind vorgezeichnet und sehr begrenzt. So sehr sich auch Esperanza wünscht ausbrechen zu können, ist ihr schon als Mädchen bewusst, dass sie nicht alles einfach wird hinter sich lassen können, sondern dass sie auch davon geprägt wird, in dem, wie sie die Welt sieht.

Durch die Stimme des jungen Mädchens kann Cisneros die sozialkritischen Themen etwas abmildern, da sie mit einer gewissen Naivität und Unwissenheit präsentiert werden. Präsent sind sie dennoch und machen den Roman dadurch durchaus auch zu einer Anklage. Dies wird allein dadurch deutlich, dass er zu den Jugendromanen zählt, die regelmäßig auf den Verbannungslisten erscheinen, die Mitglieder der weißen Oberschicht an die US-amerikanischen Schulen und Bibliotheken herantragen.

Silvia Avallone – Bilder meiner besten Freundin

Silvia Avallone – Bilder meiner besten Freundin

Es war ein bestimmtes Ereignis, das Elisa wenige Tagen vor Weihnachten dazu gebracht hat, die Geschichte niederzuschreiben und dafür ihre Erinnerungen, die sie so lange verdrängte, wieder heraufzubeschwören. Viele Jahre sind vergangen, doch nun ist es, als wenn all dies erst gestern geschehen wäre. Aus der alleinerziehenden Dozentin wird wieder das unsichere Mädchen, das neu in der Klasse ist und keinen Anschluss findet. Bis Beatrice sie als Freundin auswählt. Bea, das schönste Mädchen des Ortes, deren Mutter bereits auf zahlreichen Covern war und der selbst ebenfalls eine Karriere in der Modebranche bevorsteht. Eli und Bea könnten ungleicher kaum sein und doch entwickelt sich eine enge Freundschaft, die es nur der anderen erlaubt, hinter die familiäre Fassade zu schauen und die Abgründe zu sehen, die sich bei beiden auftun. Die Welt außerhalb des verschworenen Duos sieht nur das unscheinbare Mädchen, das sich in die Literatur flüchtet, und dazu das andere, das schon früh das Leben inszeniert und in der noch neuen online Welt zur Schau stellt. Doch etwas ist geschehen, dass das innige Band reißen ließ und sie für immer entfremdete.

Die italienische Autorin Silvia Avallone hat zunächst mit Gedichten auf sich aufmerksam gemacht, doch schon ihr erster Roman wurde vielfach ausgezeichnet. Auch ihre aktuelle Erzählung konnte Publikum wie Kritiker gleichermaßen begeistern. „Bilder meiner besten Freundin“ erzählt die Geschichte einer Freundschaft zweier ungleicher Mädchen, die sich zufällig finden und unzertrennlich werden. Es sind gleich zwei Mysterien, die die Geschichte überlagern: was hat sie entzweit und was hat dazu geführt, dass Elisa viele Jahre später plötzlich wie eine Besessene alles aufschreibt?

Es ist kurz nach der Jahrtausendwende, dass Elisa zu ihrem Vater ziehen muss und so Beatrices Klassenkameradin wird. Die Welten, in denen sie leben, könnten kaum unterschiedlicher sein. Elisas Vater ist der klassische intellektuelle Gelehrte, der den Alltagsdingen nur wenig Interesse entgegenbringen kann. Ihre Mutter hingegen ist unstet, emotional und mit der Kindererziehung überfordert. Nachdem Elisas älterer Bruder schon in eine Welt von Partys und Drogen abgedriftet ist, soll die Tochter in geordneten Verhältnissen aufwachsen und wird gegen ihren Widerstand umgesiedelt. Als die Fremde mit komischen Akzent ist sie ausgeschlossen und einsam. Bis Bea sie entdeckt.

Diese kommt aus gutbürgerlichem Elternhaus mit einer Mutter, die nur die Modellkarriere ihrer Tochter im Sinn hat. Leicht ist es auch für Bea nicht, der permanente Druck, die Erwartungen zu erfüllen, auf Gewicht und Äußeres zu achten, die beide keinen Ausrutscher verzeihen. Ein Schicksalsschlag wirft sie völlig aus der Bahn, doch Elisa fängt sie auf, ist wie eine Schwester für sie. Die Mädchen habe jedoch auch Geheimnisse voreinander und diese sind es, die letztlich zu dem Bruch und tiefer Enttäuschung führen.

