Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Güldene Kammer Nummer 14, drittes OG rechts. Dort wohnt Familie Mohn. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve. Alles war gut, doch jetzt ist nichts mehr gut, denn Mutter Johanne fehlt und nach und nach lösen sich die Erinnerungen auf und gehen Gegenstände kaputt, die sie mit ihr verbunden hatte. Alles, was der Familie geblieben ist, sind die Tagebücher, die sie nicht lesen, sondern aus denen sie allabendlich Seiten reißen und essen. Jedes der vier Mitglieder geht anders mit der Trauer um, aber niemandem gelingt es wirklich, mit der großen Lücke, die die Abwesenheit reißt, umzugehen.

Stefanie vor Schulte macht in ihrem zweiten Roman Trauerarbeit zum zentralen Thema, bzw. eher nicht stattfindenden Trauerarbeit, denn alle Figuren in „Schlangen im Garten“ sind einfach alleingelassen mit dem Schrecken, der das plötzliche Fehlen in ihnen auslöst.

Der Vater wird apathisch, schafft es nicht, die Strukturen aufrecht zu erhalten. Micha versinkt in einer Traumwelt, Linne reagiert mit Trotz und Wut, die sich in Gewalt äußern. Steve, etwas älter als die Geschwister, versucht aufzufangen, was der Vater nicht leisten kann und leidet doch selbst auch. Die Nachbarn und Lehrer beobachten, was mit den vier passiert, doch statt zu helfen, klagen sie an, beschweren sie sich, versuchen sie zu bestrafen. Warum funktionieren sie einfach nicht mehr? So sind sie untragbar, suspekt.

Die Reaktionen der einzelnen Figuren auf den plötzlichen Tod der Mutter sind für mich gut nachvollziehbar und wirken authentisch. Jeder reagiert auf seine Weise, hat andere Bedürfnisse, gerät auf andere Weise aus der Bahn. Der gegenwärtige Glaube, dass man schon nach zwei Wochen wieder ins alte Leben zurückkehren könne, als wenn nichts geschehen wäre, ist absurd, wusste man früher doch von einem ganzen Trauerjahr, das es erfordert, um das Leben ohne einen geliebten Menschen zu gestalten. Erschreckend, wie empathielos das Umfeld reagiert, dem offensichtlich Verständnis, aber auch Mittel fehlen, um adäquat zu reagieren und mit dem umzugehen, was die Familie durchmacht.

Das Ende stimmt zwar etwas versöhnlich, aber es bleibt ein fader Beigeschmack, denn der Roman zeigt genau das auf, was heute unsere Gesellschaft prägt: niemand will wirklich damit konfrontiert werden, dass es einem anderen nicht gut geht. Alle sollen doch bitte reibungslos funktionieren und die ihnen zugewiesene Rolle ausfüllen. Ausreißer sind ein Problem fürs System, dabei würde ein wenig Zuwendung und Verständnis schon so viel bewirken können.

Sicherlich kein leichter Roman und bestimmt kein Thema, das jeder mal eben nebenbei konsumieren kann und will, aber lesenswert ist er allemal.

Danya Kukafka – Notes on an Execution / Michelle Zauner – Crying in H Mart

Danya Kukafka – Notes on an Execution / Michelle Zauner – Crying in H Mart

Zwei Bücher, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch dieselben Fragen stellen: wer bin ich? Wo komme ich her? Welchen Einfluss hat das auf meine Persönlichkeit? Könnte ich wer ganz anderes sein? Michelle Zauners Erinnerungen an ihre Mutter, die für sie ihre koreanische Seite verkörperte, bricht in einem H Mart, einem Supermarkt für asiatische Produkte, aus ihr heraus. Ist sie überhaupt noch Koreanerin, jetzt, wo die Mutter nicht mehr lebt? Danya Kukafkas Protagonist ist nur Stunden vor der Todesspritze. Er ist ein Mörder, daran besteht kein Zweifel, aber hätte er nicht auch etwas Anderes werden können, wenn die Situation seiner Eltern und Kindheit nicht so gewesen wäre, wie sie war?

