Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Güldene Kammer Nummer 14, drittes OG rechts. Dort wohnt Familie Mohn. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve. Alles war gut, doch jetzt ist nichts mehr gut, denn Mutter Johanne fehlt und nach und nach lösen sich die Erinnerungen auf und gehen Gegenstände kaputt, die sie mit ihr verbunden hatte. Alles, was der Familie geblieben ist, sind die Tagebücher, die sie nicht lesen, sondern aus denen sie allabendlich Seiten reißen und essen. Jedes der vier Mitglieder geht anders mit der Trauer um, aber niemandem gelingt es wirklich, mit der großen Lücke, die die Abwesenheit reißt, umzugehen.

Stefanie vor Schulte macht in ihrem zweiten Roman Trauerarbeit zum zentralen Thema, bzw. eher nicht stattfindenden Trauerarbeit, denn alle Figuren in „Schlangen im Garten“ sind einfach alleingelassen mit dem Schrecken, der das plötzliche Fehlen in ihnen auslöst.

Der Vater wird apathisch, schafft es nicht, die Strukturen aufrecht zu erhalten. Micha versinkt in einer Traumwelt, Linne reagiert mit Trotz und Wut, die sich in Gewalt äußern. Steve, etwas älter als die Geschwister, versucht aufzufangen, was der Vater nicht leisten kann und leidet doch selbst auch. Die Nachbarn und Lehrer beobachten, was mit den vier passiert, doch statt zu helfen, klagen sie an, beschweren sie sich, versuchen sie zu bestrafen. Warum funktionieren sie einfach nicht mehr? So sind sie untragbar, suspekt.

Die Reaktionen der einzelnen Figuren auf den plötzlichen Tod der Mutter sind für mich gut nachvollziehbar und wirken authentisch. Jeder reagiert auf seine Weise, hat andere Bedürfnisse, gerät auf andere Weise aus der Bahn. Der gegenwärtige Glaube, dass man schon nach zwei Wochen wieder ins alte Leben zurückkehren könne, als wenn nichts geschehen wäre, ist absurd, wusste man früher doch von einem ganzen Trauerjahr, das es erfordert, um das Leben ohne einen geliebten Menschen zu gestalten. Erschreckend, wie empathielos das Umfeld reagiert, dem offensichtlich Verständnis, aber auch Mittel fehlen, um adäquat zu reagieren und mit dem umzugehen, was die Familie durchmacht.

Das Ende stimmt zwar etwas versöhnlich, aber es bleibt ein fader Beigeschmack, denn der Roman zeigt genau das auf, was heute unsere Gesellschaft prägt: niemand will wirklich damit konfrontiert werden, dass es einem anderen nicht gut geht. Alle sollen doch bitte reibungslos funktionieren und die ihnen zugewiesene Rolle ausfüllen. Ausreißer sind ein Problem fürs System, dabei würde ein wenig Zuwendung und Verständnis schon so viel bewirken können.

Sicherlich kein leichter Roman und bestimmt kein Thema, das jeder mal eben nebenbei konsumieren kann und will, aber lesenswert ist er allemal.

Richard Powers – Erstaunen

Richard Powers – Erstaunen

Robin war immer schon anders als andere Kinder, was seine Eltern Theo und Alyssa jedoch nicht gestört hat. Doch seitdem die Mutter bei einem Unfall tödlich verunglückte, nehmen Robins Konflikte mit den Mitschülern zu, werden gewalttätiger und die Schulleitung setzt Theo unter Druck: er soll dem Jungen endlich Psychopharmaka verabreichen und ihn ruhigstellen. Doch der Astrobiologe traut den Diagnosen nicht: Autismus, Depression, ADHS – die Ärzte sind sich ja auch nicht einig. Er erinnert sich an ein Neurostimulanzverfahren, an dem er und Alyssa einst als Probanden teilgenommen hatten, vielleicht kann das dem Jungen ja helfen, besser mit anderen Menschen umzugehen. Denn eigentlich ist er ein aufgeweckter kleiner Mensch, der die Natur mit allen Sinnen aufsaugt und eins wird mit der Pflanzen- und Tierwelt und verstanden hat, dass der Mensch gerade dabei ist, all die Schönheit um uns herum zu zerstören.