Zugegebenermaßen konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, eine gewisse Ähnlichkeit zu Elena Ferrantes neapolitanischen Saga zu erkennen. Nicht nur die Freundschaft zweier geradezu gegensätzlicher Mädchen als zentrales Element, sondern auch der Erzählstil wirkte bekannt. Dies ist jedoch keineswegs so negativ zu bewerten, wie es klingen mag. Im Gegenteil, mit viel Begeisterung hatte ich die Tetralogie um Elena und Lila verfolgt und gleichermaßen hat mich die Geschichte von Elisa und Beatrice von der ersten Seite an gefesselt. Souverän erzählt, immer wieder überraschend, die beiden Protagonistinnen differenziert und vielseitig gestaltet – ein überzeugender Roman, in den man gerne abtaucht. Und er macht neugierig auf die Autorin, von der es jedoch in deutscher Übersetzung derzeit erst ein einziges Buch zu geben scheint.

Lana Bastašić – Fang den Hasen


Lana Bastašić – Fang den Hasen

Ein Anruf katapultiert Sara aus ihrem Leben in Dublin zurück in ihre Kindheit und Jugend nach Bosnien. Einst waren sie und Lejla unzertrennliche Freundinnen, am ersten Schultag haben sie sich kennengelernt und selbst beim Studium noch die Bank geteilt. So gegensätzlich sie waren – Sara Tochter des Polizeichefs, immer eher zurückhaltend und nachdenklich, Lejla die Wilde aus der Familie mit zweifelhaftem Ruf – so eng war doch die Freundschaft. Ebenso zu Lejlas Bruder, der nur wenige Jahre älter für Sara der erste Kontakt zu einem Jungen darstellte. Bis Armin verschwand, wie so viele zur Zeit des auseinanderfallenden Jugoslawien. Doch nun ist er scheinbar in Wien und Lejla benötigt einen Fahrer, weshalb sie nach 12 Jahren Funkstille um Saras Hilfe bittet.

Lana Bastašićs Roman „Fang den Hasen“ wurde 2020 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Dieser wird jährlich an aufstrebende Schriftsteller:innen verliehen und würdigt den Reichtum der zeitgenössischen Literatur sowie das kulturelle und sprachliche Erbe Europas. Obwohl die Autorin viele Jahre in Irland und auch Spanien lebte, erschien der Roman in bosnischer Sprache. Als Mitbegründerin des „3+3 sisters“ Projekts fördert sie Schriftstellerinnen des Balkans. Dort ist auch ihre Geschichte tief verwurzelt.

Das weiße namenlose Kaninchen, dem einst schon Alice in das Wunderland folgte, ist einer der wesentlichen Verbindungen zwischen Lejla und Sara. Immer wieder taucht der Hase und die Erinnerung an diesen bzw. auch dessen Nachfolger im Roman auf. Wie die andere literarische Mädchenfigur stößt auch Sara auf zahlreiche Türen, wenn auch in ihrem Gedächtnis, die sich nach und nach öffnen und all das, was sie viele Jahre vergessen glaubte, wieder hervorbringen.

Die Reise der beiden Freundinnen von Mostar nach Wien ist kein fröhlich-freudiges Wiedersehen. Eine hat sich davongemacht, im reichen Europa ein gutes Leben gefunden, während die andere zwischen den Trümmern des Balkankrieges über die Runden kommen muss. Konnten sie als Kinder noch über die Ungleichheiten und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Volksgruppen hinwegsehen, war es für die jungen Erwachsenen nicht mehr möglich, die unterschiedlich verteilten Privilegien zu ignorieren.

Aus Sicht Saras wird die Begegnung mit der Vergangenheit geschildert. Dies ist notwendigerweise völlig subjektiv und wirft immer wieder auch Fragen auf – ist sie wirklich so unschuldig an der Situation, wie sie sich sieht? Sind ihre Erinnerungen korrekt oder hat sie sich etwas zusammengereimt, was für sie die günstigere Darstellung ist? Diese hindern sie jedoch nicht an einem humorvollen und oft ironischen Erzählton, der locker durch die Handlung trägt, auch wenn diese durchaus nachdenklich stimmende und hochpolitische Aspekte beinhaltet. Es ist kein harmloser Roadtrip, auf den sich beiden jungen Frauen begeben, dieser ist nur der Hintergrund, vor dem sich die Zerrissenheit einer ganzen Region offenbart.

