Helene Hegemann – Bungalow

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Helene Hegemann – Bungalow

Charlie wächst im Grenzgebiet auf – an der Grenze zwischen den vom Sozialstaat Abhängigen in der Hochhaussiedlung und den Bungalows der Reichen. Eigentlich sollten die Welten, in denen die beiden Bewohnergruppen sich bewegen, weit voneinander entfernt liegen, hier grenzen sie aneinander und zwangsweise begegnet man sich. So beobachtet das 12-jährige Mädchen ein Paar, das gegenüber neu einzieht. Fasziniert spioniert sie immer mehr Details aus, bis sie sie eines Tages plötzlich im heimischen Fernseher erkennt, denn Maria und Georg sind Schauspieler. Ihr luxuriöses Leben mit Reisen und teuren Speisen könnte kaum weiter von Charlies Realität entfernt sein: die alleinerziehende Mutter, die manchmal betrunken, dann wieder wegen Tabletten weggetreten ist und bisweilen auch einfach beides kombiniert und im Wahn auch schon mal auf die Tochter eindrischt, die zwar erkennbar verwahrlost ist, der aber trotzdem keine Hilfe zukommt.

„Bungalow“ hat was von Literatur gewordenem Trash-TV. Charlies Welt ist das, was man im Nachmittagsprogramm des Privatfernsehens in den unzähligen Doku-Soaps mit Laien-Schauspielern bewundern kann. Am untersten Ende der Gesellschaft angekommen flüchtet ihre Mutter dank Alkohol und Medikamenten aus der Wirklichkeit, um sich dieser nicht stellen zu müssen. Die Erziehung der Tochter findet derweil nicht statt und das Mädchen bleibt sich selbst überlassen. Alles, was sie weiß, erfährt sie entweder auf der Straße oder im Internet, wo sich das nichtvorhandene Wissen ergoogeln lässt und Pornoseiten die praktische Einführung in die Sexualität übernehmen.

Charlie schämt sich für ihre Mutter und die Umstände, in denen sie aufwächst. Dies geht sogar so weit, dass sie sich eben „Charlie“ nennen lässt und nicht Charlotte, wie sie eigentlich nach der großartigen Schauspielerin Charlotte Rampling heißt, sie denkt, sie hätte einen solch großen Namen nicht verdient. Mit abgeklärter Emotionslosigkeit berichtet Charlie von den Selbstmorden in ihrer austauschbaren, namenlosen Stadt, ebenso von den Explosionen und Feuern, die Lebensgrundlagen zerstören. Ereignisse, die eifrig mit den Handys gefilmt werden und das einzig Aufregende in dem sonst trostlosen Leben sind.

Mit ihrem ersten Roman „Axolotl Roadkill“ wurde Helene Hegemann schlagartig berühmt, weniger wegen der literarischen oder inhaltlichen Qualitäten, sondern mehr wegen der Tatsache, dass weite Teile des Textes nicht von ihr selbst stammten. Auch „Bungalow“ bietet nichts, was man nicht schon einmal irgendwo gesehen oder gelesen hätte. Die Thematisierung von Vernachlässigung ist per se noch kein Qualitätsmerkmal, nichtsdestotrotz steht der Roman auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Die Gesellschaftskritik ist erkennbar, aber Lösungen bleiben aus, auch wird kein größerer Zusammenhang als das unmittelbare familiäre Umfeld von Charlie thematisiert.

Die Meinungen in den Feuilletons gehen auseinander, zwischen dem größten literarischen Nachwuchstalent Deutschlands und einem belanglosen Roman, der viel will und wenig liefert, findet sich eigentlich jede Meinung. Ohne Frage lässt der Roman sich gut lesen, die Erzählerin kann einem packen und man oszilliert zwischen Faszination und Abstoßung, wie bei einem Unfall, zu dem man hinschauen muss, obwohl man nicht will. Die Sprache ist klar und schnörkellos, was zum Text sehr gut passt. Aber mir fehlt ein wenig die durchschlagende Relevanz bzw. Brisanz und die sprachliche Poesie, um die Autorin mit diesem Roman schon in die Riege der ganz Großen aufzunehmen. Bleibt abzuwarten, was noch folgt.

Alex Capus – Königskinder

Koenigskinder von Alex Capus
Alex Capus – Königskinder

Spätabends in den Schweizer Bergen, langsam aufkommendes Schneetreiben, doch Max und Tina ignorieren die Absperrung und fahren den Berg hinauf, bis sie schließlich doch auf dem Pass vom Weg abkommen und wohl oder übel die Nacht über im Auto ausharren müssen, bis am folgenden Morgen Hilfe zu ihnen vordringen kann. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählt Max eine Geschichte, jene von Jakob aus dem Greyzerland. Früh die Eltern verloren wird er zum eigenbrötlerischen, aber fähigen Kuhhirten. Als er sich in die Tochter eines reichen Bauern verliebt, ist dieser erbost, denn Jakob ist ganz sicher keine passende Partie für seine Marie. Jakob flüchtet sich in den Militärdienst, doch Marie wartet auf ihn. Nach Jahren im Ausland kehr er zurück und findet sein Mädchen wieder – doch ihre Zweisamkeit soll auch jetzt nur von kurzer Dauer sein, denn der französische König ruft schon wieder.

Überzeugend gestaltet Alex Capus die Rahmengeschichte um Max und Tina und greift hier auf ein recht altes Motiv zurück: die unerträgliche Wartezeit in unfreiwilliger Gefangenschaft mit Erzählen überbrücken und so am Leben bleiben. Was in „Tausend und einer Nacht“ funktionierte, klappt auch in der modernen Welt noch.

Die Geschichte um Jakob und Marie ist glaubwürdig und passend in der Zeit gegen Ende der Herrschaft der französischen Könige und der aufkeimenden Revolution verortet. Besonders gut hat mir dabei auch der Vulkanausbruch des Laki-Kraters gefallen, ein historisch reales Ereignis, das nachhaltige Auswirkungen auf die europäische Geschichte hatte, nahm hier doch die Hungersnot ihren Ausgangspunkt, die letztlich zum blutigen Umsturz führte. Überhaupt wird die Geschichte der beiden jungen Menschen stark durch die historischen Figuren und Ereignisse bestimmt, was ihr die Beliebigkeit nimmt und sie authentisch gestaltet. Umgekehrt aber auch eine Liebesgeschichte, die Hindernisse überwindet und überdauert. So wird „Königskinder“ trotz der Brutalität der Zeit, die niemandem, weder Königs- noch Bauernkindern, etwas schenkte, zu einer Wohlfühlgeschichte, in der man gerne versinkt.