„Crying in H Mart“ ist nicht nur die Aufarbeitung des Verlustes, sondern vor allem, die Reflexion darüber, wie sehr die beiden Eltern mit ihren unterschiedlichen Kulturen die Tochter geprägt haben. Es sind vor allem die verschiedenen Lebensmittel, mit denen Zauner ihre Mutter verbindet, das typische Essen, das plötzlich fehlt, als die Mutter nicht mehr da ist und sie realisiert, dass sie nie gelernt hat, dieses selbst zu kochen. Es wird ihr auch klar, wie wenig sie die Mutter kannte und verstand, vieles blieb in den USA verborgen, was in der koreanischen Heimat bei Besuchen so selbstverständlich war. Es ist daher nicht nur der Verlust eines geliebten Menschen, sondern ein ganzer Teil ihrer Persönlichkeit, der mit dem Tod aus ihr herausgerissen zu sein scheint.

Danya Kukafka lässt in den Leser an Ansel Packers letzten Gedanken teilhaben, während parallel im Rückblick die Ermittlungen zu den Morden an drei jungen Frauen geschildert werden. „Notes on an Execution“ zeigt den Mörder nicht nur als Monster, sondern zunächst als Kind in einer gewalttätigen Familie, seine Mutter meint es gut, als sie dafür sorgt, dass die Polizei die beiden Söhne herausholt, doch für Ansel reißt das ein emotionales Loch, eine Leere, die er nicht mehr füllen kann, die auch die extremen Erfahrungen von Mord nicht füllen können. Ansel ist nicht nur das Monster, sondern wird geradezu charismatisch geschildert – wenn er andere Entscheidungen getroffen hätte, säße er nun nicht im Todestrakt mit tickender Uhr.

Zwei völlig verschiedene Bücher und doch teilen sie die zentralen Fragen, die einem auch als Leser nicht loslassen. Beide sind emotional herausfordernd, Zauner, weil sie detailliert die letzten Monate der Krebserkrankung der Mutter schildert, das langsame dahinvegetieren bis zum letzten Tag, Kukafka, weil sie den Mörder eben nicht nur einseitig schildert, sondern nahelegt, dass es nicht notwendigerweise zu diesen Taten hätte kommen müssen und nicht nur der Täter selbst Schuld auf sich geladen hat.

Matt Haig – Der fürsorgliche Mr Cave

Matt Haig – Der fürsorgliche Mr Cave

Der Antiquitätenhändler Terence Cave will nur seine Familie beschützen, was bislang nicht gut gelungen ist. Seine Mutter hat sich das Leben genommen und obwohl er damals noch ein Kleinkind war, suchte er die Schuld bei sich. Auch seine Frau kam ums Leben, weil er passiv war und sie nicht beschützt hat. Und nun Reuben, sein Sohn und Zwillingsbruder von Bryony, die einzige, die ihm noch geblieben ist. Doch aus dem wohlerzogenen Mädchen wird ein Teenager und ihr setzen die Verluste ebenfalls zu. Terence sieht rot, vor allem als sich seine Tochter sich mit Denny einlässt, einem Boxer, der dabei war, als eine ganze Gruppe von Jungs Reuben in den Tod betrieben haben. Die Lage spitzt sich zu zwischen Vater und Tochter, je mehr er beschützen will, desto stärker ihre Gegenwehr, bis es zu gänzlichen Eskalation kommt.

„Der fürsorgliche Mr Cave“ ist Matt Haigs dritter Roman, der im Original schon 2008 erschien, jetzt jedoch erst ins Deutsche übersetzt wurde. Haben seine hier bekannten und erfolgreichen Romane häufig spekulative und magische Elemente, wirkt dieser geradezu ernsthaft, wobei auch der Protagonist unter Halluzinationen und realistischen Träumen leidet, die sich jedoch durch seine Traumatisierung durch die Verluste, die er nicht verarbeitet hat, erklären lassen. Der Roman ist das Vermächtnis eines verzweifelten Menschen, der das Beste wollte und das Schlimmste angerichtet hat.