Ein beachtenswertes Debüt, das unter einer lockeren Oberfläche einen tiefen Abgrund bereithält.

Allie Reynolds – Frostgrab

Allie Reynolds – Frostgrab

Zehn Jahre ist es her, dass Milla den Winter in den französischen Alpen verbracht hat, um sich auf einen wichtigen Snowboard Wettkampf vorzubereiten. Jetzt erhält sie eine Einladung zum Wiedersehen mit der alten Clique. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das wirklich möchte, das Ende ihrer Zeit dort war alles andere als erfreulich. Die Neugier ist jedoch stärker, weshalb sie sich mit Curtis, Heather, Brent und Dale auf eine einsame Hütte begibt, denn die Saison hat noch nicht begonnen. Doch bald schon geschehen seltsame Dinge, die sich die fünf nicht erklären können. Doch nicht nur das ungute Gefühl, dass sie nicht alleine sind, drückt auf die Stimmung, sondern auch die Frage, was damals mit Saskia, Curtis‘ Schwester, geschah, die seither spurlos verschwunden ist.

Allie Reynolds Thriller erzählt parallel die Ereignisse der Gegenwart und Millas Erinnerungen an den Winter ein Jahrzehnt zuvor. Vieles, was die Figuren zunächst von sich geben, bleibt vorerst kryptisch und unverständlich, erst als sich mehr und mehr Puzzlesteinchen in das Bild einfügen, ergibt ihr Verhalten einen Sinn. Doch dies beantwortet noch nicht die Frage, wer hinter der ganzen Aktion steckt und ihnen offenbar Böses will. Der Autorin gelingt es so, die Spannung bis zuletzt hoch zu halten und dann eine saubere und glaubwürdige Lösung zu präsentieren.

Es ist nicht ganz einfach, Sympathien für die Figuren zu entwickeln. Die junge Milla ist zerfressen vom Ehrgeiz und steht ihrer Konkurrentin Saskia damit in nichts nach. Gegenseitig bekämpfen sie sich mit allerlei fieser Tricks, nur um als Siegerin auf dem Podest zu stehen. Auch auf Gefühle jenseits der Ski-Bretter nehmen sie dabei keinerlei Rücksicht. Die bunt gemischte Gemeinschaft lebt das sorglose Dasein der Jugend mit viel Alkohol, Party und wechselnden Bettpartnern. Die Tage werden auf der Piste verbracht und so richtige Sorgen scheinen sie alle nicht zu haben, deshalb machen sie sich selbst welche.

Auch zehn Jahre später werden sie nicht wirklich sympathischer, alle haben offenbar Geheimnisse im Gepäck und sind unfähig einander offen und freundschaftlich zu begegnen. All dies tut der Spannung und Unterhaltung jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil, fast ein wenig schadenfroh sieht man mit an, wie einem nach dem anderen böse mitgespielt wird. Die verzögerte Erzählweise durch die Rückblicke nehmen immer wieder Tempo raus, liefern dafür aber immer weitere Deutungspunkte über den augenscheinlich vorhandenen geheimen Gegenspieler.

Es wird sehr viel über Snowboarden und irgendwelche Sprünge gesprochen, die mir leider gar nichts sagten und deren Schwierigkeit und Raffinesse ich auch nicht im Geringsten einschätzen könnte. Über diese Passagen lässt sich jedoch locker hinweglesen. Insgesamt eine fesselnde Angelegenheit, die wunderbar zum feucht-kalten Herbst oder Winter passt und bestens unterhält.

Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

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Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

Vierzig Jahre ist es her, dass Jakob Errbo den Sommer in Ostjütland auf dem Bauernhof seines Onkel Anton und dessen seltsamen Bruder Anders verbracht hat. Als Fünfzehnjähriger entdeckten er und sein Freund Sten die Mädchen, waren fasziniert von den Freigeistern der kleinen Kommune und bewunderten vor allem Ellen. Die ungewöhnliche Frau, die zur Kommune gehörte, aber dann bei den Onkeln einzog und so anders war als all die Mädchen, die sie kannten. Doch dann geschieht ein Mord im kleinen Ort und das Gleichgewicht der Bewohner gerät aus der Balance. Verdächtigungen, Vorurteile – nicht ist mehr wie zuvor und wird es auch nicht mehr sein. Jetzt, vier Dekaden danach, will Jakob für sich und die Onkel Gewissheit haben und Ellen wiederfinden, sie scheint der Schlüssel zur Antwort vieler Fragen zu sein.

Agnete Friis verbindet in ihrem Roman unterschiedliche Genre zu einer ungewöhnlichen Geschichte. Diese ist ebenso Kriminalfall – ein Mädchen tot, eine junge Frau verschwunden – wie sie dem sozialen Realismus zugeordnet werden kann, schildert sie doch die harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Landwirte in den 70er Jahren sehr eindringlich und ungeschönt, insbesondere die Dynamiken der Dorfgemeinschaft, als der Druck groß wird, sind leicht nachvollziehbar. Auf zwei Zeitebenen nähert man sich der Wahrheit, mit dem jungen Jakob erlebt man die Zeit 1978 durch die Augen des verliebten und verunsicherten Teenagers, in der Gegenwart begleitet man einen Mann, der gerade eine schmerzliche Trennung hinter sich hat und sich lange verdrängten Erlebnissen stellen muss.

„Der Sommer mit Ellen“ ist kein Wohlfühlroman, ganz im Gegenteil, es liegt eine unangenehme, unbehagliche Grundstimmung über der Geschichte, ebenso wie Jakob sich in seiner Haut und auf dem Hof selten wohl fühlt, bleibt auch bei dem Leser eine gewisse Distanz, da man sich gar nicht zu nah herantrauen möchte. Eben dieses kaum zu fassende, aber doch störende Gefühl zeigt, wie gut es Friis gelingt, die Atmosphäre literarisch zu erschaffen und die unausgesprochenen Dissonanzen zwischen den Figuren spürbar zu machen. Sie bleiben zum Teil vage, was aber an Jakobs Alter liegen mag und gut zu seiner noch vorhandenen Naivität passt. Besonders stark wirkt jedoch das Entsetzen des Jungen, als er förmlich am eigenen Leib erlebt, wozu ein Mensch in der Lage ist und sich selbst nicht wiedererkennt.

Die Journalistin und Autorin stand mit dem Roman 2018 auf der Shortlist für den dänischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres. Ohne Frage eine herausfordernde Erzählung, die in vielerlei Hinsicht viel Stoff zum Nachdenken liefert.

Paulina Czienskowski – Taubenleben

Paulina Czienskowski Taubenleben
Paulina Czienskowski – Taubenleben

Ein kleiner Fehler, der vielleicht böse Folgen hat, aber bis sie die Ergebnisse des Aids Tests hat, muss Lois warten. In den Tagen bis zur Entscheidung über Zukunft oder Ende, setzt sich die junge Frau mit ihrer Vergangenheit auseinander – ihrem Vater, der früh gestorben ist, sie kehrt zurück in das Hochhaus ihrer Kindheit und besucht ihre Mutter, die immer distanziert und kalt war und denkt an ihre Kindheitsfreunde Mirabel und Heinrich, mit denen sie durch gute und schlechte Zeiten ging. Sie fragt sich, ob das Leben, wie sie es führt, überhaupt einen Sinn hat und wenn ja, welchen?

Paulina Czienskowski schildert das Lebensgefühl einer neuen Lost Generation, die in Wohlstand und mit vermeintlich glorreicher Zukunft aufwuchs und sich, gerade im Erwachsenenalter, plötzlich in fragilen Beziehungen wiederfindet oder von einem One-Night-Stand zu nächsten wandernd, und sich voller Ängste und Hoffnungslosigkeit der Versprechungen für ihr Leben beraubt sieht. Die Sinnsuche wird entweder durch oberflächliche Internetwelten oder der Betäubung durch Drogen aller Art ersetzt oder führt sie geradewegs in eine manifeste Depression und Suizidgedanken.