Richard Powers Roman steht auf der Shortlist für den Booker Prize 2021 und auf der Longlist für den National Book Award, was man schon nach nur wenigen Seiten gut nachvollziehen kann. „Erstaunen“ lädt den Leser ein, die Welt mit neuen Augen zu sehen, sich zu wundern über das, was die Natur geschaffen hat, was um uns herum geschieht und diesen Schatz zu erkennen, den wir im Alltag allzu leicht übersehen. Es ist eine Hommage an die Schöpfung, nichts Geringeres und eine Anklage an die Menschheit, wie sie mit ihr umgeht. Selten wurde dieses Thema literarisch so überzeugend umgesetzt.

Den Hintergrund der Geschichte liefert das außergewöhnliche Vater-Sohn-Duo. Theo weiß um die Besonderheit und die Probleme seines Jungen, aber er und seine Frau habe gelernt damit umzugehen, wissen, wie sie ihn ansprechen und beruhigen können. Leicht ist es nicht, aber Robins Blick auf die Welt, sein unstillbarer Wissensdurst, wenn es um die Lebewesen geht, entschädigt für all die Sorgen. Beide haben den Verlust der Partnerin und Mutter nicht verkraftet, doch die Beobachtung der Natur, die Alyssa so am Herzen lag und für die sie unermüdlich gekämpft hat, bringen sie ihr und ihrer Überzeugung ein Stück näher.

Es ist kein leichter Schritt, in die Gehirnfunktion eines Kindes einzugreifen, doch scheinbar gibt das Verfahren den Entwicklern recht. Robin lernt, sich und seine Emotionen besser zu kontrollieren, sein Gehirn und seine Gedanken zu steuern und eine neutralere Haltung gegenüber den Menschen, die ihn vorher in Rage versetzt haben, einzunehmen. Doch die Wissenschaft will immer weitergehen und ein Vorschlag des Untersuchungsteams bringt noch eine ganz neue Facette ins Spiel, die jedoch Theos Grenzen herausfordert.

Auch wenn man nur mäßiges Interesse für Vögel oder das Universum mitbringt, kann der Autor mit seinen Beschreibungen und Erklärungen faszinieren. Er transferiert das, was den jungen Robin beeindruckt, sein Entdecken dieses wundersamen Planeten und des Weltalls, in außergewöhnlicher Weise in eine Geschichte, die eigentlich vor allem um bedingungslose Liebe geht. Bedingungslos zwischen Vater und Sohn, bedingungslos zwischen Robin und der nichtmenschlichen Welt, der er sich zunehmend näher fühlt als seiner eigenen Spezies. Ein in jeder Hinsicht herausragender Roman, der auch nachdenklich stimmt und einem nicht sofort loslässt.

Ilia Vasella – Windstill

Ilia Vasella – Windstill

Das heruntergekommene Schloss in Südfrankreich beherbergt auch in diesem heißen Sommer wieder eine bunte Schar von Gästen. Franz und Marie kommen schon seit Jahren in die Herberge des Künstlers Pierre, dessen Malerei sie schätzen. Dorothea und Mauro sind mit ihren Kindern Rosa und Emil zum ersten Mal Gast. Auch Stephan und seine Tochter Lara bewohnen eines der Zimmer, ebenso wie Nick, der schon fast zu den Erwachsenen zählt, aber seiner schlechten Französischkenntnisse dort den Sommer verbringen soll. Odile geht im Winter mit ihrer Band auf Tour, den Rest des Jahres bewohnt sie hintere Zimmer des Anwesens. An einem Morgen wie jedem anderen auch ist ein Teil der Urlauber schon wach und auf der Terrasse beim Frühstück als das völlig Unerwartete geschieht: Marie will nur die getrocknete Wäsche holen, rutsch aus, schlägt mit Kopf auf und ist sofort tot. Alles gerät aus dem Ruder, nichts geht mehr seinen normalen Gang.

