Richard Powers – Erstaunen

Richard Powers – Erstaunen

Robin war immer schon anders als andere Kinder, was seine Eltern Theo und Alyssa jedoch nicht gestört hat. Doch seitdem die Mutter bei einem Unfall tödlich verunglückte, nehmen Robins Konflikte mit den Mitschülern zu, werden gewalttätiger und die Schulleitung setzt Theo unter Druck: er soll dem Jungen endlich Psychopharmaka verabreichen und ihn ruhigstellen. Doch der Astrobiologe traut den Diagnosen nicht: Autismus, Depression, ADHS – die Ärzte sind sich ja auch nicht einig. Er erinnert sich an ein Neurostimulanzverfahren, an dem er und Alyssa einst als Probanden teilgenommen hatten, vielleicht kann das dem Jungen ja helfen, besser mit anderen Menschen umzugehen. Denn eigentlich ist er ein aufgeweckter kleiner Mensch, der die Natur mit allen Sinnen aufsaugt und eins wird mit der Pflanzen- und Tierwelt und verstanden hat, dass der Mensch gerade dabei ist, all die Schönheit um uns herum zu zerstören.

Richard Powers Roman steht auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und auf der Longlist für den National Book Award, was man schon nach nur wenigen Seiten gut nachvollziehen kann. „Erstaunen“ lädt den Leser ein, die Welt mit neuen Augen zu sehen, sich zu wundern über das, was die Natur geschaffen hat, was um uns herum geschieht und diesen Schatz zu erkennen, den wir im Alltag allzu leicht übersehen. Es ist eine Hommage an die Schöpfung, nichts Geringeres und eine Anklage an die Menschheit, wie sie mit ihr umgeht. Selten wurde dieses Thema literarisch so überzeugend umgesetzt.

Den Hintergrund der Geschichte liefert das außergewöhnliche Vater-Sohn-Duo. Theo weiß um die Besonderheit und die Probleme seines Jungen, aber er und seine Frau habe gelernt damit umzugehen, wissen, wie sie ihn ansprechen und beruhigen können. Leicht ist es nicht, aber Robins Blick auf die Welt, sein unstillbarer Wissensdurst, wenn es um die Lebewesen geht, entschädigt für all die Sorgen. Beide haben den Verlust der Partnerin und Mutter nicht verkraftet, doch die Beobachtung der Natur, die Alyssa so am Herzen lag und für die sie unermüdlich gekämpft hat, bringen sie ihr und ihrer Überzeugung ein Stück näher.

Es ist kein leichter Schritt, in die Gehirnfunktion eines Kindes einzugreifen, doch scheinbar gibt das Verfahren den Entwicklern recht. Robin lernt, sich und seine Emotionen besser zu kontrollieren, sein Gehirn und seine Gedanken zu steuern und eine neutralere Haltung gegenüber den Menschen, die ihn vorher in Rage versetzt haben, einzunehmen. Doch die Wissenschaft will immer weitergehen und ein Vorschlag des Untersuchungsteams bringt noch eine ganz neue Facette ins Spiel, die jedoch Theos Grenzen herausfordert.

Auch wenn man nur mäßiges Interesse für Vögel oder das Universum mitbringt, kann der Autor mit seinen Beschreibungen und Erklärungen faszinieren. Er transferiert das, was den jungen Robin beeindruckt, sein Entdecken dieses wundersamen Planeten und des Weltalls, in außergewöhnlicher Weise in eine Geschichte, die eigentlich vor allem um bedingungslose Liebe geht. Bedingungslos zwischen Vater und Sohn, bedingungslos zwischen Robin und der nichtmenschlichen Welt, der er sich zunehmend näher fühlt als seiner eigenen Spezies. Ein in jeder Hinsicht herausragender Roman, der auch nachdenklich stimmt und einem nicht sofort loslässt.

Robert Hültner- Lazare und die Spuren des Todes

Robert Hültner – Lazare und die Spuren des Todes

Kommissar Lazare wird einmal mehr von Montpellier ins beschauliche Sète abgeordnet, um dort das Verschwinden einer jungen Frau aufzuklären. Eigentlich ein Fall für die lokale Polizei, weshalb er sich darum kümmern muss, kann der Ermittler nicht nachvollziehen. Doch er muss sich nicht lange um den vermeintlich simplen Fall kümmern, denn schnell schon wird er bei seinen Ermittlungen Opfer eines heimtückischen Überfalls, der ihn beinahe das Leben kostet. Frisch aus der Klinik entlassen beschließt er, sich in seiner Hütte in den Bergen zu erholen und alte Freunde zu besuchen. Doch auch in den abgelegenen Dörfern hat das Verbrechen Einzug gehalten und bald schon sieht er sich mit allerlei kriminellen Machenschaften konfrontiert.