Zunächst weiß man nicht genau, an wen sich Terence Cave in seinem langen Brief richtet, bald schon wird jedoch klar, dass es seine Tochter sein muss, der er sich und seine Sicht erklären will. Es ist offenkundig, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, dass es zu dieser für den Erzähler schmerzhaften Reflexion seines eigenen Handelns gekommen ist. Er hat Fehler gemacht, viele, mit schwerwiegenden Folgen, die er nun nicht mehr leugnet. Seine Intentionen waren gut, aber ach, die Mittel, die Borniertheit, der Tunnelblick, all das hat ihn daran gehindert auf seine Schwiegermutter zu hören und anders mit Bryony umzugehen.

Immer mehr steigert sich Mr Cave in etwas hinein, obsessiv versucht er Bryony das kleine Mädchen sein zu lassen, dass Cello und Hockey spielt und auf den Vater hört. Das Mädchen, das nicht aufbegehrt und keine Probleme macht, ganz anders wie ihr Bruder. Im Unterschied der Geschwister lag der Ausgang allen Unglücks.

Mr Cave ist ein klassischer tragischer Held, der in einem Alptraum gefangen ist, aus dem er sich und seine Tochter nicht befreien kann. Eine Tragödie durch und durch, wobei man sich – bei allen nachvollziehbaren Argumenten – nicht mit Cave identifiziert und somit trotz der gewählten Perspektive immer eine Distanz zwischen Leser und Text bleibt.

Richard Powers – Erstaunen

Richard Powers – Erstaunen

Robin war immer schon anders als andere Kinder, was seine Eltern Theo und Alyssa jedoch nicht gestört hat. Doch seitdem die Mutter bei einem Unfall tödlich verunglückte, nehmen Robins Konflikte mit den Mitschülern zu, werden gewalttätiger und die Schulleitung setzt Theo unter Druck: er soll dem Jungen endlich Psychopharmaka verabreichen und ihn ruhigstellen. Doch der Astrobiologe traut den Diagnosen nicht: Autismus, Depression, ADHS – die Ärzte sind sich ja auch nicht einig. Er erinnert sich an ein Neurostimulanzverfahren, an dem er und Alyssa einst als Probanden teilgenommen hatten, vielleicht kann das dem Jungen ja helfen, besser mit anderen Menschen umzugehen. Denn eigentlich ist er ein aufgeweckter kleiner Mensch, der die Natur mit allen Sinnen aufsaugt und eins wird mit der Pflanzen- und Tierwelt und verstanden hat, dass der Mensch gerade dabei ist, all die Schönheit um uns herum zu zerstören.

Richard Powers Roman steht auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und auf der Longlist für den National Book Award, was man schon nach nur wenigen Seiten gut nachvollziehen kann. „Erstaunen“ lädt den Leser ein, die Welt mit neuen Augen zu sehen, sich zu wundern über das, was die Natur geschaffen hat, was um uns herum geschieht und diesen Schatz zu erkennen, den wir im Alltag allzu leicht übersehen. Es ist eine Hommage an die Schöpfung, nichts Geringeres und eine Anklage an die Menschheit, wie sie mit ihr umgeht. Selten wurde dieses Thema literarisch so überzeugend umgesetzt.

Den Hintergrund der Geschichte liefert das außergewöhnliche Vater-Sohn-Duo. Theo weiß um die Besonderheit und die Probleme seines Jungen, aber er und seine Frau habe gelernt damit umzugehen, wissen, wie sie ihn ansprechen und beruhigen können. Leicht ist es nicht, aber Robins Blick auf die Welt, sein unstillbarer Wissensdurst, wenn es um die Lebewesen geht, entschädigt für all die Sorgen. Beide haben den Verlust der Partnerin und Mutter nicht verkraftet, doch die Beobachtung der Natur, die Alyssa so am Herzen lag und für die sie unermüdlich gekämpft hat, bringen sie ihr und ihrer Überzeugung ein Stück näher.

Es ist kein leichter Schritt, in die Gehirnfunktion eines Kindes einzugreifen, doch scheinbar gibt das Verfahren den Entwicklern recht. Robin lernt, sich und seine Emotionen besser zu kontrollieren, sein Gehirn und seine Gedanken zu steuern und eine neutralere Haltung gegenüber den Menschen, die ihn vorher in Rage versetzt haben, einzunehmen. Doch die Wissenschaft will immer weitergehen und ein Vorschlag des Untersuchungsteams bringt noch eine ganz neue Facette ins Spiel, die jedoch Theos Grenzen herausfordert.

