Matt Haig – Der fürsorgliche Mr Cave

Matt Haig – Der fürsorgliche Mr Cave

Der Antiquitätenhändler Terence Cave will nur seine Familie beschützen, was bislang nicht gut gelungen ist. Seine Mutter hat sich das Leben genommen und obwohl er damals noch ein Kleinkind war, suchte er die Schuld bei sich. Auch seine Frau kam ums Leben, weil er passiv war und sie nicht beschützt hat. Und nun Reuben, sein Sohn und Zwillingsbruder von Bryony, die einzige, die ihm noch geblieben ist. Doch aus dem wohlerzogenen Mädchen wird ein Teenager und ihr setzen die Verluste ebenfalls zu. Terence sieht rot, vor allem als sich seine Tochter sich mit Denny einlässt, einem Boxer, der dabei war, als eine ganze Gruppe von Jungs Reuben in den Tod betrieben haben. Die Lage spitzt sich zu zwischen Vater und Tochter, je mehr er beschützen will, desto stärker ihre Gegenwehr, bis es zu gänzlichen Eskalation kommt.

„Der fürsorgliche Mr Cave“ ist Matt Haigs dritter Roman, der im Original schon 2008 erschien, jetzt jedoch erst ins Deutsche übersetzt wurde. Haben seine hier bekannten und erfolgreichen Romane häufig spekulative und magische Elemente, wirkt dieser geradezu ernsthaft, wobei auch der Protagonist unter Halluzinationen und realistischen Träumen leidet, die sich jedoch durch seine Traumatisierung durch die Verluste, die er nicht verarbeitet hat, erklären lassen. Der Roman ist das Vermächtnis eines verzweifelten Menschen, der das Beste wollte und das Schlimmste angerichtet hat.

Zunächst weiß man nicht genau, an wen sich Terence Cave in seinem langen Brief richtet, bald schon wird jedoch klar, dass es seine Tochter sein muss, der er sich und seine Sicht erklären will. Es ist offenkundig, dass etwas Schlimmes geschehen sein muss, dass es zu dieser für den Erzähler schmerzhaften Reflexion seines eigenen Handelns gekommen ist. Er hat Fehler gemacht, viele, mit schwerwiegenden Folgen, die er nun nicht mehr leugnet. Seine Intentionen waren gut, aber ach, die Mittel, die Borniertheit, der Tunnelblick, all das hat ihn daran gehindert auf seine Schwiegermutter zu hören und anders mit Bryony umzugehen.

Immer mehr steigert sich Mr Cave in etwas hinein, obsessiv versucht er Bryony das kleine Mädchen sein zu lassen, dass Cello und Hockey spielt und auf den Vater hört. Das Mädchen, das nicht aufbegehrt und keine Probleme macht, ganz anders wie ihr Bruder. Im Unterschied der Geschwister lag der Ausgang allen Unglücks.

Mr Cave ist ein klassischer tragischer Held, der in einem Alptraum gefangen ist, aus dem er sich und seine Tochter nicht befreien kann. Eine Tragödie durch und durch, wobei man sich – bei allen nachvollziehbaren Argumenten – nicht mit Cave identifiziert und somit trotz der gewählten Perspektive immer eine Distanz zwischen Leser und Text bleibt.

Felicity Ward – Sag mir, wer ich bin

Felicity Ward – Sag mir, wer ich bin

Es war nicht einfach für die 16-jährige Sally ihre Eltern davon zu überzeugen, sie statt in die Schweiz nach Paris zu schicken. Kaum angekommen wird sie übel zugerichtet an der Gare Lazare gefunden und kämpft im Krankenhaus ums Überleben. Sie wurde von einem Mann entführt, misshandelt und beinahe vergewaltigt. Aber das kann sie ihren Eltern nicht erzählen, auch ihre Erinnerungen an ihren Peiniger und das, was genau geschehen ist, sind eher diffus, weshalb sie schweigt. Viele Jahre lang, doch die Angst begleitet sie, auch wieder zu Hause in Montreal. Auf der Straße, in Aufzügen, überall fürchtet sie sich. Eine Beziehung mit einem Mann – unvorstellbar. Ihr Job bei einer Hilfsorganisation für Frauen in Not verstärkt ihre Überzeugung, dass alle Männer gewalttätig sind zudem. Erst ihrem Patenonkel gelingt es Jahre später, dass sie über das Erlebte sprechen kann, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie ihre Angst auch loswird, denn die Gefahr bleibt: will der Mann das zu Ende bringen, was er Jahre zuvor begonnen hatte?