Ilia Vasella ist visuelle Gestalterin und lehrt an der Kunsthochschule Zürich, „Windstill“ ist ihr erster Roman, der wie ein Gemälde auch, einen Moment im Leben festhält und mit allen Details ausgestaltet. Der Blick der Künstlerin zeigt sich auch in der Geschichte, jede Ecke wird ausgelotet, kein noch so kleiner Fleck ist unbedeutend. Sie beschreibt nur einen einzigen Tag, an dem scheinbar die Zeit für die Figuren stehenbleibt. Im Allgemeinen messe ich Buchcovern keine große Bedeutung bei, in diesem Fall jedoch ist auffällig, wie stimmig es zum Text passt, dass es genau jene unheilvolle Ausgangsszene malerisch darstellt: die Terrasse, der Wäschekorb, die intensiven Farben Südfrankreichs.

Was macht so ein Ereignis mit den Menschen? Wie reagieren sie? In Zeitlupe hält die Autorin dies fest. Die Schreckstarre, in die Franz verfällt, der es nicht fassen kann, immer wieder eingeholt wird von Erinnerungen an all jene Momente mit seiner Frau und der froh ist, dass andere das Handeln für ihn übernehmen. Odile gehört zu diesen pragmatischen Menschen, sie scheint zu wissen, was zu tun ist, wie man mit dem Tod umgeht, wie man den Leichnam immer noch menschlich behandelt. Die Kinder sollen von der Tragik des Lebens ferngehalten werden, merken jedoch, dass etwas geschieht, sind neugierig, haben noch nie einen toten Menschen gesehen. Und die Erwachsenen werden mit dem konfrontiert, was sie verdrängen wollen, der Endlichkeit des eigenen Seins, dem Wissen, dass von einer auf die nächste Sekunde alles vorbei sein kann.

Ein intensives Leseereignis, das unheimlich dicht ist und förmlich in einen hineinkriecht. Eine oberflächliche Lektüre ist gar nicht möglich, man verlangsamt automatisch und erfasst so jede Sekunde des folgenschweren Tages und fragt sich auch selbst, wie man wohl agiert hätte, ob man vorbereitet ist, auf das Undenkbare.

Hengameh Yaghoobifarah – Ministerium der Träume

Hengameh Yaghoobifarah – Ministerium der Träume

Der Tod ihrer Schwester und engsten Vertrauten trifft Nasrin unerwartet. Ein Unfall sagt die Polizei, aber war es vielleicht doch eher ein Suizid? Immer wieder ging es Nushin nicht sonderlich gut. Nushins Tochter Parvin hingegen vermutet einen Anschlag hinter der ganzen Sache, wie auch immer sie darauf kommen mag. Die queere Türsteherin sieht sich plötzlich als Ersatzmutter einer Teenagerin und gleichzeitig mit der Trauer konfrontiert, die jedoch immer mehr Fragen aufzuwerfen scheint. In Rückblenden wird klar, dass diese nicht von der Hand zu weisen sind. Die beiden Schwestern sind einst mit der Mutter vor dem Terrorregime des Iran, das auch den Mord am Vater veranlasste, nach Deutschland geflüchtet, haben in den 90er den aufkeimenden Hass gegenüber Ausländern live erlebt und gleichzeitig mit ihren eigenen Dämonen kämpfen müssen. Je weiter sich Nasrin von ihrer Nichte entfernt, desto näher rückt sie jedoch der Wahrheit, deren Ursprung genau dort liegt, wo sie nie mehr hin zurückkehren wollte.

Hengameh Yaghoobifarah wurde als taz-Kolumnistin bekannt, „Ministerium der Träume“ ist ihr Debütroman. Geschickt verbindet sie dabei die ganz persönlichen Probleme der beiden Schwestern mit politischen Entwicklungen, die wir überwunden glaubten – die Realität der vergangenen Jahre hat uns jedoch wieder eingeholt. Sie reißt auch die Frage auf, wie gut man einen Menschen wirklich kennen und wie nah man sich tatsächlich stehen kann.