Auch wenn man nur mäßiges Interesse für Vögel oder das Universum mitbringt, kann der Autor mit seinen Beschreibungen und Erklärungen faszinieren. Er transferiert das, was den jungen Robin beeindruckt, sein Entdecken dieses wundersamen Planeten und des Weltalls, in außergewöhnlicher Weise in eine Geschichte, die eigentlich vor allem um bedingungslose Liebe geht. Bedingungslos zwischen Vater und Sohn, bedingungslos zwischen Robin und der nichtmenschlichen Welt, der er sich zunehmend näher fühlt als seiner eigenen Spezies. Ein in jeder Hinsicht herausragender Roman, der auch nachdenklich stimmt und einem nicht sofort loslässt.

Sandro Veronesi – Der Kolibri

Sandro Veronesi – Der Kolibri

Alle nannten ihn nur Kolibri, weil er viel kleiner war als alle anderen Jungs und filigran; erst eine riskante Therapie konnte das Wachstum des Teenagers beschleunigen und als Erwachsener ist der Augenarzt Marco Carrera zu einer normalen Körpergröße gelangt. Das Gefühl anders, ein Außenseiter, der erst als letzter in die Mannschaft gewählt wird, zu sein, konnte er jedoch nie ganz ablegen, ebenso wie eine besondere Sensibilität, weshalb auch nur er verstehen kann, weshalb sich seine kleine Tochter Adele einbildet, einen Faden in ihrem Rücken zu haben. Sein Leben ist voller emotionaler Begegnungen und außergewöhnlicher Menschen, mit denen er Verbindungen aufbaut, die mal enger mal lockerer sind, die jedoch nie abreißen und ihn durch alle Unwägbarkeiten des Daseins begleiten.

Sandro Veronesis Roman wurde mit dem renommierten Premio Strega ausgezeichnet, eine Ehre, die der poetischen und dichten Sprache Rechnung trägt. Es ist keine chronologische Erzählung eines Lebens, sondern ein Kaleidoskop verschiedener Momente, Briefe wie Gesprächsdokumente, die immer wieder zeitlich, räumlich und auch bezogen auf die Figuren springen und einem scheinbar unbewussten Bewusstseins- oder Erinnerungsstrom folgen, der erst im Rückblick und der Gesamtschau ein klares Bild ergibt. „Der Kolibri“ ist einer dieser ganz langsamen Romane, die man immer wieder weglegen muss, um sie wirken zu lassen und nicht überfordert zu werden von ihrer Intensität.

Was sofort ins Auge sticht, ist die Gabe des Autors für präzise Beobachtung und den Transfer von kleinen Momenten in durchdringende Sprache. Kein Kapitel gleicht dem anderen, die unterschiedlichen Textsorten allein schon verhindern eine Gleichförmigkeit und doch gibt es rote Fäden, die sich durch sie hindurchziehen und verbinden.

Den Figuren ist die glückliche Liebe vergönnt. Schon Marcos Eltern sind mehr durch das Unglücklichsein miteinander verbunden als durch Zuneigung. Der junge Marco verliebt sich in Luisa, doch ihnen ist keine Zukunft über ihren Briefwechsel hinaus vergönnt. Die Ehe mit seiner Frau hält auch nur kurz, einzig seine Liebe zur Tochter und später zur Enkelin ist von Dauer. Die Frauen insbesondere scheinen unter keinen guten Sternen geboren zu sein, auch die psychoanalytische Betrachtung hilft ihnen nicht das Leben zu führen, von dem sie träumen. Immer wieder legt es auch das Schicksal darauf an, Marcos Leben frühzeitig zu beenden, doch dem kann er mal clever mal glücklich ein Schnippchen schlagen, bis dann doch sein letzter Tag auf Erden gekommen ist.

Eine Familiengeschichte, die ihresgleichen sucht, denn es geht nicht um ein Leben, eine Familie, sondern um das, was bleibt, wenn ein Mensch mal nicht mehr ist und auch, wie man seine Familie jenseits von genetischer Zusammengehörigkeit finden kann, um sie zu versammeln, wenn man sie braucht.

