Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Schon seit langem gibt es keine Wölfe mehr in Schottland, die Menschen haben sie ausgerottet ohne zu bedenken, was dies für das Gleichgewicht der Natur bedeutet. Inti Flynn kommt mit einem Forschungsteam in die Highlands, um ein Rudel auszuwildern. Aber das ist nicht der einzige Grund, der sie in die Abgeschiedenheit bringt, es ist auch eine Flucht vor den Ereignissen in Alaska, von denen sich ihre Zwillingsschwester kaum mehr erholt hat und nun in sich gekehrt nichts mehr von dem lebensfrohen Wesen mehr hat, das sie einst war. Schon immer waren die Schwestern unzertrennlich und von ihrem Vater haben sie die Liebe zur Natur und den Tieren kennengelernt. Doch nicht nur das macht sie besonders, Inti leidet an Mirror-Touch-Synästhesie, wodurch sie das, was sie sieht, auch unmittelbar empfindet und dadurch eine ganz besondere Verbindung zu anderen Lebewesen aufbauen kann. Doch auch die besten Absichten können sie nicht vor dem Hass der lokalen Bevölkerung schützen, die nur wenig Verständnis für die Ansiedelung der Raubtiere aufbringen.

Die Zerstörung ihres eigenen Lebensraums, der rücksichtlose Umgang der Menschen mit der Natur und dem Planeten hat die australische Autorin Charlotte McConaghy zum zentralen Thema ihrer Romane gemacht. „Wo die Wölfe sind“ greift dieses auf, indem der Roman zeigt, dass es eben nicht ohne Folgen bleibt, wenn man eine Spezies ausrottet. Zugleich ist es auch eine feministische Geschichte, die unterstreicht, dass die eigentliche Gefahr für die Menschen nicht von der wilden Natur ausgeht, sondern von ihren eigenen Artgenossen, mit denen genauso brutal und unbarmherzig umgegangen wird wie mit allen anderen Lebewesen.

Die Naturverbundenheit der Protagonistin fasziniert von der ersten Seite an, sie kann Tiere wie Pflanzen lesen, etwas, das wir durch die Zivilisation weitgehend verlernt haben. Die Natur ist ein komplexes Zusammenspiel, das sich über Jahrtausende entwickelt hat und erst durch den Menschen aus der Balance geraten ist. Der Vater, der versucht im Einklang mit ihr zu leben und nicht so zerstörerisch zu wirken wie seine Mitmenschen, muss scheitern und verzweifeln, der Schaden, den wir angerichtet haben, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Inti hingegen fokussiert auf das, was sie tun kann, doch die irre Wolfsfrau findet wenig Gehör, wie viele, die warnend die Stimme erheben.

Der zweite zentrale Aspekt wird zunächst durch die Arbeit der Mutter der beiden Zwillinge eingeführt, die Gewaltverbrechen an Frauen aufklärt und ihren Töchtern schon früh versucht aufzuzeigen, wo die tatsächliche Gefahr lauert: in den eigenen vier Wänden. In verschiedenen Facetten taucht häusliche Gewalt auf und bildet damit den Gegensatz zu den vermeintlich gefährlichen Raubtieren, die sich jedoch in ihrem Rudel gänzlich anders verhalten als die Familienmenschen.

Die Geschichte sprudelt nur so vor Faszination des Lebens außerhalb der menschlichen Sphäre und führt dem Leser vor Augen, was er alles nicht sieht und was ihm entgeht. Dass es gerade die Menschen sind, die sich gänzlich unzivilisiert verhalten, sollte noch mehr die vermeintliche Überlegenheit unserer Spezies infrage stellen. Dass wir uns die eigene Lebensgrundlage entziehen, ist noch nicht absurd genug, wir fügen uns auch gegenseitig unendlichen Schmerz und Leid zu. Ein Buch, das tiefe Emotionen weckt und einem mit gemischten Gefühlen zurücklässt.