Nasrin und Nushin wachsen in Lübeck auf, die Mutter ist durch den Verlust des Partners und den nicht leichten Start im fremden Land kaum in der Lage, sich um die beiden Mädchen zu kümmern. Je klarer diesen die Distanz zwischen sich und ihnen deutschen Mitschüler:innen wird, desto näher rücken sie und ihr enger Zirkel an Freunden mit ähnlichem Schicksal zusammen. Erlebnisse, die man keinem Kind wünschen würde, müssen sie durchleiden, Hilfe von Erwachsenen ist Fehlanzeige und so flüchten sie schließlich nach Berlin, um ein Leben nach ihren Vorstellungen in der Großstadtanonymität zu führen. Es ist die queere Szene und jene der Prostitution, in der die beiden Frauen sich zum ersten Mal angenommen fühlen.

Der Erzählton ist oft ruppig und rau, passt jedoch ehrvorragend zur Protagonistin, die verzweifelt nach Antworten sucht. Ihre teenagerhafte Rebellion hat sie noch nicht ganz überwunden, obwohl schon die nächste Generation mit identischem Verhalten parat steht. Die junge Nasrin kennt nur zwei Kategorien: wir und die anderen. Auch als Erwachsene kann sie dies nicht ganz ablegen, auch wenn nun die Grenzen an anderer Stelle – bürgerlich vs. queere Lebensweise – verlaufen. Immer wiederkehrende Alpträume zeugen von nicht verarbeiteten Traumata, wirkliche Träume hegt jedoch kaum jemand im Roman. Erfrischend anders einerseits, unbarmherzig und hart andererseits, auf jeden Fall aber bemerkenswert.

Frank Witzel – Inniger Schiffbruch

Frank Witzel – Inniger Schiffbruch

Nach dem Tod seines Vaters fällt der Autor in ein mentales Loch, weder Schreiben noch Lesen will ihm gelingen, obwohl er sich seines eigenen Gefühlslebens noch gar nicht sicher ist und nicht im eigentlichen Sinne trauerte. Er macht sich an den Nachlass, der sofort Erinnerungen an die Kindheit hervorruft. Der Mann, der auch zu Hause Hemd und Anzug trug, gegen den er jahrelang rebellierte, von dem er sich weit entfernt hatte und den er nun versucht zu ergründen. Minutiöse Tagebücher und Kalendereinträge helfen ihm das Leben des Kirchenmusikers zu rekonstruieren. Er zieht Parallelen zu den Biografien berühmter Künstler und ist immer wieder erstaunt, wie sehr sich die Leben innerhalb derselben Generation doch gleichen. Die Mutter, die bereits einige Jahre zuvor verstorben war, bleibt ihm aber immer noch fremd als erwachsene Frau jenseits der Mutterrolle, dabei hätte diese Frau vermutlich sehr viel erzählen können.

„Krankheit, Alter, Tod, dachte ich, als wir in den Aufenthaltsraum zurückkamen. Im Grunde konnte man niemandem einen Vorwurf machen. Es war der sogenannte Lauf der Dinge, wobei es gerade die Dinge waren, die relativ stabil blieben, während der Mensch langsam zwischen ihnen verschwand.“

Der Titel der als „Roman“ deklarierten Spurensuche ist zunächst sperrig, erhellt sich aber im Laufe des Lesens und wird immer klarer. Das tiefe Gefühl, Schiffbruch erlitten zu haben nachdem beide Elternteile nicht mehr da sind, ist überwältigend und nur er allein kann einen Weg wieder in sichere Gewässer und ans Festland finden. Während man dieser Mammutaufgabe folgt, fragt man sich jedoch schon, inwieweit die Erzählung reale Autobiografie und inwieweit reine Fiktion ist, die Trennlinie ist hier mehr als verschwommen. Zugegebenermaßen erscheint mir daher die Nominierung auf der Longlist für den diesjährigen Deutschen Buchpreis auch etwas irritierend.