Der zweite Fall für den südfranzösischen Ermittler ist ein komplexer Politkrimi, bei dem sich mehrere zunächst scheinbar isolierte Handlungsstränge erst spät zu einem Gesamtbild fügen. Auch wenn Robert Hültner die malerische Szenerie Südfrankreichs als Kulisse für die Geschichte wählt, hat diese nur wenig mit den typischen cosy crime Romanen zu tun, in denen hauptsächlich viel gegessen und getrunken und die Zeit dazwischen mit Landschaftsbewunderung gefüllt wird. Die Natur ist nicht unwesentlich für die Geschehnisse, der Autor baut diese jedoch überzeugend und sinnhaft ein, so dass sie nicht nur austauschbares Requisit bleibt, sondern ganz entscheidend zu dem Fall und dessen Lösung beiträgt.

Gleich mehrere parallel verlaufende Geschichten stehen zunächst lose nebeneinander. Zum einen das Verschwinden des muslimischen Mädchens Nadia, auf das sich niemand einen Reim machen kann und das erst nach dem Übergriff auf Lazare eine gewisse Brisanz erhält. Zum anderen der alte Siset, der schon seit Jahrzehnten eine abgelegene Hütte der Lazares bewohnt, nachdem er als spanischer Widerstandskämpfer nach Frankeich fliehen musste und nun plötzlich Besuch von einem alten Weggefährten erhält. Und dann ist da noch der Aussteiger Corentin Arnal, der ein bescheidenes Leben als Ökobauer abseits des Dorfes führen wollte und gegen den sich die ganze Welt verschworen zu haben scheint, obwohl die drohende Umweltkatastrophe für alle dramatische Folgen haben würde. Auch die ermittelnden Polizisten scheinen ihre eigene Agenda zu haben und weichen nicht mehr von den schnell festgelegten Tatvorgängen ab – warum bloß?

Robert Hültner wurde mir vor allem als Hörspielautor für die Radio-Tatort Folgen aus dem fiktiven bayerischen Bruck am Inn ein Begriff. Mit viel Liebe für Details hat er dort sympathische Charaktere geschaffen, die einem im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen sind. Gleichermaßen präsentiert er in seiner Lazare Reihe ebenfalls eigenwillige Figuren, die den komplexen Fall um heitere Momente ergänzen und so auflockern. Alles in allem die perfekte Sommerlektüre im Krimigenre.

Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo – Der freie Hund

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Wolfgang Schorlau/Claudio Caiolo – Der freie Hund

Nachdem er sich mit der sizilianischen Mafia angelegt hat, wird Commissario Antonio Morello zu seiner eigenen Sicherheit nach Venedig versetzt. Die Stadt, die alle in Verzückung versetzt, löst bei ihm nicht ansatzweise Begeisterung aus, viel lieber würde er zu Hause seinen Kampf fortsetzen. Auch die neuen Kollegen empfangen ihn mit wenig Freude, was soll ein Süditaliener in ihrer beschaulichen Lagunenstadt? Schon gleich erwartet Morello ein Mord, der ihm die Regeln Venedigs vor Augen führt: Der Spross einer wohlhabenden Familie wird erstochen aufgefunden. Als Anführer einer Studentenbewegung gegen Kreuzfahrtschiffe hat er sich eine Reihe von Feinden gemacht, doch wer wäre ernsthaft in der Lage, ihn für seinen Kampf für die Umwelt der Heimatstadt zu ermorden? Dass nicht nur in Sizilien Politik und Verbrechen eng verbandelt sind, überrascht Morello nicht wirklich, es macht die Aufklärung des Falls aber auch nicht leichter.

Mit seinen Kriminalromanen um den Privatermittler Georg Dengler hat der Autor Wolfgang Schorlau wiederholt bewiesen, dass das vermeintlich seichte Spannungsgenre das Potenzial hat, gesellschaftliche Missstände unterhaltsam aber doch kritisch in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Nie erzählt er nur eine Geschichte, es steckt immer viel mehr dahinter. Nun ein gänzlich neues Setting mit italienischem Ermittler vor Bilderbuchkulisse und noch dazu in großer Konkurrenz zu Donna Leon, die fraglos mit ihrem Commissario Brunetti Venedig eigentlich schon fest in ihrer Hand hält. Der Auftakt hat mir insgesamt gut gefallen, er hat aber noch Luft nach oben gemessen an anderen Romanen Schorlaus.