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Nach dem Tod seines älteren Bruders zieht Marc zu seiner Schwägerin Diana, die bereits wiederholt versucht hatte sich das Leben zu nehmen. Sie haben sich einigermaßen eingerichtet, als Marc unerwartet eines Morgens am Strand mehrere Kokainpäckchen findet, ausgerechnet jetzt, wo er den harten Drogen entsagt und sich ganz auf Alkohol eingestellt hat. Er wittert jedoch ein gutes Geschäft und wendet sich an Joël, Dianas Bruder, mit dem sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr spricht, der jedoch für Marc einen Abnehmer wird finden können. Keiner der drei ist psychisch stabil, alle haben sie mit ihren ganz eigenen Dämonen zu kämpfen und das fragile Gleichgewicht, das sie in Sicherheit wähnt, gerät bald ins Schwanken und droht sie in den Abgrund zu reißen.

„Das ist, wie wenn. man Aspirin mit auf eine Reise nimmt, erklärte er und hielt ihm die Waffe hin, nur für den Fall dass.“

Philippe Dijan zeichnet in seinem Roman Figuren am Rande des Wahnsinns. Die Schicksalsschläge, die sie erleben, bringen sie an die Grenzen dessen, was sie aushalten können. Neigungen zu Suizid, Betäubungsmitteln aller Art und vor allem Aggressionen sind eine schlechte Grundlage, um den nächsten Schlag auch noch aushalten zu können. Und so geschieht das, was zwangsweise geschehen muss: die Lage eskaliert und man kann nur zusehen, wie sie sich immer weiter ins Nichts stürzen und völlig blind agieren.

Es ist das Psychogramm des verzweifelten Deliriums. Diana hat den Verlust Patricks nicht verarbeitet, im Leben und der Arbeit als Zahnärztin sieht sie keinen Sinn mehr. Auch ihre Affäre mit Serge, Sohn des Bürgermeisters und notorischer Fremdgeher, bleibt eher emotionslos und nur physisch befriedigend, wobei auch das nicht immer. Gleichmütig betrachtet sie, was mit um sie herum geschieht, ohne dies wirklich wahrzunehmen.

Joël hat ebenfalls jede Kontrolle verloren und geht im Rausch weit über das hinaus, was mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar ist, nur um dann zutiefst zu bereuen. Für Serge sind die Frauen, die er exzessiv sammelt, die Drogen der Wahl und das, obwohl er seine Ehefrau und Kinder eigentlich liebt.

Marc steht zwischen den Stühlen, auch er oft unkontrolliert und zu schnell Hochprozentigem zusagend bleibt letztlich doch noch die Figur mit der meisten Kontrolle und auch derjenige, der als einziger erkennt, wie sich alle um ihn herum völlig verloren haben.

Dijans Figuren sind oft jenseits des Spektrums des Erträglichen, auch „Die Ruchlosen“ überschreiten alle Grenzen, wobei man jedoch tatsächlich nachvollziehen kann, weshalb dies geschieht und es einen nicht wirklich wundert, wie ihnen alles entgleitet. Kein leichter Sommerroman, sondern harte Realität verzweifelter Menschen, denen jeder Lebenssinn abhandengekommen ist.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Roman finden sich auf der Verlagsseite.

Ilia Vasella – Windstill

Ilia Vasella – Windstill

Das heruntergekommene Schloss in Südfrankreich beherbergt auch in diesem heißen Sommer wieder eine bunte Schar von Gästen. Franz und Marie kommen schon seit Jahren in die Herberge des Künstlers Pierre, dessen Malerei sie schätzen. Dorothea und Mauro sind mit ihren Kindern Rosa und Emil zum ersten Mal Gast. Auch Stephan und seine Tochter Lara bewohnen eines der Zimmer, ebenso wie Nick, der schon fast zu den Erwachsenen zählt, aber seiner schlechten Französischkenntnisse dort den Sommer verbringen soll. Odile geht im Winter mit ihrer Band auf Tour, den Rest des Jahres bewohnt sie hintere Zimmer des Anwesens. An einem Morgen wie jedem anderen auch ist ein Teil der Urlauber schon wach und auf der Terrasse beim Frühstück als das völlig Unerwartete geschieht: Marie will nur die getrocknete Wäsche holen, rutsch aus, schlägt mit Kopf auf und ist sofort tot. Alles gerät aus dem Ruder, nichts geht mehr seinen normalen Gang.