Anekdotisch werden die Kindheits- und Jugenderinnerungen präsentiert, die auch beim Leser ähnliches wachrufen dürften, interessant auch die Beschreibungen Wiesbadens aus seiner Kindheit, vor allem, wenn man die Biebricher Örtlichkeiten heute kennt. Das sich Annähern an die Menschen, die eigentlich so vertraut sein sollten und dennoch in weiten Teilen unbekannt geblieben sind, gelingt trotz des traurigen Anlasses und hat auch einen gewissen Unterhaltungswert.

Witzel wählt eine ganz andere Herangehensweise an das Thema als Zsuzsa Bánk, deren kürzlich erschienener Roman „Sterben im Sommer“ dieselbe Thematik aufgreift. Letztere hat mich jedoch insgesamt deutlich mehr überzeugen können; die emotionale Überwältigung ob des Verlusts kommt bei der Autorin glaubhaft rüber, Witzel bleibt mir zu distanziert und analytisch, um seinen scheinbaren Ausnahmezustand wirklich glaubwürdig zu transportieren.

Zsuzsa Bánk – Sterben im Sommer

Zsuzsa Bánk – Sterben im Sommer

Als sie im Januar die Diagnose bekommen, dass der Krebs zurückgekehrt ist, wollen sie den Sommer noch einmal in Ungarn verbringen. Dem Land, aus dem die Eltern 1956 geflohen waren und das doch immer sommerlicher Sehnsuchtsort geblieben ist. Die Erinnerungen an heiße, fröhliche, unbeschwerte Sommer kommen wieder hoch, doch der Vater schafft es nicht, zu krank ist er und wird im Drei-Länder-Eck zwischen Slowakei, Österreich und Ungarn von Krankenhaus zu Krankenhaus gebracht. Die letzten Tage in der Klinik, die Onkologie ist die letzte Station vor – ja vor was? Dem Hospiz? Aber ist das nicht schon aufgeben?

Die Autorin schildert den heißen Jahrhundertsommer 2018, der sich ihr vor allem wegen des Verlusts des Vaters eingebrannt hat. Langsam zeichnet sich über Monate ab, was unausweichlich ist und dennoch ist sie emotional nicht vorbereitet auf das, was sie erlebt. Zwischen Erinnerungen an die gemeinsame Zeit und den bürokratischen Hürden der letzten Tage oszilliert der Bericht und fängt die emotionale Achterbahn der Tochter ein.

Was kann man über ein so persönliches Buch sagen? Es erschien mir sehr authentisch, gerade in der Schilderung der gleichzeitig auftretenden, widersprüchlichen Empfindungen. Zwischen großer Zuneigung, die sich aus den Kindheitstagen und vor allem den Sommern am Balaton speist, Angst vor dem, was kommt, Wut auf die Bürokratie, die Unmenschliches verlangt und so fast zynisch macht, Trauer, die schon einsetzt, als der Vater noch lebt, und der Verzweiflung, jetzt weiterleben zu müssen mit dieser Lücke, die da gerissen wurde.

„Aber das Leben geht überhaupt nicht weiter, nein, es bleibt auch nicht stehen, es steht einfach nur herum, das trifft es mehr. Es wird zu einer schwachen Kopie seiner selbst, blass und leer,“

Eine literarische Verarbeitung der Trauer, die gar nicht die großen Fragen nach dem Dasein aufreißt, sondern durch die kleinen Banalitäten des Alltags, die sich plötzlich als große Hürden auftun, überzeugt. Und am Ende kommt ein neuer Sommer, der nicht ist, wie die davor, aber eben auch ein Sommer ist.

