Dror Mishani – Vertrauen

Dror Mishani – Vertrauen

Zwei ungewöhnliche Fälle beschäftigen Avi Avraham und seine Kollegin Esthi Wahabe: ein Schweizer Tourist hat sein Hotel verlassen und ist seither verschwunden und eine Frau hat ein Baby in einem Einkaufszentrum bei einem Krankenhaus ausgesetzt. Während Avi schnell herausfindet, dass Jacques Bartoldi eigentlich Raphael Chouchani heißt und Franzose marokkanischer Abstammung ist, sieht sich Esthi mit Liora einer Frau gegenüber, deren Geschichte mit jedem Verhör abenteuerlicher und verworrener wird. Die beiden Ermittler stecken fest, nichts scheint zusammenzupassen in ihren Fällen und sie werden das Gefühl nicht los, dass sie nur Marionetten sind, wobei sie nicht wissen, wer im Hintergrund die Fäden zieht.

Auch im vierten Fall für Kommissar Avi Avraham hat Dror Mishani wieder eine komplexe Geschichte gestrickt, die sich nicht so leicht durchschauen lässt. „Vertrauen“ besticht dabei vor allem mit der permanenten Ungewissheit, in der sich die Protagonisten ebenso wie der Leser befindet. Man spürt, dass etwas nicht stimmt, kann das lose Gewirr an Fäden jedoch nicht zu einem stimmigen Zusammenhang bringen.

Äußert Avi Avraham schon zu Beginn Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Berufs, stürzt ihn die Ermittlung völlig in die Sinnkrise.

„Leben retten und Grausamkeit, Gewalt und das Böse bekämpfen.“

Das war es, was er seiner inzwischen verstorbenen Chefin als Grund nannte, weshalb er sich für den Polizeidienst beworben hat. Ihre Erfahrung und Weitsicht hatten sie infrage stellen lassen, ob das in ihrer Position wirklich möglich sei. Und nun erkennt Avi, dass er eigentlich immer erst dann kommt, wenn das Verbrechen schon geschehen ist, wenn die Opfer schon zu beklagen sind und er nur noch hinterherräumen kann, aber keine Tat je verhindert. In dieser Stimmung kommt er zu dem Hotel, wo ein Gast vermisst wird, dort gibt man ihm zu verstehen, dass schon alles wieder erledigt, das Gepäck von Verwandten abgeholt und alles geklärt sei. Doch der Kommissar merkt, dass etwas faul ist und beginnt zu hinterfragen. Jeder Stein indes, den er umdreht, befördert neue Fragen hervor und die potenziellen Antworten lassen irgendwann nur den Schluss zu, dass der Geheimdienst involviert sein muss.

„Ich bin faktisch ihr Affe, wie beim organisierten Verbrechen, verstehst du? Ich bin der, der für sie die Wahrheit vertuscht, ohne es zu wissen, und ich kann nichts dagegen tun“

Sein Verdacht erhärtet sich und der geschickte Ermittler wird mehr als deutlich darauf hingewiesen, dass er seine Nachforschungen einstellen solle, da es nichts mehr zu ermitteln gäbe. Wie zu erwarten, spornt ihn das nur noch mehr an.

Seine Kollegin hat es zwar nicht mit dem Mossad, dafür aber mit einer durchtriebenen und undurchsichtigen Frau zu tun. Lioras Motiv wie auch die Entwicklung ihrer Geschichte um das Frühchen lassen Esthi nicht los. Sie will verstehen, was geschehen ist, wird aber aus der Mutter und ihrer 16-jährigen Tochter nicht schlau. Auch hier ist die Frage nach der Schuld nicht einfach zu beantworten, denn alle involvierten sind zugleich Täter und Opfer.