Wenn ein Roman von einem Vorwort begleitet werden, frage ich mich meist, ob es dem Autor oder der Autorin nicht gelungen ist, das, was er oder sie sagen wollte, in der Geschichte zu verarbeiten, so dass zusätzliche Erklärungen erforderlich werden. Im Falle von Felicity Wards Roman sieht dies jedoch anders aus. Bevor man sich auf Sallys schreckliche Erlebnisse einlässt, wird das Trauma psychologisch eingeordnet und auch das schwierige Verhältnis der französisch- und englischsprachigen Kanadier miteinander historisch eingeordnet. Beides ist zum Verständnis unterstützend hilfreich, vor allem Sallys Zustand, der ihre Mitmenschen schier verzweifeln lässt, ist nicht einfach nachzuvollziehen, wenn man sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen nicht auseinandergesetzt hat. Dies ist das zentrale Element der Geschichte: der Körper heilt, die Spuren des Überfalls sind bald schon nicht mehr zu sehen, aber die Wunden auf der Seele schließen sich nicht.

Man wünscht sich nichts mehr, als dass die junge Frau sich von den Dämonen, die sie immer wieder heimsuchen, befreien kann. Es sind die kleinen Details, die die Autorin überzeugend eingefangen hat, die Hinweise darauf geben, dass Sally nichts überwunden, nichts verarbeitet hat. Ihr ganzes Leben wird akribisch um das Trauma eingerichtet. Nie als erste im Restaurant sein, nie alleine mit einem Mann in einem Auto sitzen. Sie versucht zwar hin und wieder eine Konfrontation, aber professionelle Hilfe lehnt sie ab und so verfestigt sich ihr schlechter Zustand zusehends, den sie –  für die Außenwelt etwas beschönigt – versucht zu verstecken. Die Geduld, die ihr Patenonkel aufbringt, ist unglaublich, und auch er verfällt der Illusion, irgendetwas dauerhaft zum Besseren verändern zu können.

Das Verhältnis der sich wenig positiv gesinnten Bevölkerungsgruppen Kanadas, die sich durch Sprache und Religion unterscheiden, wird immer wieder gestreift. Tief verwurzelte Vorurteile, absurdeste Zuschreibungen – man kann kaum glauben, wie borniert die Menschen sein konnten – und auch vielfach heute, fast 50 Jahre nach dem Zeitpunkt der Handlung – noch sind.

Ein eindrücklicher Roman, der sicherlich nicht für jedermann eine passende Lektüre ist. Hervorragend gelingt es Felicity Ward, die Folgen – und auch Ursachen, die sich erst viel später erklären – eines traumatischen Erlebnisses zu schildern und nachvollziehbar zu verdeutlichen, weshalb eine Rückkehr in das normale Leben bisweilen eben nicht möglich ist. Trotz, oder gerade wegen, der Schwere der Thematik eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

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Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

Ein Sommerabend ändert alles im Leben eines jungen Mädchens. Eigentlich will sie mit ihrem kleinen Bruder nur beim Eismann eine Leckerei holen, doch der Sahnespender explodiert und beide müssen mitansehen, wie das Gesicht des Mannes hinweggefegt wird. Bei dem 7-jährigen Gilles hinterlässt der Schock tiefe Spuren, erst spricht er gar nicht mehr, dann verändert sich sein ganzes Wesen: aus dem zugewandten, fröhlichen Kind wird ein zurückgezogener, geradezu besessener Junge, der bald schon beginnt, den aufgestauten Frust an Tieren auszulassen. Dies ist sein einziges Ventil, ähnlich wie bei seinem Vater, der seine Frustration regelmäßig an der Mutter abarbeitet. Verzweifelt und einsam muss das Mädchen mitansehen, wie das Grauen ihre Familie übernimmt. Sie sieht nur eine Chance auf Rettung: sie muss eine Zeitmaschine bauen, um an jenen Tag unheilvollen Tag zurückzukehren und ihr Eis ohne Sahne zu bestellen.

Adeline Dieudonnés Roman geht vom ersten Moment an unter die Haut. Gerade weil sie die Perspektive der jungen, namenlosen Ich-Erzählerin gewählt hat, wirkt deren Schmerz, den diese erleidet, umso stärker. Dass diese Geschichte kein wirkliches Happy-End haben kann, ist offenkundig, es bleiben beim Lesen immer nur die Fragen: wie schlimm wird es kommen, was wird noch geschehen und vor allem: wie soll ein Kind all das ertragen?