„Der freie Hund“ greift gleich zwei umstrittene Themen auf. Seit Jahren leidet die Serenissima unter der Masse an Touristen, die sie zu erdrücken droht. Einheimische werden mehr und mehr verdrängt, Mieten sind unbezahlbar und die Geschäfte richten sich mehr an den zahlungskräftigen Besuchern denn an den Bedürfnissen der realen Bewohner aus. Mit den riesigen Kreuzfahrtschifften kommt erschwerend die Belastung Umwelt hinzu, weshalb die Wirtschaftskraft Tourismus zunehmend kritisch gesehen wird. In genau diesen Konflikt platziert Schorlau seinen Mordfall, der zunächst vor allem viel Einblick in die Gesellschaftsstruktur gibt. Je weiter die Handlung voranschreitet, desto mehr rückt jedoch Morellos ganz eigenes Thema ins Zentrum. Der Glaube, die Mafia operiere nur im Süden des Landes, kann nur einer grenzenlosen Naivität oder einem bewussten Augenverschließen geschuldet sein und so wird schon bald offenkundig, was lange Zeit nur der Commissario sieht: die Lagunenstadt wird ebenso für die Interessen der Clans genutzt, wie auch Palermo.

Die beiden Themen verknüpfen Schorlau und sein italienischer Kollege Caiolo in ihrem Krimi geschickt miteinander. Mehr noch als der eigentliche Mordfall haben mich die Figuren überzeugen können, das Personal der Questura bietet einige interessante Ermittler, die in weiteren Fällen noch spannende Aspekte liefern dürften. Vor allem Morellos kleinkrimineller Freund jedoch wird einem sofort sympathisch, was auch positiv auf den Ermittler abfärbt, der so nicht nur wie ein gesetzestreuer und ernsthafter Commissario wirkt, sondern zeigt, dass er durchaus eine gewisse Grauzone geben kann. Insgesamt eine unterhaltsame Angelegenheit, die für meinen Geschmack allerdings etwas weniger italienische Kulinarik, sondern noch mehr politische Brisanz hätte haben dürfen, das Abdriften zum etwas seichten cosy crime gelingt nämlich gerade noch so.

Judith Visser – Mein Leben als Sonntagskind

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Judith Visser – Mein Leben als Sonntagskind

Jasmijn ist kein ganz normales Mädchen zu Beginn der 80er Jahre in Rotterdam. Sie ist lieber für sich alleine, Lärm und grelles Licht lösen Migränen aus und zu ihren Mitmenschen findet sie nur schwer Kontakt. Ihre Mitschüler finden sie sonderbar, geradezu arrogant, weil sie sich immer absondert. Was stimmt mit diesem stillen Mädchen nicht? Jasmijn und ihre Familie wissen es auch nicht, sie war schon immer so, nur ihr Hund Senta scheint sie zu verstehen. Je älter sie wird, desto auffälliger ist ihr Verhalten, aber für Jasmijn ist alles in Ordnung, so lange niemand ihre Routinen stört und sie sich zurückziehen kann.

Als Leser weiß man recht schnell, weshalb Jasmijn in einer anderen Welt lebt und ihre Wahrnehmung so sehr von der ihrer Mitmenschen abweicht. Sie ist als Autistin recht funktional, hat aber ihre Grenzen, die sie auch nicht überschreiten kann. Dank verständnisvoller Eltern kann sie sich entwickeln und sie halten ihr den Rücken frei, auch wenn sie sie immer wieder zu „normalem“ Verhalten ermuntern, üben sie doch keinen großen Druck auf sie aus, was ein Glücksfall ist.

Die Entwicklungsstörungen im Autismus-Spektrum sind für mein Empfinden in den letzten Jahren immer weiter in den gesellschaftlichen Fokus gerückt und haben das einseitige Bild von „Rain Man“ abgelöst. Auch in der Literatur wird das Thema zunehmend aufgegriffen, was ich sehr begrüße, da es Einblick in die Wahrnehmung der Betroffenen gibt und ein vielfältiges Bild der Entwicklungsstörung zeigt. Es sind keine völlig verschrobenen Außenseiter, ganz im Gegenteil, viele Leben wie Jasmijn – oder auch die Autorin selbst – Jahrzehnte ohne Diagnose und Verständnis ihrer Umwelt.

Jasmijn wird authentisch geschildert, vor allem ihre Wahrnehmungen als kleines Kind sind leicht nachvollziehbar und verdeutlichen, weshalb unsere Umwelt mit all den akustischen, optischen und olfaktorischen Eindrücken sie erschlagen. Die fehlende Filterfunktion des Gehirns muss zu einer Überforderung führen, die im Buch sehr deutlich wird. Auch wie sie mit Hilfe von Comics versucht Emotionen in Gesichtern lesen zu lernen oder dass sie sich immer wieder aktiv ins Gedächtnis rufen muss, dass sie ihre Gesprächspartner ansehen muss, zeigen, wie anstrengend der Alltag sich für Autisten gestaltet und welche unterbewussten Mechanismen von ihnen mühsam aktiv angesteuert werden müssen.