Zwei Handlungsstränge, die sich immer wieder auch kreuzen und deren Entwicklung gänzlich unvorhersehbar ist. Weniger noch lässt sich jedoch voraussagen, was die Fälle mit den beiden Ermittlern machen, denn diese lässt das Grauen, mit dem sie sich befassen müssen, ebenfalls nicht kalt. Dror Mishani bleibt sich treu, einmal mehr ein Krimi, der sich, genau wie auch „Die schwere Hand“ oder „Drei“ durch eine interessante und vielschichtige Figurenzeichnung auszeichnet und damit restlos überzeugt.

Mirna Funk – Zwischen Du und Ich

Mirna Funk – Zwischen Du und Ich

Eine böse Erinnerung und plötzlich die Chance zur Flucht: Nike kann für ein Jahr ihre Arbeit beim DAAD statt in Berlin von Tel Aviv aus erledigen. Dort plant die Judaistin eine Konferenz und da sie die Voraussetzungen zur Alija erfüllt, kann sie auch problemlos in das Land am Mittelmeer übersiedeln. Die ersten Tage sind hart, doch dann lernt sie Noam kennen, der ebenso wie sie gerade einen beruflichen Schlussstrich gezogen hat. Doch sie haben noch mehr gemeinsam: Erfahrungen von Gewalt und Vertrauensmissbrauch haben sie geprägt und machen funktionierende Beziehungen nahezu zu einem Ding der Unmöglichkeit. Zwei verwandte Seelen, die wissen, wie man mit Verletzungen umgehen muss und an welchem Punkt man lieber keine weiteren Fragen stellen sollte. Aber können die beiden so einfach überwinden, was sie seit Jahren verfolgt?

Die Journalistin Mirna Funk lässt den Leser lange im Dunkeln, was es genau ist, das die beiden Protagonisten so hat werden lassen, wie man sie kennenlernt. Damit einher geht die Illusion, dass es ein Happy-End geben könnte, dass ein Neuanfang ohne Ballast möglich sei und man schlimme Erlebnisse überwinden und hinter sich lassen könnte. Doch der Rahmen, den die Autorin in ihrem zweiten Roman setzt, ist noch viel größer: nicht nur die Erlebnisse von Nike und Noam haben Spuren bei diesen hinterlassen, sie tragen auch noch den Ballast der älteren Generationen mit sich, als Enkelkinder von Holocaust-Überlebenden lastet zusätzlich die Geschichte auf ihren Schultern.

Nike und Noam werden zunächst nacheinander vorgestellt und könnten eigentlich verschiedener kaum sein: die Berliner Mitt-30erin, die beruflich mit beiden Beinen auf der Erde steht, aber emotional ins Wanken gerät, als sie zufällig ihrem Ex-Freund begegnet und sich dann entscheidet, einen Neuanfang zu wagen. Einfach so in ein Land zu ziehen, das sie noch nie besucht hat, erfordert Mut und Tatendrang – doch schon kurz nach ihrer Ankunft werden alte Wunden wieder aufgerissen und man erfährt, was sie eigentlich gedanklich zurück in Deutschland lassen wollte.

So sympathisch Nike erscheint, so unsympathisch wirkt Noam von Beginn an auf mich. Ein völlig überhöhtes Ego, sein rücksichtloser Umgang mit Frauen und eine Art Jagdinstinkt, der ihn auf Nikes Spur leitet, lässt Schlimmes befürchten. Doch die Begegnung scheint in ihm etwas Anderes auszulösen, er kann sich zu dem Partner entwickeln, der er eigentlich immer sein wollte:  verständnisvoll, das Positive sehend und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen.

Wird jedoch der Mechanismus erst einmal in Gang gesetzt, lässt sich das Unglück nicht mehr aufhalten. Als Leser ahnt man, was geschehen wird, welches Ende es nehmen wird und hofft doch, dass irgendein Hindernis alles aufhalten könnte. Die Spirale der Gewalt dreht sich und es bleibt letztlich nur noch die Frage, wie schlimm die Verwüstung sein wird, die diese anrichtet.

