Arianna Farinelli – Aufbrüche

Arianna Farinelli – Aufbrüche

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario – dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.

Quo vadis, Gallia?

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Es ist vermutlich alles gesagt, was vor dieser Wahl gesagt werden musste. Jetzt sind die Wähler am Zug. Rund 47 Millionen Franzosen können unter zunächst 11 Kandidaten ihren Favoriten wählen. Zeit, einen literarischen Blick auf das Land zu werfen.

Gesellschaft

Édouard Louis beeindruckendes Debüt „En finir avec Eddy Belleguele“ schildert seine Kindheit und Jugend in der französischen Provinz, wo sich die Menschen abgehängt und vergessen fühlen und Gewalt und Brutalität den Alltag bestimmen.

Auch Saphia Azzeddine wirft den Blick an den Rand der Gesellschaft. „Mein Vater ist Putzfrau“ beschreibt das Überleben in der Cité aus der Sicht eines langsam erwachsen werdenden Jungen, der die Welt noch nicht ganz begreift, aber schon wesentliche Schwächen in ihr erfasst.

Mit großen Träumen flüchten Menschen nach Frankreich, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Aber das Versprechen kann nicht gehalten werden, manchmal geht es ihnen noch schlechter als in der Heimat, wie Shumona Sinha in „Erschlagt die Armen!“ eindrucksvoll vorführt.

Politik

Jérôme Leroy zeichnet in „Der Block“ den Aufstieg des Front National nach. Anhand zweier fiktiver Figuren lässt er den Leser nachvollziehen, wer sich von der Partei rechts außen angezogen und verstanden fühlt.

Michel Houellebecq viel diskutierter Roman „Soumission“, veröffentlicht am Tage der Anschläge auf Charlie Hebdo, zeichnet eine düstere Zukunft seiner Heimat – die Präsidentschaftswahl wird zur Wahl zwischen Pest und Cholera.

Karine Tuil ermöglicht den Blick in die inneren Mechanismen des Machtzirkels in Frankreich. „Die Zeit der Ruhelosen“ steht ebenfalls im Kontext von Ausgrenzung von Migranten, Bedrohung durch Terrorismus und der Machtlust einzelner.

Die Attentate und ihre Folgen

Der Angriff auf Charlie Hebdo im Januar 2015 sollte nur der Anfang von einer ganzen Reihe von schrecklichen Anschlägen in Frankreich sein. Maryse Wolinski, Gattin eines der ermordeten Zeichner, schildert ihre ganz persönliche Sicht auf den Tag und die Wochen danach in „Schatz, ich geh zu Charlie!

Antoine Leiris hat beim Angriff auf den Club Bataclan seine Frau und Mutter ihres nur wenige Monate alten Sohns Melvil verloren. Er verhalf seiner Wut Ausdruck in einem offenen Brief an die Attentäter, den er bei Facebook postete, in der Folge entstand sein Buch „You will not habe my hate“, in welchem er den Mördern genau das verweigerte, was sie unbedingt wollten.

Gila Lustiger liefert die Perspektive derjenigen, die nicht unmittelbar betroffen waren, sich aber dennoch getroffen fühlen von den Ereignissen und nach Wegen suchen, mit der Angst vor weiteren Attentaten umzugehen. In „Erschütterung“ sind ihre ganz privaten Gedanken als Jüdin im heutigen Paris nachzulesen.

Fazit

Bei all diesen doch eher trostlosen Blicken auf Land und Leute, bleibt vielleicht am Ende nur noch der Rückzug ins Private, vielleicht die Kneipe an der Ecke, wo es sicher auch ein morgen geben wird, wie uns Jérôme Ferrari in seinem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman „Predigt auf den Untergang Roms“ zeigt.

Hoffen wir, dass die 47 Millionen die richtige Wahl treffen.