Das tragische Ereignis eines Unglücksfalls wie jenes mit dem Sahnespender genügt eigentlich schon, um sich nachhaltig im Bewusstsein eines Kindes zu verankern. Die posttraumatische Belastungsstörung, die Gilles erlitten hat, bleibt unbehandelt und die Folgen werden von Adeline Dieudonné authentisch wiedergegeben. Die verschiedenen Stadien, die der Junge durchläuft, die seine Persönlichkeit tiefgreifend verändern, werden zwar durch die Augen der nur unwesentlich älteren Schwester geschildert, aber sie ist eine aufmerksame Beobachterin und kann diese passend in Worte fassen.

Ebenso stark wirkt die häusliche Gewalterfahrung, die die Kinder machen. Es bleiben ihnen nur zwei Rollenbilder: Der Jäger und die Beute, die sich, zudem vom Vater gleichermaßen anschaulich verdeutlicht, in der Tierwelt auch wiederfinden lassen und zunächst keine Alternative oder Ausweg bieten. Es ist unglaublich, über welche Resilienz das Mädchen verfügt und wie es ihr gelingt – zunächst mit dem Ziel eine Zeitmaschine zu bauen, später mit dem größeren Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis – selbst kein destruktives Verhalten, sondern eine innere Stärke und Distanz zu entwickeln. Trotz all der Trostlosigkeit lässt sich so doch ein Funken Hoffnung in der Geschichte finden.

Es ist kein Buch für Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zu stark würde ich das Leseerlebnis einordnen und ganz sicher davor warnen wollen. Gerade aber auch aus diesem Grund finde ich solche Erzählungen wichtig, denn eine Sache wird ebenfalls transportiert: über viele Jahre bleibt die Gewalt – physisch wie psychisch – unentdeckt, die Kinder wie auch die Mutter entwickeln immer bessere Strategien des Versteckens. Es braucht schon sehr aufmerksame und einfühlsame Menschen in der Umgebung, um diese zu erkennen und eingreifen zu können. An der Figur des Professor zeigt sich jedoch auch, dass manchmal das einfache Dasein, ohne aktives Eingreifen, schon ganz viel bedeuten kann.

Laurie Halse Anderson – Speak

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Laurie Halse Anderson – Speak

Alle hassen Melinda Sordino, niemand will mehr mit ihr befreundet sein, nachdem sie bei einer legendären Party im Sommer die Polizei gerufen hat. Nur Heather, die neu an der Schule ist, spricht noch mit ihr. Melinda geht es zunehmend schlechter, sie hat nicht ohne Grund die Polizei gerufen an diesem Abend, sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte, nachdem sie von Andy Evans vergewaltigt worden war. Doch sie kann mit niemandem darüber sprechen. Sprechen fällt ihr ohnehin zunehmend schwerer und deshalb schweigt sie. Gegenüber den Mitschülern, gegenüber den Lehrern, gegenüber den Eltern. Ihre Noten werden immer schlechter, sie schwänzt die Schule, versteckt sich in einer Abstellkammer, ihrer einzigen Zuflucht, aber statt sie zu fragen, was mit ihr los ist und die Depression und post-traumatische Störung zu erkennen, wird sie als renitente Schülerin abgestempelt.

Das Jugendbuch „Speak“ ist inzwischen zwanzig Jahre alt und so etwas wie ein Klassiker unter den Traumabüchern. Erst viele Jahre nach Erscheinen des Buchs und zahlreichen Lesungen in Schulen hat die Autorin eingeräumt, dass die Geschichte auf ihren persönlichen Erfahrungen basiert und sie ebenso wie ihre Protagonistin als junges Mädchen vergewaltigt wurde und nicht darüber gesprochen hat. Aufgrund des Triggerpotenzials wird „Speak“ unterschiedlich aufgenommen, zahlreiche Preise anerkennen den literarischen und vor allem inhaltlichen Wert für Jugendliche, gleichermaßen ist es an zahlreichen Schulen und Universitäten verboten.

Auch wenn ein depressives, traumatisiertes Mädchen im Zentrum der Handlung steht und die Geschichte aus ihrer Perspektive geschrieben ist, empfand ich dies beim Lesen als übermäßig belastend. Es ist weniger das Ereignis selbst, als viel mehr das Unvermögen ihres Umfeldes zu erkennen, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung ist, dass sie sich zurückzieht, auch mit Ritzen experimentiert und nicht mehr spricht, das thematisiert wird. Melinda versucht selbst, einfach zu vergessen, was an dem Abend geschehen war, ein unmögliches Unterfangen, denn die Flashbacks lassen sich nicht aufhalten und so muss sie sich dem Erlebten immer wieder stellen.