Kein Wohlfühlroman, eher einer, der eine Triggerwarnung verdient hätte, da so manch ein Leser mit ähnlichen Erfahrungen hier an eigene Erlebnisse erinnert werden könnte. Nichtsdestotrotz eine lesenswerte Geschichte, da es der Autorin hervorragend gelingt, zum einen Dynamiken in der Interaktion aufzuzeigen, die unweigerlich zu einer Eskalation führen und sie ebenso ein toxisches Männlichkeitsbild mit seinen ganz eigenen Regeln vorführt, das jedoch auch seine Gründe hat – die jedoch zum keinem Zeitpunkt als Entschuldigung herangezogen werden. Spannend fand ich die im Roman aufgerissene Frage, inwieweit Kinder die Erlebnisse der Eltern ebenso verinnerlichen und diese auch ihr Leben bestimmen. Erzählerisch überzeugend und thematisch ganz sicher einer DER Romane der Gegenwart.

Dave Eggers – Die Parade

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Dave Eggers – Die Parade

Ein unbenanntes Land, kurz nach dem Krieg, der den Norden und Süden verfeindet hatte. Nun soll eine Straße die beiden Landesteile verbinden und wieder vereinen. Zwei Arbeiter einer ausländischen Firma werden eingeflogen, um mit modernsten Maschinen innerhalb nur weniger Tage den Weg zu ebnen, was anschließend mit einer großen Parade gefeiert werden soll. Die beiden Straßenbauer kennen sich nicht und sollen nach Willen ihres Arbeitgebers auch weder miteinander und schon gar nicht mit der lokalen Bevölkerung engeren Kontakt aufnehmen, so wählen sie zwei Ziffern als Namen. Vier ist dies gewohnt, schon viele Einsätze hat er pflichtbewusst hinter sich gebracht, die strengen Regeln sind ihm ins Blut übergegangen. Für Neun ist es der erste Auftrag und er saugt die fremden Eindrücke von der ersten Minute an förmlich auf – weshalb er immer mehr seine Pflichten vernachlässigt und seinen Kollegen gegen sich aufbringt. So ungleich sie sind, bilden sie doch eine Schicksalsgemeinschaft und müssen miteinander die Aufgabe bewältigen, egal wie groß die Hürden sind, die sich vor ihnen auftun.

Dave Eggers bekanntester Roman ist sicherlich „The Circle“, in welchem er vor den Auswüchsen der großen Internetkonzerne warnt. „Die Parade“ ist ganz anders gelagert und erinnerte mich viel mehr an „Ein Hologramm für den König“, da auch dort in einem Infrastruktur-armen Land fern der Zivilisation der technische Fortschritt kommen soll und die ausländischen Arbeiter sich in einer absurden Situation gefangen sehen. Im Fokus des Romans stehen jedoch hier ganz eindeutig die beiden Straßenbauer, die verschiedener kaum sein könnten und das, obwohl sie ebenso wie ihre Umgebung zunächst kaum mit Charakteristika ausgestattet werden, nicht einmal Namen erhalten sie.

Die Konfrontation der beiden ist von der ersten Sekunde an abzusehen, es ist nur eine Frage der Zeit, bis bei Vier die Hutschnur reißt und er das Treiben seines Kollegen nicht länger mitansehen will. Doch der unerwartete Schicksalsschlag, der sie beide letztlich trifft, zwingt Vier dazu, von seinem üblichen Verhalten abzuweichen und so etwas wie Menschlichkeit über das starre Befolgen von Regeln zu stellen. Ab diesem Moment ist er auch nicht mehr allein, er sieht die Bewohner des Landes mit anderen Augen, fasst Vertrauen und wird auch nicht enttäuscht. Zum ersten Mal kann er echte Erfahrungen machen und arbeitet sich nicht nur wie ein Roboter an der Straße ab. Das permanente Abwägen zwischen Mitgefühl und Pragmatismus, Großzügigkeit und Vorsicht lässt den Menschen hinter der Nummer zum Vorschein kommen.