Ilia Vasella ist visuelle Gestalterin und lehrt an der Kunsthochschule Zürich, „Windstill“ ist ihr erster Roman, der wie ein Gemälde auch, einen Moment im Leben festhält und mit allen Details ausgestaltet. Der Blick der Künstlerin zeigt sich auch in der Geschichte, jede Ecke wird ausgelotet, kein noch so kleiner Fleck ist unbedeutend. Sie beschreibt nur einen einzigen Tag, an dem scheinbar die Zeit für die Figuren stehenbleibt. Im Allgemeinen messe ich Buchcovern keine große Bedeutung bei, in diesem Fall jedoch ist auffällig, wie stimmig es zum Text passt, dass es genau jene unheilvolle Ausgangsszene malerisch darstellt: die Terrasse, der Wäschekorb, die intensiven Farben Südfrankreichs.

Was macht so ein Ereignis mit den Menschen? Wie reagieren sie? In Zeitlupe hält die Autorin dies fest. Die Schreckstarre, in die Franz verfällt, der es nicht fassen kann, immer wieder eingeholt wird von Erinnerungen an all jene Momente mit seiner Frau und der froh ist, dass andere das Handeln für ihn übernehmen. Odile gehört zu diesen pragmatischen Menschen, sie scheint zu wissen, was zu tun ist, wie man mit dem Tod umgeht, wie man den Leichnam immer noch menschlich behandelt. Die Kinder sollen von der Tragik des Lebens ferngehalten werden, merken jedoch, dass etwas geschieht, sind neugierig, haben noch nie einen toten Menschen gesehen. Und die Erwachsenen werden mit dem konfrontiert, was sie verdrängen wollen, der Endlichkeit des eigenen Seins, dem Wissen, dass von einer auf die nächste Sekunde alles vorbei sein kann.

Ein intensives Leseereignis, das unheimlich dicht ist und förmlich in einen hineinkriecht. Eine oberflächliche Lektüre ist gar nicht möglich, man verlangsamt automatisch und erfasst so jede Sekunde des folgenschweren Tages und fragt sich auch selbst, wie man wohl agiert hätte, ob man vorbereitet ist, auf das Undenkbare.

Polly Samson – Sommer der Träumer

Polly Samson – Sommer der Träumer

Nach dem Tod der Mutter flüchtet die junge Erica mit ihrem Bruder Bobby vor den Wutausbrüchen des Vaters aus London auf die griechische Insel Hydra. Dort hofft sie auch mehr über ihre Mutter zu erfahren, denn deren ehemals beste Freundin Charmian lebt dort und hatte sie eingeladen. Sie ist es auch, die das Mädchen in die Gemeinschaft von Schriftstellern, Malern und Musikern einführt, die dort ein unbeschwertes Leben der Bohemians führen und alle hoffen, dass sie von der Muse geküsst werden und das nächste große Meisterwerk verfassen.

Polly Samson ist mit dem Pink Floyd Sänger David Gilmour verheiratet und hat für die Band an unzähligen Liedtexten mitgearbeitet. In „Sommer der Träumer“ lässt sie eine Reihe von bekannten Künstlern erscheinen, unter anderem Leonard Cohen und seine norwegische Muse Marianne Ihlen. die Insel ist nicht nur klein, sondern 1960 auch noch ohne Strom, was das Leben reduziert und unweigerlich auch die zwischenmenschlichen Emotionen in den Fokus rückt.

Erica kommt als naive junge Frau zu der bunten Community, sie ist nicht nur unerfahren, sondern auch bezogen auf ihr Leben und ihre Zukunft planlos und zudem durch den Verlust der Mutter schwer getroffen. Sie beobachtet und bewundert das unbeschwerte Leben das voller Drogen und Sex, das aber auch von Gewalt geprägt ist und in dem insbesondere die Frauen weniger als eigenständige Künstlerinnen wahrgenommen werden, denn als willfährige Partnerinnen, die den Launen der leidenden Künstler ausgesetzt sind.

