Husch Josten – Eine redliche Lüge

Die Autorin Elise kehrt zurück in die Normandie, wo sie in dem Jahr, bevor die Pandemie alles veränderte, vier Monate auf der Domaine de Tourgéville von Margaux und Philippe Leclerc verbrachte. Nach Abschluss ihres Literaturstudiums noch ohne berufliche Ziele arbeitete sie als Haushaltshilfe für das schillernde Paar, das regelmäßig illustre Gäste auf das Anwesen einlud und rauschende Soireen gab. Von der ersten Begegnung ist Elise fasziniert von den beiden; obwohl schon Jahrzehnte verheiratet scheinen sie immer noch innig miteinander verbunden und haben nicht aufgehört tiefsinnige Gespräche zu führen. Gebildet und weltoffen diskutieren sie mit ihren Gästen – von hohen Bankchefs bis zum Gärtner findet sich das komplette Panoptikum der Gesellschaft – ebenso über Literatur wie über Politik oder ganz persönliche Dinge. Ein Sommer, der für Elise nie zu Ende gehen müsste, dann aber einen unerwartet dramatischen Ausgang nimmt.

„Ich möchte, hatte Margaux bei einem unserer Abendessen theatralisch bekundet, am letzten Tag eines Sommers sterben. Nun. Sie ist nicht tot.“

Husch Josten konnte mich mit ihren beiden letzten Romanen „Hier sind Drachen“ und „Land sehen“ bereits restlos begeistern, lange musste ich mich auf den nächste gedulden, doch es hat sich gelohnt. Nicht nur ist „Eine redliche Lüge“ der perfekte Begleiter für den ausklingenden Spätsommer, der sich ideal im Garten genießen lässt, sondern er lädt mit einer Vielzahl an Themen zum Nachdenken ein und begleitet einem so auch über die letzte Seite hinaus noch weiter. Die Erzählerin beobachtet als Außenstehende das Treiben, saugt das Leben und die Erfahrungen der extravaganten Gästeschar auf, die so anders sind als das biedere Elternhaus, in dem sie großgeworden ist und muss am Ende des Sommers doch erkennen, dass sie – trotz intensiven Beobachtens und Zuhörens – das Wesentliche übersehen hat.

Es wird viel geredet in dem Roman, detailliert werden die abendlichen Konversationen von Elise wiedergegeben. Sie empfindet es als vollkommenes Glück, bei der Schriftstellerin und dem Geschäftsmann verweilen zu dürfen, ahnt jedoch noch nicht, dass diese Unbeschwertheit ein jähes Ende finden wird.  Thematisch wandern die Gespräche von Untreue, der Rolle der Literatur, dem Klimawandel und Traumdeutung, über die sich in Europa ausbreitende Fremdenfeindlichkeit bis hin zu #metoo und Femiziden. Doch all dies verschwindet hinter Margaux und Philippe, die Elise auch nach Wochen noch nicht wirklich fassen kann:

„(…) wurde ich skeptisch. Warum das alles? Worüber redeten die Leute eigentlich? Und vor allem: Warum holten sich ausgerechnet Margaux und Philippe, zwei kluge, nicht oberflächliche Menschen, ein solches Panoptikum ins Haus?“

Die Gäste wollen gefallen, präsentieren sich, lechzen nach Anerkennung und Bewunderung, dabei geht unter, dass Margaux und Philippe diejenigen sind, die ihnen etwas vorspielen. Bis zum 25. August, dem letzten heißen Tag des Sommers. Langsam baut sich die Spannung auf, der Titel verrät schon, dass es ein Geheimnis gibt, das sich den Weg ans Licht bahnen wird. Es kommt jedoch nicht langsam, sondern mit einem Paukenschlag zum Vorschein.

So wie die Erzählerin von ihren Gastgebern in einen Bann gezogen wird, fesselt einem auch das Buch. Man will mehr von diesem Paar wissen, vor allem, was es mit dieser Lüge auf sich hat und welches unheilvolle Schicksal am Ende des Sommers wartet. Trotz der Spannung lässt es sich leicht in den Abendgesellschaften versinken, man hat geradezu das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen und neben den geistvollen Gesprächen auch die verführerischen französischen Speisen zu genießen.

Was kann man mehr von einem Roman erwarten, als der Eindruck, ebenfalls Gast zu sein und die Figuren nicht nur aus der Ferne zu beobachten?