Der Krieg als Hintergrund, vor dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, taucht immer wieder am Rande auf, Bedrohungen kommen und gehen, aber nie sind Vier und Neun ernsthaft in Gefahr. Doch gerade als man denkt, dass offenbar durch menschliches Handeln, ein gewisses Maß an Offenheit und Mut auch Versöhnung und Miteinander möglich sind, packt Eggers die Keule aus. Nein, die Welt ist kein Ponyhof und wer sich zufrieden dieser Illusion hingibt, wird eine böse Überraschung erleben. Der große Fortschritt, der erzielt wurde, schlägt brutal zurück und lässt so den faden Beigeschmack, dass alles seinen Preis hat und selten ein Geschenk vom Himmel fällt.

Der Roman ist ganz sicher als Parabel zu lesen, die Fragen nach Moral, Ethik und Menschlichkeit aufreißt. So schnell man das kleine Buch auch gelesen hat, es wirkt nach und stimmt nachdenklich in vielerlei Hinsicht.

Caroline Mitchell – Silent Victim

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Caroline Mitchell – Silent Victim

Eigentlich ist das Leben von Emma und Alex perfekt, beide sind in ihrem Job erfolgreich und mit Jamie haben sie einen bezaubernden Sohn. Als Alex die Chance erhält beruflich aufzusteigen und dafür in seine Heimatstadt Leeds zurückzukehren, können sie auch endlich Emmas gruseliges Haus loswerden. Doch bevor sie das Anwesen verkaufen können, muss Emma im wahrsten Sinne des Wortes noch eine Leiche ausgraben, denn vor Jahren hat sie ihren Stalker erschlagen und heimlich begraben. Doch als sie jetzt zur Stelle zurückkehrt, ist kein Leichnam zu finden – wie auch, Luke ist ausgesprochen lebendig und sinnt auf Rache.

Caroline Mitchell erzählt die Geschichte auf mehreren Zeitebenen, so dass sich dem Leser erst langsam enthüllt, was geschehen ist. Die Spannung liegt jedoch hauptsächlich darin, inwieweit die Figuren sich gegenseitig täuschen und wem sie Glauben schenken wollen, vor allem Emmas Ehemann gerät in die Mühle von Lügen und Geheimnissenund weiß bald nicht mehr, wem er noch trauen kann.

Der Spannungsaufbau hat mir gut gefallen, die Handlung löuft stetig auf einen Höhepunkt zu, der die finale Entscheidung herbeiführen wird. Am meisten hat mich Emmas Geschichte als Schülerin, die von ihrem Lehrer heimtückisch verführt wird, gefallen, leider erscheint mir auch sehr glaubwürdig, wie ihr als Opfer nicht geglaubt wird und sie dadurch gleich doppelt gestraft wird und ihr Peiniger sie in der Hand hat. Auch Lukes Rückkehr ist insgesamt überzeugend gestaltet.

Die Figurenzeichnung war jedoch nicht ganz stimmig für meinen Geschmack. Emma ist überzeugend, aber Alex war für mich nicht ganz glaubwürdig, zum einen scheint er ein knallharter Geschäftsmann, als Ehemann wirkt er aber schwächlich bis dümmlich und kann seine Position in keine Hinsicht vertreten. Mal sorgt er sich vorgeblich um seine Frau, dann handelt er aber völlig widersinnig. Auch Emmas Schwester hatte so manche Unstimmigkeit aufzuweisen. Hinzu kommt leider auch die manchmal unglückliche Übersetzung, die den Text etwas holpern lässt, weil die Wortwahl sich einfach undeutsch anhört. Insgesamt lesenswert und spannend, aber mit kleinen Schwächen.

