Adolf Muschg – Heimkehr nach Fukushima

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Adolf Muschg – Heimkehr nach Fukushima

Der Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus wird von japanischen Freunden eingeladen. Er war 2011 schon einmal dort, gerade als das Unglück passierte und jetzt möchten sie, dass er mit ihnen in die verstrahlte Region rund um den Reaktor fährt, um zu schildern, wie langsam das Leben zurückkehrt. Als er in Japan ankommt, eröffnen sie ihm, dass Ken sie nicht begleitet, ein Krebs zwingt ihn zu unaufschiebbaren Untersuchungen, so begibt sich Paul mit Mitsu alleine gen Fukushima. den Geigerzähler und Schutzkleidung im Gepäck, um die Menschen vor Ort zu besuchen, die ihre Heimat zurückerobern wollen.

Adolf Muschg hat ein Thema aufgegriffen, das auf verschiedenen Ebenen Diskussionsstoff bietet und zum Nachdenken anregt. In erster Linie natürlich der Umgang des Menschen mit der Natur, wobei sich hier nicht nur die Frage nach der nuklearen Verstrahlung stellt, sondern Bebauung und auch Tiernutzung angerissen werden. Als zweites wird sehr deutlich, dass die japanische Gesellschaft gänzlich anderen Konventionen und Zwängen unterliegt, als die deutsche und so manches hier in einem solchen Katastrophenfall anders gelaufen wäre. Muschg schafft es gleichermaßen auf dieser Reise globale, partikular-gesellschaftliche und individuelle Fragen zu stellen und die Relevanz des Romans so zu unterstreichen.

Je weiter der Roman voranschreitet, desto bedrückender wird er. Die Begegnung mit den Heimkehrern bleibt nicht ohne Spuren, die Begründungen für ihr Handeln sind absurd und doch nachvollziehbar: nirgendwo ist man sicher, schon gar nicht in Japan; das Genom kann sich anpassen; der Wohnraum wird gebraucht; sie kümmern sich um die Wiederherstellung der Landschaft, eine ehrenvolle gesellschaftliche Aufgabe. Woher kommen die Arbeiter im Unglückswerk? Arbeitslose, die keine Alternativen haben und so gutes Geld verdienen können. Es regt sich kein

Widerstand, schon gar nicht gegen die Atomenergie, denn ein solches Verhalten ist in Japan nicht vorgesehen.

„Wer oder was hätte eines solchen Einsatzes, verlorene Grundlagen zu befestigen, spotten dürfen? Diese Menschen arbeiteten unermüdlich an der Herstellung der erwünschten Optik und beglaubigten sie mit Schweiß und Tränen. Fukushima war kein Potemkinsches Dorf, kein abgeschriebener Posten wie Tschernobyl, sondern eine glückliche Landschaft. Oder würde es in zwanzig Jahren wieder sein.”

Der Glaube an die Bezwingbarkeit der Natur und an die Menschheit ist groß, doch dabei wird eines vergessen:

„Aus der Geschichte nichts lernen, heißt, sie wiederholen.

Heißt es das? Geschichte wiederholt sich nie oder immer. Ganz sicher ist nur: wir lernen nichts daraus.”

Unermüdlich schafft sich der Mensch die Welt, wie sie ihm gefällt, und begeht dabei ebenso unermüdlich immer wieder den Fehler, seinen eigenen Lebensraum zu zerstören. Dann passt man sich an die neuen Gegebenheiten an, bis zur nächsten Katastrophe. Hierin unterscheiden sich die Gesellschaften kaum, das ist das globale gemeinsame Phänomen, das unseren gemeinschaftlichen Untergang vorantreibt.

Emmanuel Carrère – D’Autres Vies Que La Mienne

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Emmanuel Carrère – D’autres vies que la mienne

Es sind zwei einschneidende Erlebnisse, die den Autor Emmanuel Carrère dazu bringen, den Roman „D’autres vies que la mienne“ zu verfassen: erst erlebt er bei dem verheerenden Tsunami 2004, wie ein befreundetes Ehepaar seine Tochter verliert, dann stirbt seine Schwägerin an Krebs und hinterlässt drei kleine Töchter. Irgendwer fordert ihn auf, er sei doch Autor, weshalb schreibt er nicht die Tragödien auf, die sich vor seinen Augen abspielen? Er wird Jahre brauchen für die Aufzeichnungen, emotional ist dies sowohl für ihn wie auch für seine Gesprächspartner kein leichtes Unterfangen. Das Buch erzählt wahre Geschichten, daher auch passend der deutsche Titel: „Alles ist wahr“.

Emmanuel Carrère beginnt seinen Bericht denn mit dem tatsächlichen chronologisch passenden Ausgangspunkt in Sri Lanka 2004. Die Erlebnisse der Überlebenden gehen einem nahe. Ohne dass der Autor selbst direkt von der Welle betroffen gewesen wäre und einen geliebten Menschen verloren hätte, wird das Leid und die Trauer derer, die nicht so viel Glück hatten, doch förmlich greifbar. Man ahnt noch nicht, dass dies noch einer der leichteren Berichte im Buch sein wird.

Die Geschichte seiner Schwägerin Juliette und ihres Kollegen Étienne sind vielschichtiger und noch greifbarer. Hat der Tsunami weltweit einen Schrecken eingejagt, sind dies nun die Geschichten des Alltags, die sich um uns herum abspielen. Juliette und Étienne sind schon als junge Menschen vom Krebs getroffen und tragen offenkundige Zeichen der Krankheit mit sich. Das bringt sie einander näher, denn sie teilen ein Schicksal und können miteinander mit einer Offenheit sprechen, die sie zu keinem anderen Menschen finden. Dies gibt ihnen aber auch die Stärke, ihren Beruf als Richter in einer ganz bestimmten Weise zu verstehen und das Leben, das ihnen wieder geschenkt wurde, nützlich zu verbringen: sie kämpfen für diejenigen, die alleine für ihre Rechte nicht einstehen können.

Als sich abzeichnet, dass Juliette nicht mehr lange wird leben können, beginnt der am schwersten zu ertragende Teil des Buches. Ihr Mann Patrice berichtet von ihrem Kennenlernen, wie sie ihre Familie gegründet haben, von der Verbindung, die trotz aller Widersprüche zwischen ihnen bestand und von den schlimmen Tagen und Stunden am Ende von Juliettes Leben. Wie sich die Familie und Étienne verabschiedet haben, die Beerdigung und den drei Töchtern, die mit dem Verlust ebenfalls klarkommen müssen.

Diese Passagen gehen nicht spurlos an einem vorbei. Es ist bewundernswert, wie Carrère es schafft, die Gefühle von Patrice wiederzugeben ohne voyeuristisch zu wirken. Er schlachtet das Schicksal nicht aus, sondern findet die richtigen Worte, um der Zuneigung und gleichsam dem Schmerz Ausdruck zu verleihen.