Leider hat mich der Roman nicht wirklich erreicht. Ich fand Ericas Verzweiflung in London nach dem Verlust der Mutter noch gut greifbar und berührend, auf der Insel jedoch dominieren andere Charaktere und sie wird zunehmend in die Rolle der Beobachterin gedrängt. Das Mysterium um ihre Mutter trägt auch nur bedingt zum Spannungsaufbau. An dem Titel reizte mich vor allem die Atmosphäre der kleinen Insel, auf der kreative Menschen sich ganz dem künstlerischen Schaffen widmen – leider sind es aber eher Beziehungsprobleme und Gewaltausbrüche, die die Tage prägen. Insgesamt durchaus leicht zu lesen, aber leider weit hinter den Erwartungen geblieben.

Benedict Wells – Hard Land

Benedict Wells – Hard Land

Es ist der Sommer seines Lebens. Der Sommer 1985, in dem er 16 wird, endlich Freunde findet und in dem seine Mutter stirbt. Sam gilt als schräger Außenseiter, der schon immer zur Psychologin musste. Als seine Eltern ihn über Sommer zu den Cousins schicken wollen, protestiert er und sucht sich kurzerhand einen Ferienjob, um zu Hause bleiben zu können. Im Kino trifft er auf ein seltsames Trio: Kirstie, die Tochter des Besitzers, für die es keine Grenzen zu geben scheint und in die er sich direkt verliebt; Film-Nerd Cameron und der lokale Sport-Star Brandon „Hightower“, der durch sein Aussehen beeindruckt, ansonsten aber eher ruhig und zurückhaltend ist. Alle drei haben gerade die Schule beendet und planen im Herbst Grady zu verlassen. Die Kleinstadt in Missouri hat nichts zu bieten außer einem berühmten Autor, dessen Buch „Hard Land“ regelmäßig alle Schüler lesen müssen und doch nie verstehen. Es sind nur 11 Wochen, doch es sind die entscheidenden für Sam, denn am Ende ist er nicht mehr der schüchterne Junge, der er am Anfang war.

Benedict Wells hat sich spätestens mit dem vielfach ausgezeichneten „Vom Ende der Einsamkeit“ in die vorderste Reihe der deutschsprachigen Autoren geschrieben, auch sein 6. Roman „Hard Land“ erzählt wieder eine Geschichte vom Erwachsenwerden und vom Verlust eines geliebten Menschen. Emotional zwischen unbeschwerten Höhenflügen der Jugend und tiefster Verzweiflung ob des Verlusts der Mutter angesiedelt, ist das Lesen einmal mehr eine Achterbahn der Gefühle, die man jedoch nicht nur gerne fährt, sondern am Ende mit schlackernden Beinen aber euphorisiert verlässt.

„da vergaß ich die Zeit und ließ mich mitreißen, und ich fühlte mich so, wie ich mich schon mein ganzes Leben lang fühlen wollte: übermütig und wach und mittendrin und unsterblich.“

Es ist genau dieses Gefühl, dessen Beschreibung Wells seinem Protagonisten in den Mund lebt, das den Roman zunächst dominiert. Sam lebt durch seine Kino-Kollegen auf, traut sich plötzlich Dinge, die er sich nie hätte ausmalen können, merkt, dass auch andere Unzulänglichkeiten und manchmal Angst haben und dennoch auch unbeschwert und ausgelassen sein können. Vor allem Kirstie weckt ihn regelrecht auf und nimmt sich des Jungen an. Atmosphärisch tief in den 80ern verankert – mit Mixtapes mit INXS und ELO, in langwierigem Warten vorm Radio aufgenommen, bis der Moderator endlich mal nicht reinquatscht – erlebt Sam genau jenen Sommer mit seinen Freunden, den man einem Jugendlichen wünscht. Immer wieder schauen sie „Zurück in die Zukunft“ und glauben mit Marty McFly, dass alles möglich ist.