Philippe Dijan – Marlène

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Philippe Dijan – Marlène

Wer ist Marlène? Und hat sie wirklich so eine böse Aura, wie Richard vermutet? Schwanger flüchtet Marlène zu ihrer Schwester Nath, die sie aus Pflichtgefühl aufnimmt, auch wenn die Situation gerade schwierig ist. Mit ihrer 18-jähirgen Tochter Mona liegt sie im Clinch, so dass diese zu Dan zieht, dem besten Freund ihres Vaters Richard. Dieser saß drei Monate im Gefängnis und steht kurz vor der Entlassung. Dan versucht in das bürgerliche Leben zurückzukehren, was nach den Erfahrungen im Jemen und Afghanistan nicht einfach ist, doch im Gegensatz zu Richard scheint es ihm zu gelingen. Er ist bemüht seinem Job regelmäßig nachzugehen, die Nachbarn zu grüßen und seine Hilfe anzubieten, um wieder aufgenommen zu werden in die Gesellschaft. Doch dann kommt Marlène und macht ihm eindeutige Avancen. Er wehrt sich und ahnt noch nicht, dass er besser die Flucht ergreifen sollte, denn Marlène zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her.

Philippe Dijan ist als Autor in der französischen Literaturszene seit Jahrzehnten eine feste Größe. Vor allem die komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen haben es ihm angetan, seinen Durchbruch hatte er 1985 mit „37°2 le matin“ (dt. „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“), in dem er die obsessive Liebe zwischen Betty und Zorg schildert. Sein Roman „Oh…“ aus dem Jahr 2012 wurde mit dem Prix Interallié ausgezeichnet und beschreibt die verstörende Anziehung zwischen einer Frau und ihrem Vergewaltiger.

Die Protagonistin, die dem aktuellen Roman den Titel verleiht, bleibt über weite Teile der Handlung erstaunlich blass. Es wird mehr über sie gesprochen als dass man sie selbst erleben würde und man fragt sich, wie die anderen Figuren zu ihrer Einschätzung kommen und inwieweit sie mit dieser richtig liegen. Richard hasst Marlène und macht keinen Hehl daraus. Die Probleme, die Richard und Dan haben, wieder festen Boden unter den Füßen zu finden, nehmen viel mehr Raum ein und man fragt sich fast, wie Marlène zu ihrer Ehre kommt, kann sie Dan vielleicht doch von seinem Trauma befreien?

„Er kannte nicht nur Angst, Blut und Schmerz, aber er konnte sich schrubben, so viel er wollte, es ging nicht ab, es kam immer wieder, und jedes Mal färbte es auf den Rest ab (…) Er hatte sich daran gewöhnt. In gewisser Weise war er schon tot, dachte er. Weder Marlène noch sonst jemand konnte etwas dafür. Wer einmal in der Hölle gewesen war, kam nicht wieder zurück.“

Die zarte Verbindung scheint jedoch eine Zukunft zu haben, zumindest in Dans Augen. Er ist bereit sich dafür auch gegen seinen Freund zu stellen und Marlène zu verteidigen. Doch dann folgt unweigerlich der Moment des Schreckens und Grauens. Völlig unvorbereitet trifft es einem als Leser und Dijan legt sofort nach, kaum ein Herzschlag vergeht zwischen den Schlägen, die er uns zumutet.

In kurzen Sequenzen erzählt Dijan seine Geschichte, wechselnd zwischen den Figuren erlaubt er Innen- und Außensicht, was ein komplexes Bild entstehen lässt und die Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, anschaulich verdeutlicht. Dialoge und Beschreibungen gehen fließend ineinander über und entwickeln so die Figuren und die Handlung unentwegt fort. Kaum scheint man sie greifen zu können, entweichen sie wieder.