Dave Eggers – Die Parade

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Dave Eggers – Die Parade

Ein unbenanntes Land, kurz nach dem Krieg, der den Norden und Süden verfeindet hatte. Nun soll eine Straße die beiden Landesteile verbinden und wieder vereinen. Zwei Arbeiter einer ausländischen Firma werden eingeflogen, um mit modernsten Maschinen innerhalb nur weniger Tage den Weg zu ebnen, was anschließend mit einer großen Parade gefeiert werden soll. Die beiden Straßenbauer kennen sich nicht und sollen nach Willen ihres Arbeitgebers auch weder miteinander und schon gar nicht mit der lokalen Bevölkerung engeren Kontakt aufnehmen, so wählen sie zwei Ziffern als Namen. Vier ist dies gewohnt, schon viele Einsätze hat er pflichtbewusst hinter sich gebracht, die strengen Regeln sind ihm ins Blut übergegangen. Für Neun ist es der erste Auftrag und er saugt die fremden Eindrücke von der ersten Minute an förmlich auf – weshalb er immer mehr seine Pflichten vernachlässigt und seinen Kollegen gegen sich aufbringt. So ungleich sie sind, bilden sie doch eine Schicksalsgemeinschaft und müssen miteinander die Aufgabe bewältigen, egal wie groß die Hürden sind, die sich vor ihnen auftun.

Dave Eggers bekanntester Roman ist sicherlich „The Circle“, in welchem er vor den Auswüchsen der großen Internetkonzerne warnt. „Die Parade“ ist ganz anders gelagert und erinnerte mich viel mehr an „Ein Hologramm für den König“, da auch dort in einem Infrastruktur-armen Land fern der Zivilisation der technische Fortschritt kommen soll und die ausländischen Arbeiter sich in einer absurden Situation gefangen sehen. Im Fokus des Romans stehen jedoch hier ganz eindeutig die beiden Straßenbauer, die verschiedener kaum sein könnten und das, obwohl sie ebenso wie ihre Umgebung zunächst kaum mit Charakteristika ausgestattet werden, nicht einmal Namen erhalten sie.

Die Konfrontation der beiden ist von der ersten Sekunde an abzusehen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis bei Vier die Hutschnur reißt und er das Treiben seines Kollegen nicht länger mitansehen will. Doch der unerwartete Schicksalsschlag, der sie beide letztlich trifft, zwingt Vier dazu, von seinem üblichen Verhalten abzuweichen und so etwas wie Menschlichkeit über das starre Befolgen von Regeln zu stellen. Ab diesem Moment ist er auch nicht mehr allein, er sieht die Bewohner des Landes mit anderen Augen, fasst Vertrauen und wird auch nicht enttäuscht. Zum ersten Mal kann er echte Erfahrungen machen und arbeitet sich nicht nur wie ein Roboter an der Straße ab. Das permanente Abwägen zwischen Mitgefühl und Pragmatismus, Großzügigkeit und Vorsicht lässt den Menschen hinter der Nummer zum Vorschein kommen.

Der Krieg als Hintergrund, vor dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, taucht immer wieder am Rande auf, Bedrohungen kommen und gehen, aber nie sind Vier und Neun ernsthaft in Gefahr. Doch gerade als man denkt, dass offenbar durch menschliches Handeln, ein gewisses Maß an Offenheit und Mut auch Versöhnung und Miteinander möglich sind, packt Eggers die Keule aus. Nein, die Welt ist kein Ponyhof und wer sich zufrieden dieser Illusion hingibt, wird eine böse Überraschung erleben. Der große Fortschritt, der erzielt wurde, schlägt brutal zurück und lässt so den faden Beigeschmack, dass alles seinen Preis hat und selten ein Geschenk vom Himmel fällt.

Der Roman ist ganz sicher als Parabel zu lesen, die Fragen nach Moral, Ethik und Menschlichkeit aufreißt. So schnell man das kleine Buch auch gelesen hat, es wirkt nach und stimmt nachdenklich in vielerlei Hinsicht.