Hubert Achleitner – flüchtig

hubert achleitner flüchtig
Hubert Achleitner – flüchtig

Nach über dreißig Jahren Ehe ist Maria einfach verschwunden, doch nun meldet sich eine junge Frau, die einen Brief von ihr für Herwig hat. Er lädt sie ein in der Hoffnung zu erfahren, was geschehen war und wo Maria sich aufhält, offenbar lebt sie noch. Doch bevor aufgelöst wird, wo sich die flüchtige Gattin aufhält, folgt zunächst der Blick zurück auf ihr Leben, das schon turbulent begann mit der Geburt in der Seilbahn. Zwischen österreichischen Bergen hat sie gemeinsam mit Herwig ein Leben aufgebaut, das jedoch nach einer Fehlgeburt eine jähe Zäsur erlebte, die sich nicht mehr kitten ließ. Auf unterschiedliche Weise versuchten beide mit der Trauer umzugehen, flüchteten sich in allerlei Ersatzhandlungen, die jedoch die Wunde nicht heilen konnte, die der Verlust verursacht hatte. So flüchtig dieses kurze Glück war, so flüchtig ist letztlich auch das Leben, das einem jederzeit genommen werden kann und in dem jede flüchtige Begegnung zu einer Wegänderung und einem ganz anderen Verlauf führen kann, wie das Beispiel von Maria und Herwig zeigt.

Hubert Achleitner ist ein unter dem Namen „Hubert von Goisern“ bekannter Liedermacher und Komponist, der auch als Erfinder des Alpenrock gilt und dessen Musik und künstlerisches und sonstiges Engagement oft auch politisch ist. „flüchtig“ ist sein erster Roman, der sich kaum in wenigen Worten fassen lässt. Man merkt in jeder Zeile, wie stark die Natur mit all ihrer Gewalt auf ihn gewirkt haben muss, denn nicht wirklich die Figuren, sondern andere Kräfte treiben die Handlung, die mit einer ungemein poetischen Sprache wiedergegeben wird.

Zufälle treiben scheinbar die Handlung an und doch ist nichts zufällig in diesem Roman. Es beginnt bei den Namen: Eva Maria Magdalena – alle traditionellen Vorstellungen von Frauen vereinigt Maria in sich und diese zeigt sie auch. Herwig – die Verbindung von Heer und Kampf, der einerseits um seine Frau kämpft und doch zur Eroberung anderer Frauen zieht. Spiralförmig werden ihre Leben, auch jene der Eltern, sowie die Ereignisse der vergangenen Monate skizziert, die überkreuzen sich immer wieder, schneiden sich sogar ganz scharf und bewegen sich alle wie in einem Strudel auf ein Ziel hin.  Immer wieder kommen ihnen Naturgewalten dabei in die Quere und treffen Entscheidungen, die Außenwelt wird oftmals zur Gefahr, sei es in den Bergen oder auf dem Wasser.

Maria ist auf der Flucht vor sich selbst und ihrem Leben, doch die Reise kann keine Antworten liefern, diese findet sie nur in der inneren Einkehr. Flüchtige Begegnungen sind es dabei, die die entscheidenden Akzente setzen und die Gedanken ins Rollen bringen. Vieles, was die Figuren umtreibt, lässt sich leicht nachvollziehen und nimmt einem so mit auf die Reise, die dem Autor vor allem sprachlich überzeugend gelungen ist.

Nina LaCour – We Are Okay [dt. Alles okay]

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Nina LaCour – We Are Okay

Winterferien an ihrem College in New York, doch im Gegensatz zu allen anderen bleibt Marin auch über die freien Tage im Studentenwohnheim, auch wenn sie dort ganz alleine sein wird. Nur ihre Schulfreundin Mabel wird sie für wenige Tage besuchen kommen. Sie haben sich seit Marins überstürzter Flucht aus San Francisco im Sommer nicht mehr gesehen und offenbar möchte Mabel wissen, was damals geschah und weshalb ihre beste Freundin für Wochen völlig vom Erdboden verschwunden war. Die erste Begegnung fühlt sich komisch an, das vertraute Zusammensein stellt sich einfach nicht ein, bis Marin schließlich beginnt zu erzählen. Sie erinnern sich an ihre gemeinsamen letzten Monate in der Schule und den Sommer, der so vielversprechend begann, dann aber ein schreckliches Ende nahm, das Marin immer noch nicht verarbeitet hat.