„Und jetzt bin ich nicht tot und habe mich trotzdem umgebracht.“

Lois wandelt durch ihr Leben ohne sich lebendig zu fühlen. Nicht nur der fehlende Partner reißt ein Loch, vor allen die Ziel- und Bedeutungslosigkeit ihres Daseins lässt sie so sehr zweifeln, dass die Option selbiges zu beenden zur realen Möglichkeit wird. Wie eine Taube, die in den Verkehr gerät und getötet wird, deren Dasein aber keine Spuren hinterlässt und die nicht vermisst wird, fürchtet sie, könnte auch ihr Leben enden. Wozu war es dann gut?

„Früher sagte mir meine Mutter oft, ich sei tatsächlich besonders. Nicht, weil ich so einzigartig wäre für sie. Sie fand mich bloß besonders merkwürdig.“

Das Verhältnis zu ihrer Mutter scheint schwierig, abweisend und desinteressiert an ihrer Tochter erlebt man sie. Es fehlen beiden die passenden Kommunikationsmittel, zu verschiedenen scheinen die beiden Frauen auch, um eine gemeinsame Ebene zu finden. Je mehr Lois jedoch über den Tod ihres Vaters erfährt, desto nachvollziehbarere wird auch die Haltung und der Gemütszustand der Mutter, deren Leben ebenfalls nicht hielt, was sie sich von ihm versprochen hatte.

Es gelingt der Autorin, den emotionalen Ausnahmezustand der Protagonistin nachvollziehbar zu gestalten, leider fällt es jedoch schwer, diese sympathisch zu finden. Passiv erwartet sie, dass das Leben zu ihr kommt und alles vor ihr ausbreitet, einen eigenen Beitrag zum Gelingen scheint sie nicht bereit zu leisten und Verantwortung für das eigene Dasein übernimmt sie nicht. Zu schön hat sie es sich auch in ihrer Depri-Ecke eingerichtet, von der aus sie die Schuld auf andere verteilt. Beziehungsfähig kann man in dieser extrem Ich-bezogenen Haltung kaum werden und so muss jede Verbindung zu einem anderen Menschen zwangsweise scheitern.

Sollte der Roman als Anklage dieser Erwartungshaltung gedacht sein, dann überzeugt er – ob dies jedoch bei der Zielgruppe gelingt, darf bezweifelt werden – wollte Czienskowski für Verständnis werben, hat sie dies zumindest bei mir nicht geschafft.

Tim Boltz – Zonenrandkind

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Tim Boltz – Zonenrandkind

Wie war das wohl, in der westdeutschen Provinz in den 70ern und 80er Jahren aufzuwachsen? Nicht sehr spektakulär, das weiß jeder, dem das genauso ging. Ganz besonders abgehängt war man jedoch im osthessischen Grenzgebiet zur DDR, wo nach Osten nur der Russe drohte und es nach Westen weit war in etwas, das man Großstadt nennen konnte. Frank wird dort auf einem Dorf groß, wo das Leben eigenen und ganz typischen Regeln folgt. Die bekommt jeder mit der Muttermilch eingeflößt, damit man Zugezogene auch direkt erkennt. Erste Liebe, Mofaführerschein, alkoholreiche Kerbefeste und jeden Samstag das Fegen von Bürgersteig und Straße. Das Leben war vorbestimmt und folgte seinem gemächlichen Gang, nur unterbrochen von gelegentlich in die abgelegene Gegend einschlagenden Nachrichten wie dem Unglück von Tschernobyl. Doch 1989 wurde genau dieser Landstrich plötzlich ins Zentrum des politischen Geschehens gerückt und die Kindheit war für Frank damit endgültig vorbei.

Es gibt Bücher, deren Titel und Cover so wenig versprechen, dass man den Roman gar nicht erst zur Hand nimmt. Tim Boltzs „Zonenrandkind“ hätte mich auch eher abgeschreckt und wäre es nicht ein Adventskalendergewinn gewesen, bei dem mich tatsächlich der Klappentext neugierig gemacht hat, wäre die Geschichte an mir vorbeigegangen, was einfach unheimlich schade gewesen wäre, denn hinter der schlichten Fassade steckt nicht nur ganz viel Erinnerung an meine eigene Kindheit und Jugend auf dem Land, sondern auch ein pointierter Text mit unheimlich viel feiner Ironie, die sich nicht über das vermeintlich rückständige Leben in der Randzone lustig macht, sondern liebevoll draufblickt und mehr als einmal zum herzhaften Lachen einlädt.