Ein liebenswerter Einblick in eine andere Welt, den ich nur nachdrücklich empfehlen kann.

Maja Lunde – Die Geschichte der Bienen

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Maja Lunde – Die Geschichte der Bienen

Bienen – alltägliche Insekten, wichtigste Bestäuber und somit Grundlage vieler unserer Pflanzen. Als Thema in der Literatur eher ungewöhnlich. Doch Maja Lunde hat um die kleinen Tierchen einen Roman geschaffen, der Jahrhunderte und Kontinente verbindet und womöglich ein Thema fokussiert, das wir bislang sträflich vernachlässigt haben.

Im Jahr 2098 gibt es keine Bienen mehr. Die Arbeiterin Tao muss in China die Aufgabe des Bestäubens per Hand erledigen. Ein Knochenjob, gering bezahlt und mit großem Risiko. Knapp hundert Jahre zuvor begann das Bienensterben, das auch den Imker George in Ohio im Jahr 2007 trifft und der plötzlich seine Existenzgrundlage schwinden sieht und das Erbe, das seine Familie seit Generationen weitergegeben hat, aufgeben muss. 150 Jahre zuvor wurde erstmals intensiv beobachtet, wie die Völker leben und arbeiten und der britische Biologe William entwickelte einen neuartigen Bienenstock, der die Honigernte erleichterte und den Anbau erst im großen Stile ermöglichte. Drei Jahrhunderte, drei Kontinente, drei Lebensgeschichten, die jedoch geschickt mit einander verbunden werden.

Die Schicksale von Tao, George und William werden im Wechsel erzählt. Wie sie zusammenhängen über das Phänomen der Bienen hinaus, wird erst im Laufe der Geschichte klar und ist von Maja Lunde gelungen konstruiert worden. Die Entdeckung der Funktionsweise und Relevanz der Bienen, ihr Niedergang durch Pestizide und dadurch bedingte Lebensmittelknappheit, die harte Suche nach Alternativen – die Geschichte der Bienen ist symptomatisch für den menschlichen Umgang mit der Natur. Die eigene Existenzgrundlage zerstören ohne die Folgen zu Bedenken. Momentane Gewinnmaximierung über das ökologische Gleichgewicht stellen – die Menschheit wird eines Tages den Preis für ihre Gier und Rücksichtslosigkeit bezahlen müssen. Und dieser Preis ist hoch, wie Maja Lunde ungeschönt darstellt.

Doch es sind nicht nur die Ökologie und Umweltzerstörung, die im Roman thematisiert werden. Daneben kämpfen alle drei Figuren mit den Fragen der Familienstrukturen und den Erwartungen an die nachkommende Generation. William hofft, dass sein erstgeborener Sohn in seine Fußstapfen treten wird und den Naturwissenschaften und der Forschung ein ähnliches Interesse entgegenbringt wie er selbst. Doch Edmund kann der Neugier und dem Enthusiasmus seines Vaters nicht folgen. Es ist nicht nur Desinteresse, nein, er verachtet ihn wegen des zunächst ausbleibenden Erfolges sogar. Ähnlich ergeht es George, der ganz im Imkerdasein aufgeht, dessen Sohn Tom jedoch schon früh mehr Interesse am Journalismus findet und die Arbeit mit den Bienen eher als lästige Pflicht sieht. Erst als die Familie vom Wandel hart getroffen wird, kann er wieder auf seinen Vater zugehen. Auch Tao hat große Erwartungen an ihren Sohn. Selbst konnte sie ihren Bildungseifer nicht verwirklichen, daher setzt sie alles auf den kleinen Jungen. Doch das Schicksal hat einen anderen Plan für ihn und zunächst wird auch er für große Trauer und Verzweiflung bei den Eltern sorgen.

Bibiana Beglau, Thomas M. Meinhardt und Markus Fennert leihen den drei Geschichten ihre Stimmen, was einen stetigen und lebendigen Wechsel im Hörbuch schafft und die Orientierung in Zeit und Ort erleichtert. Für mich eine echte Überraschung, ist das titelgebende Thema nun keins, das mich direkt hätte anlocken können. Aber der Autorin gelingt es, die Bienen auf eine neue Art unterhaltsam darzustellen und um sie herum drei lesenswerte und in sich völlig verschiedene Geschichten zu kreieren.