„(…) als wir dachten, wir bewegen vielleicht wirklich was …  diese fast lächerliche Unbeschwertheit. Es war nie wieder so toll, nicht mal, als es danach richtig toll war.“

Sams Schwester erkennt rückblickend, dass das verhasste Kleinstadtleben doch nicht so schlecht war, auch wenn sie inzwischen in Hollywood erfolgreich ist. Das langsam aussterbende Grady, das in dem fiktiven Roman „Hard Land“ auch die zentrale Rolle spielt. Wells nutzt hier das Spiel mit dem Roman im Roman, immer wieder liest Sam in dieser verschlüsselten Geschichte über das Erwachsenwerden, deren Sinn er jedoch nicht erfassen kann, obwohl er genau das gerade erlebt, was dort beschrieben wird.

Die Stimmung schlägt mit dem Tod der Mutter notwendigerweise um und genauso wie der Protagonist durchlebt man auch als Leser den Verlust und das Gefühl von der Trauer übermannt zu werden. Für Sam endet die Unbeschwertheit abrupt und zu früh, aber auch das gehört zum Erwachsenwerden.

Wie erwartet einmal mehr große Gefühle bei Benedict Wells, die einem mitreißen und nochmals in jede Zeit versetzen.

Frank Witzel – Inniger Schiffbruch

Frank Witzel – Inniger Schiffbruch

Nach dem Tod seines Vaters fällt der Autor in ein mentales Loch, weder Schreiben noch Lesen will ihm gelingen, obwohl er sich seines eigenen Gefühlslebens noch gar nicht sicher ist und nicht im eigentlichen Sinne trauerte. Er macht sich an den Nachlass, der sofort Erinnerungen an die Kindheit hervorruft. Der Mann, der auch zu Hause Hemd und Anzug trug, gegen den er jahrelang rebellierte, von dem er sich weit entfernt hatte und den er nun versucht zu ergründen. Minutiöse Tagebücher und Kalendereinträge helfen ihm das Leben des Kirchenmusikers zu rekonstruieren. Er zieht Parallelen zu den Biografien berühmter Künstler und ist immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Leben innerhalb derselben Generation doch gleichen. Die Mutter, die bereits einige Jahre zuvor verstorben war, bleibt ihm aber immer noch fremd als erwachsene Frau jenseits der Mutterrolle, dabei hätte diese Frau vermutlich sehr viel erzählen können.

„Krankheit, Alter, Tod, dachte ich, als wir in den Aufenthaltsraum zurückkamen. Im Grunde konnte man niemandem einen Vorwurf machen. Es war der sogenannte Lauf der Dinge, wobei es gerade die Dinge waren, die relativ stabil blieben, während der Mensch langsam zwischen ihnen verschwand.“

Der Titel der als „Roman“ deklarierten Spurensuche ist zunächst sperrig, erhellt sich aber im Laufe des Lesens und wird immer klarer. Das tiefe Gefühl, Schiffbruch erlitten zu haben nachdem beide Elternteile nicht mehr da sind, ist überwältigend und nur er allein kann einen Weg wieder in sichere Gewässer und ans Festland finden. Während man dieser Mammutaufgabe folgt, fragt man sich jedoch schon, inwieweit die Erzählung reale Autobiografie und inwieweit reine Fiktion ist, die Trennlinie ist hier mehr als verschwommen. Zugegebenermaßen erscheint mir daher die Nominierung auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis auch etwas irritierend.

Anekdotisch werden die Kindheits- und Jugenderinnerungen präsentiert, die auch beim Leser ähnliches wachrufen dürften, interessant auch die Beschreibungen Wiesbadens aus seiner Kindheit, vor allem, wenn man die Biebricher Örtlichkeiten heute kennt. Das sich Annähern an die Menschen, die eigentlich so vertraut sein sollten und dennoch in weiten Teilen unbekannt geblieben sind, gelingt trotz des traurigen Anlasses und hat auch einen gewissen Unterhaltungswert.

Witzel wählt eine ganz andere Herangehensweise an das Thema als Zsuzsa Bánk, deren kürzlich erschienener Roman „Sterben im Sommer“ dieselbe Thematik aufgreift. Letztere hat mich jedoch insgesamt deutlich mehr überzeugen können; die emotionale Überwältigung ob des Verlusts kommt bei der Autorin glaubhaft rüber, Witzel bleibt mir zu distanziert und analytisch, um seinen scheinbaren Ausnahmezustand wirklich glaubwürdig zu transportieren.