Timur Vermes – U

Timur Vermes – U

Ausgelaugt kommt die Lektorin Anke Lohm abends am Bahnhof an und will nur noch schlafen. Nur wenige Stationen mit der U-Bahn trennen sie von der Wohnung ihrer Freundin Kiki, die Nummer der Bahn und die Haltestelle hat sie griffbereit notiert. Doch dann: Baustelle, ein Dschungel an Wegen und Unübersichtlichkeit und immer auch den sperrigen Koffer dabei. Endlich erreicht sie die Haltestelle, sogar die Bahn wartet noch, doch der Wagen stinkt, Erbrochenes, also schnell raus und in den nächsten, wo bereits ein junger Mann sitzt. Dann Abfahrt, die Bahn rauscht los und – hält nicht mehr an. Die Minuten vergehen, doch es kommt einfach keine Haltestelle. 2 Minuten – 5 Minuten – 10 Minuten. Wie kann das sein? Und: was ist zu tun?

Mit „Er ist wieder da“ hatte Timur Vermes mich direkt begeistern können, ein schräges Setting, gnadenlos zu Ende gedacht, einfach herrlich. Auch mit „Die Hungrigen und die Satten“ hat er gezeigt, dass er literarisch den Finger in die Wunde legen kann und dem Leser die Groteske des Alltags vorgeführt. Die Freude über einen neuen Roman war ebenso groß wie die Erwartungen. „U“ ist jedoch in keiner Weise vergleichbar mit den beiden anderen Romanen des Autors, für mich eher ein experimentell umgesetzter Stream of Consciousness, der in Echtzeit die Erlebnisse, Gedanken, Empfindungen wiedergibt und auf Rahmung verzichtet.

Man steckt fest mit den Figuren und weiß nicht, was man davon halten soll und ob die verirrte Bahn irgendwann wieder in einen sicheren Bahnhof einfahren wird. Die Erzählweise lässt die Handlung unmittelbar wirken, durch die typografische Gestaltung wird Lautstärke verdeutlicht und Verzweiflung greifbar. Elliptische Dialoge und innerer Monolog gestalten das Horrorszenario, das die beiden Protagonisten an den Rand des Wahnsinns treibt.

Setting wie auch Plot sind gut gewählt, allerdings funktioniert für mich die Umsetzung in Buchform nur bedingt. Mir fehlt der erzählerische Halt, die Orientierung, die ein Erzähler hätte liefern können. Als Hörbuch (oder eher noch Hörspiel bzw. auf der Bühne) dagegen kann „U“ sicherlich großartig wirken, weil sich dort akustisch unterstützt die Dramatik besser entfalten kann als durch die Typografie. Auch das Ende ließ mich etwas ratlos zurück, auch wenn es die Handlung abrundet, bleibt doch ein Eindruck von Verwirrtheit und große Fragezeichen.

Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Eines dieser Unglücke, von denen sich jeder später fragt, wie sie geschehen konnte. Wegen eines Unwetters strömen Menschenmassen in die U-Bahn, die dem Ansturm nicht gewachsen ist, Panik und Enge führen zu unzähligen Opfern. Unter ihnen auch der Schüler des Konservatoriums Franzisk, der zwar überlebt, aber in ein Koma fällt. Nach Wochen des Bangens verlieren nach und nach alle die Hoffnung, außer seiner Babuschka, die weiterhin täglich an seinem Bett sitzt und ihm davon erzählt, was sich außerhalb der Krankenhausmauern zuträgt. Das Wunder, an das keiner mehr glauben mag, ereignet sich nach zehn langen Jahren doch noch: Franzisk erwacht und sieht eine Welt, die einerseits genauso ist wie ein Jahrzehnt zuvor und doch ganz anders.

Sasha Filipenko ist eine der jungen Stimmen aus Belarus, die über die Landesgrenzen hinaus gehört werden und einen Blick hinter die Fassade des Regimes erlauben. „Der ehemalige Sohn“ ist sein erster Roman, der in seiner Heimat auch mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, auf Deutsch ist im vergangenen Jahr bereits „Rote Kreuze“ erschienen. Als Journalist macht er Missstände öffentlich und engagiert sich für die Protestbewegung, dieses politische Engagement spielt auch in seinem Debütroman eine entscheidende Rolle.

Der erste Teil des Romans lässt den Leser in die gesellschaftlichen Strukturen des recht abgeschotteten Landes am östlichen Rand Europas blicken. Auf den Staat hofft niemand, die Familie und Beziehungen sind es, die darüber bestimmen, welche Chancen und Möglichkeiten man hat. Die öffentliche Hand ist von Korruption unterwandert und ein falsches Wort kann zu drakonischen Strafen führen, was im kollektiven Rückzug ins Private resultiert. Während Franzisk im Koma liegt, sorgt dich die Großmutter aufopfernd um ihn und lässt nichts unversucht, während seine Mutter mit dem Arzt anbändelt, um sich selbst ein besseres Leben zu ermöglichen.

„Ich will einfach sehen, dass außer mir auch andere Leute hinausgehen, die genauso nicht an diese Farce glauben, und spüren, dass ich nicht die einzige Geisel in diesem Narrenhaus bin.“

Franzisks Welt ist eingefroren im Jahr 1999, dies erlaubt ihm den Blick eines Fremden, als er seine Heimat 2009 neu kennenlernt. Trotz formeller Unabhängigkeit hängt das Land noch immer am Tropf des großen Bruders, der über ausreichend Druckmittel verfügt, Belarus gefügig zu machen. Der vorgeblich demokratisch gewählte Präsident ist ein Autokrat wie er im Buche steht und der keine Scheu zeigt, gegen sein Volk alle verfügbare Gewalt anzuwenden, um dieses in Schach zu halten. Die staatliche Propaganda glaubt schon lange niemand mehr und wer kann, der flieht ins Ausland. Der Protagonist muss sich schon fragen, weshalb er in dieses Leben zurückgekehrt ist.

Auch in diesem Roman gelingt Filipenko das Private mit dem Politischen zu verbinden und über die Erzählung hinaus nachzuwirken. Die Musik spielt ebenfalls wieder eine wichtige Rolle und dient letztlich als Flucht vor einer kaum ertragbaren Realität. Nicht ganz so ausdrucksstark wie sein späterer Roman „Rote Kreuze“ lässt aber auch dieser schon erkennen, dass man es mit einem beachtenswerten Autor zu tun hat, der unbedingt gehört werden sollte, da er Literatur nicht nur als Unterhaltungsmedium, sondern auch als Sprachrohr nutzt und damit auch an seine Leser eine Aufforderung über den Genuss der Geschichte hinaus sendet.