Sind wir ehrlich: wer jenseits der 40 kann sich nicht an die holzvertäfelten Partykeller der Eltern erinnern oder die unsäglichen Strickpullis der Muttis oder Tanten? Der schlechte Haarschnitt und die wenig stylische Brille auf dem Cover tragen ihren Teil zur Gesamterscheinung dazu bei, die für viele schlichtweg Realität waren, wie die vergilbten Fotoalben heute noch belegen. Ach ja, das abgebildete Tier heißt übrigens „Genscher“ und reißt irgendwann im Laufe der Handlung in die Freiheit aus – ausgerechnet gen DDR.

Viel mehr lässt sich zum Inhalt auch kaum sagen. Viele Passagen kommen einem nur allzu bekannt vor, wenn man fernab der Großstadt im Grenzgebiet (in meinem Fall zwar nicht zur DDR, sondern tief im Südwesten) groß geworden ist, wo nicht viel mit Strukturentwicklung war und man nur mit viel Glück überhaupt drei grieselige Fernsehprogramme empfangen konnte. Die diffuse Angst vor „dem Russen“ und die für Kinder wenig nachvollziehbare Problematik mit „der Mauer“ sind mir auch bestens in Erinnerung. Die Dorfjugend arrangiert sich mit den Gegebenheiten und träumt von der großen weiten Welt, die jedoch letztlich auch nicht spannender ist als die Reise zurück in die überschaubare Heimat.

Luiza Sauma – Luana

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Luiza Sauma – Luana

Ein Brief holt all die Erinnerungen wieder hervor, die André Cabral über Jahrzehnte tief in seinem Gedächtnis vergraben hat. Er musste weg aus Rio, nur fernab von Brasilien konnte er sich ein Leben aufbauen und das, was geschehen war, verdrängen. Doch nun schreibt ihm Luana und alles ist, als wenn es erst gestern gewesen wäre. Das Leben mit seinem Vater und seinem kleinen Bruder Thiago und ihrer Haushälterin Rita und deren Tochter Luana. Aufgewachsen sind sie zusammen, doch dann verliebt sich André in die Angestellte. Eine Liebe, die nicht sein darf, die geheim bleiben muss. Doch es sind nicht nur die Standesunterschiede, die die beiden trennen, es ist noch mehr, doch von den Geheimnissen ihrer Eltern ahnen sie nichts und stürzen sich ins Verderben.

Schon das bunte Cover des Romans lässt erahnen, dass Luiza Sauma eine lebendige und intensive Geschichte geschrieben hat. Sie entführt den Leser nach Ipanema ins Jahr 1985 und öffnet die Türen zu einer unbekannten Welt. Die Ordnung Brasiliens ins klar getrennte Klassen, die je nach Zugehörigkeit Freiheiten und Möglichkeiten eröffnen oder eben klare Wege vorgeben, die hart und steinig sein werden. Der Versuch, die Grenzen zu überwinden, ist zum Scheitern verurteilt und führt zwangsweise alle ins Unglück.

Der Roman wechselt so locker zwischen unbeschwerter Jugend und der ersten Liebe und einer tiefen Traurigkeit, die durch den Verlust der Mutter ausgelöst wurde, wie es von der lässigen und fröhlichen Copacabana nicht weit in die ärmlichen Favelas ist. Die Figuren bewegen sich zwischen der hart erkämpften Normalität nach dem Unfalltod und der Freude auf ein selbstbestimmtes Leben nach der Schule. André hat alles vor sich, alle Türen stehen ihm bei seiner Herkunft offen und er kann seinen Träumen freien Lauf lassen. Für Luana ist die Schule bereits beendet und die Zukunft vorbestimmt: wie ihre Mutter wird sie als Dienstmädchen arbeiten. Schon in jungen Jahren hat sie die Regeln verinnerlicht: in der Küche essen, nicht aufs Sofa der Herrschaften setzen, Zähne zusammenbeißen und freundliche bleiben. Obwohl sie sich lange wehrt, kann auch sie den Gefühlen letztlich wenig entgegensetzen.

