Khuê Pham – Wo auch immer ihr seid

Khuê Pham – Wo auch immer ihr seid

Schon früh als kleines Mädchen hat Kiều gemerkt, dass ihre Familie anders ist als die der anderen Kinder. Nicht nur dass sie und ihre Geschwister dunkle Haare und mandelförmige Augen haben, die Gepflogenheiten, das Essen, einfach alles unterscheidet sich. Umso mehr versucht sie, wie eine Deutsche zu sein, nicht aufzufallen, sich anzupassen. Als ihre Großmutter stirbt, fliegt sie – inzwischen 30 aber immer noch unverheiratet – mit den Eltern nach Kalifornien, wo der Rest der Verwandtschaft lebt. Nie hat sie sich wirklich gefragt, wie es kommt, dass ihre Eltern in Deutschland sind und die anderen in den USA oder warum sie ihre vietnamesische Heimat verlassen haben. Mit dem Verlust der Großmutter, die sie kaum kannte und von der sie noch nicht einmal den Namen weiß, beginnt ihre Reise in die Geschichte ihrer Familie.

Die Journalistin Khuê Phạm thematisiert schon lange die Situation von Einwandererkindern in Deutschland, die zwischen zwei Kulturen aufwachsen und immer das Gefühl haben, weder zur einen noch zur anderen so richtig zu gehören. Dies ist auch das zentrale Thema in ihrem Debütroman, der von ihrer eigenen Familiengeschichte beeinflusst ist. Es ist jedoch nicht nur die Geschichte von jungen Menschen, die ihre Identität suchen, sondern auch von Schuldgefühlen, nicht Ausgesprochenem, dem, was nicht mehr gesagt und zurechtgerückt werden kann, wenn plötzlich jemand nicht mehr da ist.

Kiềus Geschichte bildet den Rahmen, die Reise mit den Eltern, die für sie auch vor der Frage steht, was sie selbst mit ihrem Leben anfangen will. Ein Schwangerschaftstest bestätigt ihre Vermutung, aber ihre Beziehung ist fragil, ihr Freund bereitet gerade den Umzug nach Japan vor und Familie und Sesshaftigkeit gehörten nicht zu den aktuellen Plänen. So unsicher ihre Zukunft, so klar wird ihr, dass sie auch von der Vergangenheit kaum etwas weiß und nicht einmal die Geschichte ihrer Eltern kennt, die sich während des Studiums in Deutschland kennengelernt haben.

Auf ihrem Vater lasteten als Erstgeborenem große Erwartungen; dass er hervorragende Schulleitungen zu erbringen hatte, um Zugang zum Medizinstudium zu erhalten, stand nie infrage. Statt Frankreich reichte es jedoch nur zu Deutschland und während er sich versuchte in diesem seltsamen Land, in dem sich Ende der 60er Jahre viele seiner Kommilitonen für sein Heimatland interessierten, zurechtzufinden, versank Vietnam im Chaos. Ein Heimatbesuch gegen Ende seiner Ausbildung war eher verstörend, nichts war mehr so, wie er es in Erinnerung hatte und auch von seiner Familie hatte er sich entfremdet.

Sein jüngerer Bruder konnte nicht rechtzeitig fliehen und erlebte die Wiedervereinigung und Übernahme durch die Kommunisten. Er musste sich den harten Weg in die Freiheit erkämpfen, hatte dafür aber in den USA stets eine große vietnamesische Community, die die Traditionen weiterleben ließ. Für die Erzählerin eine neue Welt, ein anderes Zusammenleben als sie es aus Deutschland kennt. Auch ihre Eltern lernt sie noch einmal von einer ganz anderen Seite kennen.

Eine beeindruckende Familiengeschichte voller Brüche und verschiedenen Wahrheiten, die alle aus ihrer Perspektive gerechtfertigt und richtig sind. Eine Geschichte, die auch zeigt, wie sich Kultur und Identität konstruieren und immer wieder neu entwickeln und ausgehandelt werden müssen vor dem Hintergrund der Spannungen von familiären und gesellschaftlichen Erwartungen und eigenen Träumen. Ein Einblick in eine fremde Welt, die vor unseren Augen und doch hinter verborgenen Türen stattfindet.