Husch Josten – Land sehen

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Husch Josten – Land sehen

Horand Roth ist Professor in Bonn und nähert sich dem Leben ganz wie in seinem Beruf auch mit analytischer Klarheit. Mit Hilfe von Büchern und reiflichem Nachdenken lässt sich alles erklären und verstehen, doch als sein Onkel Georg plötzlich vor ihm steht und ihm eröffnet, Mönch in einem Orden der strenggläubigen Pius-Brüder geworden zu sein, übersteigt dies seinen geisteswissenschaftlich geprägten Horizont. Er will verstehen, wie ein so klardenkender Mensch seine geistigen Freiheiten für einen streng organisierten, extremen Orden aufgeben kann. Er geht selbst ins Kloster, liest die Bibel und beginnt zunehmend sein eigenes Dasein und seinen Glauben als Agnostiker zu hinterfragen. Doch er kommt den Beweggründen seines Onkels so nicht näher – kann er auch nicht, denn der Grund liegt ganz woanders.

Husch Jostens fünfter Roman ist eine Einladung und Herausforderung zugleich. Mit „Hier sind Drachen“, einem Roman, in dem sie bereits philosophisch die Frage nach dem Dasein in der modernen Welt gestellt hat, konnte die Autorin mich bereits begeistern und von sich überzeugen. „Land sehen“ steht dem in nichts nach, wenn auch die Thematik eine ganz andere ist. Interessanterweise hat ihr Roman wieder einen Titel mit Bezug zu Seefahrt, wenn man ihn wörtlich nimmt, im übertragenen Sinne symbolisiert er das Ende einer langen Durststrecke, ein Hoffnungszeichen, wieder eine Orientierung im Leben haben. Genau das sucht Hora, wenn er sich dessen zu Beginn auch noch nicht bewusst ist.

Gemeinsam mit dem Erzähler und Protagonisten begibt man sich in den theologischen Diskurs, der versucht den Glauben und das Gläubigsein zu ergründen. Man hat an seinen Gedankengängen Anteil, zweifelt mit ihm, findet Klarheit und Struktur. Man muss am Ende kein überzeugter Christ sein, kann aber vielleicht nachvollziehen, weshalb es andere sind; ja gerade der Zweifel und Skepsis sind es, die den Weg zum Glauben öffnen. Aber es ist nicht nur die Frage nach dem Glauben, die Hora umtreibt. Im Laufe der Handlung muss er auch seine Familiengeschichte neu schreiben und so manches in ein anderes Licht rücken. Seine Mutter mit ihrem vielfach schematisch-unflexiblen Verhalten erklärt sich plötzlich und auch sein unkonventioneller Onkel hat nachvollziehbare Beweggründe für seine Entscheidungen.

Husch Josten hat einen klaren, einerseits schnörkellosen Stil, der es ihr erlaubt, die Gedankengänge der Figuren präzise nachzuzeichnen, andererseits wirken ihre Worte poetisch und leicht, was die Lektüre trotz des nicht einfachen Inhalts zu einem Genuss macht. Es ist keine typische Sommerlektüre, die man mal eben nebenbei am Strand verschlingt. Immer wieder habe ich Sätze ein zweites, gar drittes Mal lesen müssen – doch was gibt es Schöneres, als einen Text nicht nur zu verschlingen, sondern ihn sich auch ein Stück weit zu erarbeiten und sich von ihm über die Buchseiten hinaus gedanklich begleiten zu lassen? So soll anspruchsvolle Literatur sein und nicht anders: einladen auf Gedankenexperimente, geistig herausfordern und unterhalten zugleich.

 

Ein besonderer Dank geht an den Berlin Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zur Autorin und zum Roman finden sich auf der Verlagsseite.

Husch Josten – Hier sind Drachen

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Husch Josten – Hier sind Drachen