Bemerkenswert fand ich, dass die Autorin nicht nur Melindas Innenleben und die Folgen des Traumas authentisch und überzeugend dargestellt hat, sondern auch, wie viel unter der Erzählebene versteckt liegt. Die Suche der Schule nach dem Maskottchen, das identitätsstiftend wirken soll und doch aufgrund der vielfältigen Konnotationen immer wieder abgelehnt wird – kann dies in einer diversen Gesellschaft überhaupt noch gelingen? Oder auch Melindas Gespräche mit einem Poster Maja Angelous, der Autorin, die ihre Gewalterfahrungen literarisch in „I Know Why the Caged Bird SIngs“ verarbeitete und die Besprechung von Hawthorne, in dessen Protagonistin Hester Prynne Melinda sich wiedererkennt. Allem voran jedoch ihr Jahresthema im Kunstunterricht: sie soll einen Baum schaffen, doch ihre Versuche enden immer in einem toten Geäst, es findet sich kein Leben in der Pflanze, keine neuen Blätter entstehen mehr, denn die Kraft des Lebens fehlt.

In jeder Hinsicht ein anspruchsvolles Jugendbuch, das einerseits ein wichtiges Thema beleuchtet, gleichzeitig fürchte ich jedoch, dass nicht jede junge Leserin bzw. auch jeder junge Leser gut damit umgehen kann, vor allem, wenn sie sich in Melinda wiederkennen und das Lesen ihre Trauma verstärken könnte.

Liese O’Halloran Schwarz – The Possible World

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Liese O’Halloran Schwarz – The Possible World

Being invited to a birthday party isn‘t something that comes easy for Ben. Too many things can happen, all is so unpredictable with other boys, but his mother can convince him to go nevertheless. And then, the most unexpected happens: a murderer comes to the party and kills the two mothers in the house as well as all of the kids, except for Ben. In hospital, Lucy can only determine that he hasn’t been hurt physically, but there seems to be a kind of trauma since Ben wants to be called Leo and remembers life with a certain Clare. At an elderly home somewhere in town, Clare is fighting again against having to socialise. Her life alone in a recluse hut and later with her foster child Leo has simply been perfect. How come Ben remembers being Clare’s son Leo?

Liese O‘Halloran Schwarz‘ novel is one of the rare books that you just open and then get completely lost in. I read it in just one sitting because I simply did not want to get away from her characters. It is bittersweet, often melancholic, but you see the good heart the characters have and you are convinced that there must be something good coming from them. It is a perfect feel-good book, even though it tells harsh reality in an emergency room and the story of a child given away by his mother.

I liked the alternate narration of the three protagonists, even though it did not completely make sense at the beginning, you slowly manage to put together the puzzle pieces that form a new and complete picture. All three are very sensitive characters, misunderstood by the people around them and therefore lonely. I guess these kind of people recognize each other what helps them to find each other. What also links them is the fact that they are highly intelligent and question the world: why do the things have to be the way they are and why don’t people change something about it?

A beautifully written story about non-mainstream characters who can easily be overlooked.

Aminatta Forna – Happiness

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Aminatta Forna – Happiness

They meet by accident, but somehow they have known each other forever. Attila, a Ghanaian psychiatrist, has come to London to give a speech at a conference. He is a specialist in post-traumatic stress and has seen the worst the world has to offer. But this is not the only thing he has to do there. First of all, he has to find the daughter of some of his friends who hasn’t called for a couple of days and who, together with her son, seems to be missing. Another thing task waiting for him is to visit Rosie, his former colleague and lover. She is in a home, not aware of the world anymore, waiting for her life to come to an end. While Attila is occupied with the humans around him, the American biologist Jean cares a lot more for the animals. Especially foxes around town. She is fighting a hopeless battle against those who want to kill them all and do not understand that this is not how things work with wild animals.

Aminatta Forna’s novel has a title which could hardly fit better: “Happiness”. The whole story is about happiness and the question what you need in life to be happy and what happiness means after all. But maybe it is not happiness that we are looking for, but rather – as one of the characters puts it – hope. Without hope, there is not future, but you can have a whole lot of future without happiness.

Both Jean and Attila are most interesting characters in their very own ways. The author has done a great job in creating them and in opposing them, their view of the world and the way they approach life. They have some similarities, too, their principles and beliefs and the fight for what they believe is the right thing – it is not easily nowadays to find people with such strong convictions.

Yet, what I loved most about the novel were the really poetic ways of unobtrusively talking about life and love in a philosophical way. She captures the fragility of love and our existence in a way that is hard to excel. I really fell for the language in this novel and was waiting eagerly to find more of those passing comments that capture so much truth in this unassuming, shy way:

The reckless open their arms and topple into love, as do dreamers, who fly in their dreams without fear or danger. Those who know that all love must end in loss do not fall but rather cross slowly from the not knowing into the knowing.

It is a bittersweet story, full of love and loss, life and death. And certainly one of the most remarkable novels of this spring.