Ein herzlicher Dank geht an den btb Verlag für das Rezensionsexemplar. Weiter Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Alexandra Riedel – Sonne, Mond, Zinn

Alexandra Riedel – Sonne, Mond, Zinn

Gustav Zinn erhält einen Anruf, mit dem er nicht gerechnet hat. Sein Großvater ist gestorben und die Witwe lädt ihn zur Beerdigung ein. Nie hatte er Kontakt zu dem Mann, ebenso wie seine Mutter Esther, die als uneheliches Kind kurz nach dem Krieg geboren wurde und zeitlebens als Bastard betrachtet wurde. Gustav kommt schon früh zur Trauerhalle, wo Anton Hamann aufgebahrt wird, bei der Familie will er nicht sitzen, zu dieser gehört er ja nicht, doch dem anschließenden Leichenschmaus kann er sich nicht entziehen. Auch nicht den Erinnerungen und Erzählungen, den Fotografien aus einem Leben, die jedoch einen wichtigen Teil ausklammern, weil dieser nicht sein durfte. Akribisch beobachtet Gustav, nimmt wahr und berichtet der abwesenden Mutter.

„Man habe sich hier und heute versammelt, um Abschied zu nehmen von Anton Hamann. Er hinterlasse seine Frau Isolde Hamann, seinen Bruder Baldur Hamann, die Söhne Ulrich und Anselm Hamann sowie die Schwiegertochter Susanne Hamann. Ich hörte Namen und Bezeichnungen, von dir aber keine Silbe. Hätte ich damit rechnen sollen?“

Alexandra Riedels Debütroman, für welchen Sie mit dem Bayern2-Wortspiel-Preis ausgezeichnet wurde, beschreibt die schwierigen Verhältnisse einer Familie, die keine ist. Er spiegelt damit auch den Geist einer Zeit, der durch rigide Ansichten und gesellschaftliche Ächtung für alle, die nicht ins die vorgegebenen Schemata passten, geprägt war. Durch dieses Nicht-Dazugehören stellt die Autorin jedoch auch die Frage, was denn in der Figur Gustav von dem gerade Verstorbenen steckt, wie sehr können Gene prägen bei Abwesenheit? Ist da mehr als nur das Grübchen?

Der Titel ist eine Anspielung an das Observatorium, das Anton Hamann leitete. Die Sonne, der Mond und die Gestirne hatten es ihm angetan und dort konnte er auch heimliche Stunden mit seiner Tochter verbringen, ein Stern, den er eigentlich nur aus der Ferne beäugen konnte. In der Realität lebte sie in einer anderen Galaxie. Die Sehnsucht nach Ferne und Weite des Himmels jedoch hat sie an den Sohn weitergegeben, der sich nichts anderes im Leben vorstellen kann als seinen Job im Tower eines Flughafen einer Insel, wo nicht die Menschen, sondern die Naturgewalten den Takt bestimmen.

Der Roman überzeugt doch brillante Analogien und Metaphern und reicht trotz der Kürze in Tiefen, die viele lange Werke vermissen lassen.

Cihan Acar – Hawaii

cihan acar hawaii
Cihan Acar – Hawaii

Eine brütende Hitze, die die Menschen langsam zermürbt, liegt über Heilbronn. Auch Kemal Arslan leidet unter den unerträglichen Temperaturen, doch nicht nur diese machen ihm zu schaffen. Einst stand ihm die große weite Welt offen, das junge Fußball-Talent, dass es zu den renommierten Vereinen schaffen würde, doch ein Unfall hat all diese Hoffnungen zunichtegemacht und nun streift er durch seine Heimatstadt ohne zu wissen, was er sucht oder wohin er will. Er trifft ehemalige Freunde, verabschiedet sich von seinen Eltern, die auf dem Weg in die Türkei sind, landet in einem Striplokal und einem Spielcasino. Er sucht seine Ex-Freundin Sina auf, doch die will auch nichts mehr von ihm wissen. Während Kemal den Sinn im eigenen Dasein sucht, bricht derweil in dem Problemstadtteil Hawaii der Krieg aus. Neonazi wollen ihren Lebensraum zurück und Kemal sieht sich zwischen allen Fronten.