Dijan ist keine leichte Kost, aber ein sprachlicher Virtuose, der ein Auge für die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele hat.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

T.A. Cotterell – Was Alice wusste [Kurzrezension]

Was Alice wusste von TA Cotterell
T.A. Cotterell – Was Alice wusste

Als Alice eines abends spät auf dem Weg nach Hause einen Anruf ihrer Tochter erhält mit der Frage, wo der Vater bleibt, ist sie besorgt, aber sicher, dass es eine Erklärung dafür geben wird. Ed ist ein fürsorglicher Mann und Vater, auf den sie sich stets verlassen kann. Doch dann kommt alles anders als erwartet: Ed war auf einer Party, betrunken, bei einer jungen Künstlerin – und die ist nun tot. Ed kann sich an nichts mehr erinnern, außer, dass er wohl mit ihr geschlafen hat. Die Zweifel beginnen zu nagen und auch die Polizei steht schon kurz darauf vor ihrer Tür.

T.A. Cotterells Roman wird als Psychothriller klassifiziert. An Psychothrill konnte ich nicht viel erkennen. Kurz gefasst: vorhersehbar, langwierige Schleifen und schwache Ablenkungsmanöver, die keine Spannung erzeugten, sondern nur langweilten und die Handlung verzögerten. Insgesamt zu banal in tausendfach gelaufenen Bahnen, um ansatzweise zu überzeugen.

Margaret Atwood – The Robber Bride

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Margaret Atwood – The Robber Bride

Die Freundinnen Roz, Charis und Tony trauen ihren Augen nicht: die Frau, die gerade das Restaurant betritt, in dem sie ihr monatliches gemeinsames Essen haben, ist doch tot. Sie waren sogar bei ihrer Beerdigung! Aber Zenia, ihre ehemalige Kommilitonin, ist quicklebendig, was nichts Gutes bedeuten kann. Alle drei haben sie ihre Erfahrungen mit der charismatischen Frau gemacht, sind von ihr belogen und betrogen worden und haben alles, was ihnen wertvoll und wichtig war, verloren. Doch wer ist Zenia überhaupt und wo hat sie in den vergangenen Jahren gesteckt?

Margaret Atwoods Roman „The Robber Bride“ wurde bereits 1993 zum ersten Mal veröffentlicht. Es ist eine Geschichte von Verrat, Vertrauensmissbrauch und Hinterlist – aber diese Eigenschaften können nur wirken, wenn ein anderer gutgläubig, vertrauensselig und naiv ist. Die drei Freundinnen werden erst zum Trio durch die gemeinsamen Erlebnisse. Die Erkenntnis, dass sie alle drei auf Zenia hereingefallen sind und ihre Leichtgläubigkeit gnadenlos ausgenutzt wurde, eint sie im finalen Kampf gegen die hinterlistige und gefährliche Frau.

Der Roman beginnt am Ende mit der unerwarteten Begegnung, bevor er in Flashbacks erzählt, was zum Teil Jahrzehnte zuvor geschah. Vieles ist eigentlich recht vorhersehbar, die Manipulationen sind nicht besonders raffiniert, dennoch wirken sie, weil sie im richtigen Moment die richtige Stelle treffen. Menschen können noch so intelligent sein, sie haben ihre verletzlichen Momente und verletzlichen Seiten, die sie anfällig für Betrüger macht.

Margaret Atwood greift einmal mehr auf die urmenschliche Blindheit zurück in ihrer Erzählung. Man sieht nur, was man sehen möchte und verschließt die Augen vor dem Offenkundigen, auch wenn es sich direkt vor einem abspielt. Die drei Frauen lassen sich manipulieren und rennen offenen Augens in ihr Verderben. Man hat nur begrenzt Mitleid mit ihnen, dabei sind sie Zenias Opfer – diese ist durch und durch böse und bietet eigentlich keinen Raum für Sympathien.

Nachdem ich aktuelle Werke von Atwood gelesen hatte, die mich schnell überzeugen konnten, nun etwas älteres und die Erkenntnis, dass es sich lohnt, auch diese näher zu betrachten.