Nina LaCour gelingt es, einem als Leser sofort in die Geschichte hineinzuziehen. Die Kälte des Wintersturms, die Einsamkeit im Wohnheim, es braucht nie viel, um eine ganz besondere, fragile Atmosphäre zu schaffen, die nur darauf wartet, sich durch das Aussprechen der Ereignisse des letzten Sommers entweder zu lösen oder die Protagonistinnen in den finalen Abgrund zu stürzen. Diese Spannung, nicht zu wissen, welches Ende die Erzählung nehmen wird, hält sich durch die Geschichte und lässt einem dieses wundervolle Gefühl von bitterer Süße empfinden, die sowohl anzieht wie auch abschreckt.

Das Setting bietet den perfekten Rahmen für ein emotionsgeladenes Buch, dass jedoch fernab von Kitsch oder übertriebener Gefühlsduselei ist. Zusammen mit Marin durchwandert man nochmals die unheilvollen Momente und kann die Einsamkeit, die sie empfunden haben muss, kaum von sich fernhalten. Ihren Vater kennt sie nicht, die Mutter starb als sie noch ein Kleinkind war und so blieb nur der Großvater, der sie bedingungslos liebte, aber auch seine dunklen, verborgenen Seiten hatte, die sich schlagartig öffnen und vieles in einem anderen Licht erscheinen lassen.

Ein Buch über Trauer, Zuneigung, Freundschaft und das erwachsen und unabhängig Werden, mit all seinen leichten Momenten und den schweren. Die melancholische Stimmung passt hervorragend zu den Protagonistinnen und den Ereignissen, die in ihren Köpfen Kreise drehen.

Jasmin Schreiber – Marianengraben

jasmin schreiber marianengraben
Jasmin Schreiber – Marianengraben

Fische mochte er immer besonders gern, Tim, Paulas kleiner Bruder. Und tausende Fragen an die Welt hatte er, die ihm die große Schwester versuchte zu beantworten. Doch jetzt ist Paula allein, vor allem allein mit ihrer Trauer nach Tims Unfalltod. Immer mehr verkriecht sie sich, das Leben hat sie aufgegeben, sie vegetiert nur noch vor sich hin, die Doktorarbeit wartet vergeblich auf ihre Fortsetzung. Auch ein Therapeut kann ihr nicht helfen, doch er rät ihr das Grab des Bruders zu besuchen, aber so am helllichten Tag, wenn noch andere Menschen dabei sein könnten, das will sie nicht. Also bricht sie nachts in den Friedhof ein. Doch ihr ruhiger Plausch mit dem Bruder wird jäh gestört, denn noch jemand ist auf nächtlicher Mission: Helmut, bereits über 80 und mit Schaufel bewaffnet. So absurd ihr Kennenlernen, so absurd auch der Trip, den das vermeintlich ungleiche Gespann unternimmt, denn bald schon merken sie, dass sie gar nicht so verschieden sind, Trauer und Verlust führen sie immer näher zusammen.

Jasmin Schreiber setzt in ihrem Debütroman gekonnt Erfahrungen als Sterbebegleiterin in eine traurige, aber auch urkomische Geschichte um. Es geht ums Sterben und ums Leben und vor allem ums Leben nach dem Sterben. Paula wie auch Helmut müssen mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgehen und bilden so eine unerwartete Schicksalsgemeinschaft, die es ihnen jedoch erlaubt, das Leid und die Trauer zu teilen. Dominiert zu Beginn noch Paulas tiefe Depression, die sie geradezu handlungsunfähig macht, kehrt zunehmend Leben zurück und damit auch wieder Hoffnung.

»Ich glaube … ich würde nur wieder gerne leben, irgendwie. Und das auch genießen.«

»Na, endlich«, seufzte er, »damit kann man doch schon arbeiten.«

Wie kann man den Verlust betrauern und weiterleben, wenn man sich selbst die Schuld gibt? Paula wird von den Vorwürfen, die sie sich macht, innerlich aufgefressen und findet kein Ventil und keinen Menschen, um den Druck, der auf ihr lastet, entweichen zu lassen. Zu dem fremden alten Mann fasst sie Vertrauen und kann sich öffnen, denn Helmut weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Welt sich einfach weiterdreht, während man selbst noch auf der Stelle steht und sich nicht bewegen kann, der Verlust von Sohn und Frau hat auch Spuren bei ihm hinterlassen. Aber er hat bereits Wege gefunden, damit umzugehen. Gemeinsam machen sie sich auf die Reise zu Helmuts Elternhaus in den Bergen, denn dort hat er noch etwas zu erledigen, er hat ja die Urne des Nächtens nicht ohne Grund ausgebuddelt.