Dieser unbeschwerten Liebe der Jugend, die scheinbar alle Regeln außer Kraft setzen kann, setzen die Erwachsenen ihre eigenen Lebensregeln entgegen, die den Status quo erhalten und dafür großes Leid produzieren. Sie haben Geheimnisse, die verborgen bleiben müssen und mit denen sie sich arrangiert haben. Die Klarheit, die sie ihren Kindern vorleben, ist jedoch auch für sie keineswegs so eindeutig.

So locker der Schreibstil in Luisa Saumas Debüt die augenscheinliche brasilianische Lebensfreude wiederspiegelt, so stark trifft einem das Buch, wenn man hinter die Fassade blickt und den Preis erkennt, den die Figuren zahlen müssen für ein Leben im Schein. Die überraschenden Wendungen unterstreichen nur, wir wenig wir über das Leben auf der anderen Seite des Kontinents wissen und wie sehr ein sonnenverwöhnter Strand den Blick vom Wesentlichen abzulenken vermag. Ein rundum überzeugender Roman, der einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

Selim Özdogan – Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist

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Selim Özdogan – Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist

Alex ist vom Leben frustriert: seit ihn seine Freundin verlassen hat, hat er kaum mehr Vertrauen zu anderen Menschen; sein Studium verfolgt er auch eher ziel- und begeisterungslos und außer seinen beiden Freunden Henry und Kai hat er eigentlich auch keine Sozialkontakte, so werden Alkohol und Drogen zu guten Wegbegleitern. Als er die Tramperin Esther mitnimmt, scheint plötzlich wieder die Sonne und der triste Frühling geht in einen traumhaften Sommer über. Sie belebt seine Sinne und das ganze Leben fühlt sich anders an und er sich selbst Energiegeladen. Doch es ist riskant alles auf eine Person auszurichten und so tritt ein, was eintreten muss: Esther fühlt sich bedrängt und zieht sich zurück. Für Alex bricht die Welt zusammen.

Selim Özdogans Roman bringt die typische Quarter-Life-Crisis auf den Punkt: eine Generation, die alle Möglichkeiten der Welt hat, sie aber nicht nutzen kann. Die Pubertät überlebt, nur um dann mit Anfang zwanzig in eine Depression zu stürzen, aus der man alleine nicht wieder herauskommt. Viele der Figuren haben keinen einzigen Lebensbereich wirklich im Griff und flüchten unentwegt vor der Realität, komatöse Ausfälle sind ebenso normal wie berauschende Trips.

Auch wenn das Buch mit viel Humor und Wortwitz geschrieben ist, lastet doch eine mal melancholische bis depressive Stimmung auf ihm – genau passend für den Protagonisten, dem jede Lebensenergie fehlt und der sich für nichts zu begeistern mag. Genau diese endlose Traurigkeit macht es auch für sein Umfeld unheimlich schwer, denn sie müssen ihm immer wieder animieren aktiv zu werden. Vor allem Esther überfordert diese Aufgabe und mit ihrem Rückzug stürzt sie Alex immer tiefer in den Abwärtsstrudel. Die Erwartungen der Umwelt sind hoch bzw. werden als solche wahrgenommen und man kann daran eigentlich nur scheitern:

Ich fühlte mich dem Druck ausgesetzt, etwas Besonderes geben zu müssen, von dem ich nicht genau sagen konnte, was es war. Ich war einfach unfähig, ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut, mir schien es oft so, als gehörte ich gar nicht wirklich auf diesen Planeten, als sei hier nirgendwo ein Platz für mich reserviert, ich konnte keinerlei Erwartungen erfüllen.

 

Özdogan bringt die Gefühlslage seines Protagonisten sehr gut rüber, bietet aber keine Lösungsansätze. Natürlich empfindet man ein Stück weit Mitleid mit ihm, aber ernsthafte Bemühungen, etwas an der Lage zu ändern., bleiben ebenso aus wie die Reflexion des eigenen Zustands. So wirkt Alex letztlich doch etwas spätpubertär und er kann eigentlich nur zum Anithelden werden, der als abschreckendes Beispiel dient.