Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es scheint die Ursache für alles Unglücks ihres Vaters zu sein. Ein Mann, der sich immer für Großes geboren sah und seiner Frau die Schuld dafür gab, dass er nicht befördert wurde, nicht über so viel Geld und Bildung wie sie verfügte, im Dorf nicht so anerkannt war, wie er sich das gewünscht hätte. Aber wie sollte er das auch erreichen, mit einer dicken, nicht präsentablen Frau an seiner Seite? Als Erwachsene Blickt Ela zurück, spricht endlich mit ihrer Mutter über das Jahrzehnte lange Martyrium, das diese stoisch ertragen hat und mit ihrer Gesundheit bezahlte.

Zugegebenermaßen hat mich erst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022 so richtig neugierig auf „Lügen über meine Mutter“ gemacht. Die rheinland-pfälzische Provinz als Schauplatz fand ich eher wenig attraktiv, kenne ich sie doch zur Genüge und weiß um den Horror, der Dorfleben bedeutet. Daniela Dröscher verdichtet den Roman jedoch, die Handlung spielt sich weitgehend im Nukleus der Familie, den eigenen vier Wänden ab, die zur Kampfarena zwischen den Eltern werden mit einem Kind, das zu jung ist, um die Mechanismen des innerfamiliären Krieges zu verstehen. Eine schonungslose Milieustudie, die letztlich das Portrait einer ganzen Generation von Frauen ist.

Als Erwachsene stellt die Erzählerin fest, dass sie ihre Mutter nie verstanden hat und beginnt endlich, mit ihr über die Erinnerungen zu reden. Episoden aus der Kindheit wechseln sich so mit Analysen ab und ordnen den ganzen Schrecken ein, den die Mutter widerspruchslos zum Wohle der Töchter ertragen hat. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass der Vater versucht seine Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, indem er die Mutter klein macht. Als Schlesiendeutsche ist sie keine richtige Deutsche, sie spricht ja nicht einmal den richtigen Dialekt! Das Geld ihrer Familie kann nur illegal erworben sein, Verbrecher müssen sie sein, nie kann man durch ehrliche Arbeit so vermögend werden. Ihre Bildung? Sie will doch nur angeben, das sind gar keine richtigen Diplome die sie hat.

Endlos ist die Liste der Angriffspunkte, zentral wird jedoch immer wieder ihr Gewicht. Vieles kann der Mann kontrollieren, wohin sie geht, wofür das Geld ausgegeben wird, aber ihr Gewicht unterliegt trotz aller Bemühungen – öffentliches Wiegen und Notieren der Zahl in einem Buch! – nicht seiner Macht. Alle Schikanen erträgt sie, frisst alles in wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein und kümmert sich doch selbstlos um alle anderen um sie herum.

Es ist beim Lesen oftmals fast unmöglich auszuhalten, was Elas Mutter an psychischer Gewalt angetan wird und man fragt sich, weshalb sie nicht ausbricht, nicht einfach geht. Und zugleich weiß man, dass es so einfach nicht ist und erinnert sich, wie viele dieser kleingeistigen Männer man selbst erlebt hat, die sich für etwas Besseres hielten, wenn sie im ballonseidenen Jogginganzug mit dem Cabrio vorm dörflichen Tennisplatz vorfuhren und sich für den König der Provinz hielten und dabei doch nur alle Peinlichkeit zur Schau trugen.

Was in den 80ern als völlig normales Familienleben erschienen sein mag, würde man heute ganz anders einordnen, wie es die Erzählerin auch tut und womit sie ein Licht auf eine ganze Generation von Frauen wirft, die von ihren Müttern noch zum Schweigen erzogen wurden, ihren eigenen Töchtern jedoch Stimmen mit auf den weg gegeben haben.

Auch sprachlich bietet der Roman viele interessanten Facetten, weshalb er für mich ganz eindeutig ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis wäre, vor allem, um dem Thema die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken.

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