Cihan Acars reflektiert die Frage nach dem Dazugehören gleich auf mehreren Ebenen. Er lässt seinen Protagonisten drei Tage und einen Morgen durch die schwäbische Stadt streifen und in unterschiedlichsten Begegnungen wird diesem immer klarer, dass er weder weiß, wer er ist, noch wohin er gehört. Je mehr Menschen ihn vereinnahmen wollen, desto stärker wehrt er sich gegen eine Zuordnung und muss letztlich feststellen, dass er nirgendwo so richtig hineinpasst. Er muss seine Heimat vermutlich ganz woanders suchen. Die Grenzen verlaufen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, es gibt Türken, Deutsche und Deutschtürken, es gibt Reiche, Arme und die Dazwischen, man spricht Deutsch und Schwäbisch und Türkisch und irgendwas aus allem. Jedes kleine Merkmal kann die Gemeinschaft definieren oder zur Abgrenzung dienen, ein andauernder Tanz auf dem Vulkan, der jederzeit auszubrechen droht.

„Manche meinen, die Amis hätten den Namen eingeführt, also die Soldaten, die hier früher stationiert waren. Andere sagen, dass es ironisch gemeint ist, nach dem Motto: Was für eine miese Gegend, sind wir doch mal witzig und benennen sie nach einem Paradies.“

Hawaii, Heilbronn. Nicht die Inseln mit den Traumstränden, sondern das Problemviertel, das der Autor selbst gut kennt, stammt er doch aus Heilbronn. Eine Zukunft ist dort nicht zu erwarten, dies teilt der noch junge Protagonist mit der Stadt. Wo sich einst große Träume hinter den Augen abspielten – die zugewanderten Arbeiter, die in Deutschland gutes Geld für ein besseres Leben verdienen wollten, und Kemal Arslan, der davon träumte Fußballstar zu werden – ist nun nur noch Verfall. Am Ende ist die Hälfte niedergebrannt und lediglich Ruinen lassen erahnen, dass es einmal hoffnungsvolle Zeiten gab. Der Trümmerhaufen der Stadt spiegelt den Trümmerhaufen wieder, den Kemal empfindet. Doch um sich selbst wieder aufzubauen, müsste er wissen, nach welchem Plan er vorgehen muss.

Die Identitätsfrage wird das leitende Motiv in der Suche. Er ist nicht mehr der Fußballstar, der bei einem türkischen Club spielt und echte Fans hat. Doch er kann auch nicht mehr nur der Sohn eines türkischen Gastarbeiters sein, der in einer Reinigungsfirma sein bescheidenes Geld verdient. Um von der türkischen Community anerkannt zu werden, muss er deren Codes und Sichtweisen übernehmen, doch diese sind ihm fremd geworden. Von der Exfreundin und deren Familie und Freunden wird er als Sportler und damit Leistungsträger akzeptiert, sobald jedoch aus dem Star nur noch der verletzte Türke wird, sieht es mit der Akzeptanz dünn aus. In der ultimativen Konfrontation mit den Nazis und der Frage, zu welcher Seite er mit seinem untypischen, nicht unmittelbar zu identifizierenden Aussehen gehört, erkennt er, dass genau da der Knackpunkt liegt: er gehört nirgendwohin.

Bisweilen komisch, manchmal bizarr schildert Acar die Rastlosigkeit Kemals und erlaubt in seinen Konfrontationen einen Einblick in das komplexe Innenleben des Protagonisten, das man zu Beginn nicht erwartet hätte.