Wieder ein Anschlag, wieder ein Job für die Journalistin Caren. Nach dem verheerenden Attentat am Abend des 13. November 2015 in Paris, macht sich die junge Reporterin auf von London in die französische Hauptstadt, um für ihre Zeitung vor Ort zu recherchieren. Anschläge wurden ihr Spezialgebiet, nachdem sie unerklärlicherweise den 11. September in New York und auch den Boston Marathon unversehrt überlebt hat. In Heathrow wartet sie auf das Boarding, doch es kommt zu einer Verzögerung.  Plötzlich wird ihr Gate umstellt, die Fluggäste sind abgesperrt und eingesperrt und eine Zwangsgemeinschaft entsteht. Caren kommt mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der die Lage mit stoischer Ruhe über sich ergehen lässt. Er liest weiterhin in Wittgensteins „Tractatus“ als wenn es die Welt um ihn herum nicht gäbe. Caren versucht mit ihrem Presseausweis etwas in Erfahrung zu bringen, doch die Mitarbeiter des Flughafens sind angespannt, also plaudert sie weiter wartend mit „Wittgenstein“ über dessen Zufallsforschung und die Frage, wie ein Journalist die eine Geschichte, die noch nie berichtet wurde, finden und erzählen kann. Und plötzlich ist sie da, die unglaubliche, nie erzählte Geschichte.

Husch Jostens Roman „Hier sind Drachen“ weckt zunächst Erwartungen, die sich völlig in sich auflösen. Der Titel, der alte Seefahrerspruch zur Kennzeichnung der noch nicht betretenen und erforschten Gebiete, lässt auf eine Reise hoffen, durchaus an einen unbekannten Ort und der Flughafen ist ein passender Ausgangspunkt. Tatsächlich verlassen wir diesen jedoch quasi nicht, fast die komplette Handlung spielt sich im Wartebereich ab. Die zweite Falschannahme ergibt sich aus der Seitenzahl, die mit 160 Seiten einen kurzes Lesevergnügen erwarten lässt. Allerdings weist der Roman eine solche inhaltliche Dichte auf, dass ein Lesen ohne Pausen für mich nicht möglich war und ich viele Passagen – insbesondere die philosophischen Gedanken der beiden Protagonisten – mehrfach lesen musste, damit mir nichts entgeht.

Es ist auch nicht einfach zu bestimmen, worum es in dem Buch eigentlich geht. Gerade durch das unerwartete Ende wird der Fokus nochmals völlig verschoben und es bleiben unzählig viele Themen und Gedankenansätze, die alle in sich wichtig und beachtenswert sind. Der Roman beginnt mit der Frage, was der Terror, wie wir ihn seit einigen Jahren in Europa erleben, mit uns als Beobachter oder gar Zeugen macht. Caren leidet zunehmend. Konnte sie die beiden Ereignisse in den USA noch erstaunlich gut durch ihren Job verarbeiten und sogar fruchtbar damit umgehen, war ihr der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo unerklärlich nahegegangen – vor allem vor dem Hintergrund, dass sie dieses nicht unmittelbar miterlebte. Niemand wird die Nachrichten dieser Horrorszenarien verfolgen können ohne nicht an einem Punkt ganz persönlich auch getroffen zu werden. Doch wie soll man als Individuum und wir als Gesellschaft damit umgehen?

Der weniger konkrete, nicht auf den unmittelbaren Alltag bezogene Aspekt, der sich durch das ganze Buch spinnt, ist die philosophische Frage nach dem Geschichtenerzählen und die Frage, ob es noch eine Geschichte geben kann, die noch nie erzählt wurde. Welcher Journalist träumt nicht davon, mit dieser einen Reportage zu Ruhm und Anerkennung zu gelangen? Doch Geschichten gab es schon lange vor dem Journalismus, das Erzählen ist so alt wie die Menschheit selbst und eines der wenigen kulturübergreifenden und –verbindenden Dinge. Doch die Geschichte lebt nicht nur von ihrem Erzähler, denn sie erhält ihren Sinn erst durch den Zuhörer oder Leser, der etwas damit anfangen kann und den Worten einen Sinn zuschreibt.

Neben diesen beiden ganz großen Themen, werden Fragen nach Werten im Leben, der Lebensgestaltung als solches und den Beziehungen aufgerissen. Mit Carens Lebensgefährten wird der Figur und damit dem Leser gnadenlos vor Augen geführt, wie wenig man manchmal seine Mitmenschen und Liebsten kennt. Nach all der Philosophiererei über Geschichten: hören wir einander zu? Und ist das, was bei uns ankommt auch das, was gesagt werden wollte?

Ein durchaus herausfordernder Roman, der dem Leser, der sich auf ihn einlässt, viel zu bieten hat und weit über die Lektüre hinaus begleitet. Der Sinn entsteht beim Lesen im Leser und Husch Josten macht ein sehr großes Angebot. Daneben bietet er sogar noch einen Plot mit Spannung und recht unerwarteten Wendungen – im Ganzen ein Roman, wie er eigentlich unmöglich zu schreiben ist.