Viel Situationskomik wechselt sich ab mit liebevolle Erinnerungen an den kleinen Bruder, der neugierig die Welt erforschte und mit der Trauer, die Paula immer wieder übermannt. Der Autorin gelingt dabei die perfekte Mischung, die einem immer wieder schmunzeln lässt, bevor einem die negativen Gefühle selbst übermannen. Perfekt austariert, um zu zeigen, dass es immer ein Morgen gibt und der Blick zurück gut und erlaubt ist, der Weg aber nur in eine einzige Richtung führen kann.

Tom Kummer – Von schlechten Eltern

tom kummer von schlechten eltern
Tom Kummer – Von schlechten Eltern

Mit seinem Sohn Vincent ist Tom in die Schweiz zurückgekehrt. Nach dem Tod seiner Frau Nina war es in den USA für ihn unerträglich geworden, nur der ältere Sohn Frank blieb in L.A. zurück. Den Tag erträgt er nicht, am liebsten schläft er, nur in der Nacht traut er sich hinaus und als Chauffeur bei einem VIP Service bringt er die Gäste von A nach B quer durch sein Heimatland. So manches tiefgründige Gespräch entspannt sich auf der Fahrt, aber die Dämonen verlassen ihn nicht, der Geist von Nina ist immer bei ihm. Loslassen kann und will er aber ebenfalls nicht, denn dann wäre sie weg, wie ausgelöscht und nie dagewesen. Die Menschen sind ihm fremd geworden, dafür spricht die Natur immer intensiver zu ihm, einzig die Verbindung zu seinen Söhnen hält ihn noch am Leben – aber wie lange noch?

In seinem Roman „Nina & Tom“ beschreibt Tom Kummer die Liebe zwischen ihm und seiner Frau, die nach 30 Jahren Beziehung an Krebs gestorben ist. „Von schlechten Eltern“ setzt die Erzählung fort und thematisiert die Trauer, die die Überlebenden, die zurückbleiben, überwältigt und geradezu vom Leben abhält. Stehen zunächst noch die Fahrten mit den zum Teil dubios erscheinenden Passagieren im Zentrum, übernimmt dann doch immer mehr Toms Innenleben und der Kampf um die Erinnerung an seine Frau.

Es ist kein philosophisches Buch, das sich mit dem Leben und Sterben und dem Dasein als solches auseinandersetzt. Es ist auch kein Wegweiser zum Umgang mit Trauer, es bietet geradezu wenig Hoffnung darauf, dass diese jemals in ihrer Intensität nachlassen könnte. Für mich war es ein authentisch wirkender Bericht eines Menschen, der seinen Zustand, der sich emotional zwischen Sein und Nichtsein befand, sehr gut nachvollziehbar schildert. Lebendig wirkt er immer in der Interaktion mit dem Sohn; die grenzenlose Liebe, die er ihm entgegenzubringen vermag, steht in diametralem Gegensatz zu seinem eigenen Lebenswillen. Hilfe anzunehmen ist keine Option, allein will er sein mit seinem Kummer.

Die Außensicht auf den Protagonisten erfolgt nur durch die Spiegelung der anderen Figuren, die offenkundig besorgt sind und den Ernst der Lage erkennen, den er leugnet. Man hat bisweilen den Drang ihm gut zuzureden, ihn aufzumuntern, wieder zum Leben zu erwecken, so nah geht einem die Erzählung.

So wie die Limousine leise über die Schweizer Straßen gleitet, fließt auch der Roman, der gewaltig in der Bildsprache ist und sich oft im emotionalen Extrem bewegt. Die Nähe zwischen Vater und Sohn wirkt bisweilen fast grenzwertig, zeigt aber auch, wie viel Stärke von den Kindern ausgehen kann und wie sie hier noch mehr denn je für eine doch mögliche Zukunft stehen.