Claire Thomas – Die Feuer

Claire Thomas – Die Feuer

Samuel Becketts Theaterstück „Glückliche Tage“ wird im Theater in Melbourne aufgeführt. Es ist nicht nur ein glühend heißer Sommertag, draußen wüten auch Buschfeuer, die alles zerfressen, was sich ihnen in den Weg stellt. Summer, Schauspielschülerin und an jenem Abend Platzanweiserin, hätte gerne eine bessere Position, um mehr von dem Stück mitzubekommen. Professorin Margot Pierce kann sich als Zuschauerin kaum auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren, zu sehr sind ihre Gedanken noch bei einem unangenehmen Gespräch mit ihren Vorgesetzten. Auch Ivy Parker ist abgelenkt, beobachtet ihre Freundin Hilary neben sich, die ganz in das Geschehen versunken zu sein scheint, während in ihrem Kopf die Gedanken rasen.

Der zweite Roman der australischen Autorin Claire Thomas ist eine Hommage an Samuel Beckett und an die Verbundenheit von Menschen und die verschiedenen Lebensstadien von Frauen. „Die Feuer“ spielt geschickt mit den Ebenen zwischen Bühne und Zuschauerraum, die sich spiegeln, Parallelen aufweisen und tragikomisch die womöglich letzten Tage der Menschheit beschwören – zumindest die letzten vorpandemischen, in denen man noch einfach so eine Aufführung besuchen konnte.

Im Laufe der Geschichte wechselt immer wieder die Perspektive. Margot, Summer und Ivy erlauben nacheinander Einblicke in ihre Gedankenwelt, wobei sie letztlich auch eine einzige Frau sein könnten zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens. Zum einen die junge Studentin, die unsicher ist in sozialen Interaktionen und sich in ihrer Bildung als defizitär empfindet. Ivy steht mit knapp über 40 voll im Leben, ist erfolgreiche Managerin und wird als solche geschätzt und anerkannt. Der Weg dahin war jedoch steinig und hart und die Dramen ihres Privatlebens bleiben der Öffentlichkeit verborgen. Margot muss niemandem mehr etwas beweisen, als angesehene Professorin steht sie am Ende des Berufslebens und beginnt gerade damit, sich von Konventionen zu lösen, die sie Jahrzehnte lang eingeschränkt haben.

In Becketts Stück befinden sich die letzten beiden Menschen bereits auf einem Grabhügel, von Winnie ist kaum mehr zu sehen als nur der Kopf, sie kann nicht mehr weg, sondern steckt fest und ist ausgeliefert. Ihr Mann Willie kann sie auch nicht retten, spricht mehr aus dem Off als dass er zu sehen wäre. All dies unter der Hitze der gleißenden Sonne. Hilflos sind sie dem Schicksal ausgeliefert, ähnlich wie die drei Frauen, die mit ihren ganz individuellen großen Fragen alleingelassen sind: wie soll Margot mit der fortschreitenden Erkrankung ihres Mannes umgehen? wird Summer je erfahren, wer ihr Vater ist? kann Ivy den Tod ihres ersten Kindes endlich überwinden?

Es könnten die letzten glücklichen Tage sein, bevor die Buschfeuer sie ganz unmittelbar bedrohen. Der Planet und damit die Existenz der Menschheit ist bereits im letzten Stadium angekommen, Zeit also die Frage nach dem Sinn zu stellen, wenn das Ende naht. Es muss etwas getan werden, aber die Ängste, die alle drei Frauen in sich tragen, führen zu einer Starre – ähnlich wie Winnie auf der Bühne, die zusehends bewegungsloser wird – die nur noch das Gedankenkreisen erlaubt.

Ein Roman vollgepackt mit Denkanstößen ganz unterschiedlicher Art, die literarisch clever umgesetzt zu einem großartigen Gesamtwerk werden.

Yasmina Reza – Anne-Marie la Beauté [dt. Anne-Marie die Schönheit]

Yasmina Reza – Anne-Marie la Beauté

Anne-Marie ist alt geworden, kann nur noch wenige Schritte mit ihrem Gehstock gehen und hat auch außer der Journalistin, die sie eingeladen hat, nur noch wenige Menschen, mit denen sie reden kann. Dabei hat sie so viel zu erzählen, aus ihrem Leben und vor allem der Zeit im Theater von Clichy, wo sie ihre Schauspielkarriere starten wollte. Sie, das Mädchen vom Lande, das auch nicht wirklich mit Schönheit gesegnet war. Ganz im Gegensatz zu Gigi, Giselle Fayolle, die jeden auf dem Sofa liegend empfing, Liebhaber wie Journalisten, und die sie zeitlebens bewundert hat. Doch nun ist auch Gigi verstorben, wie all die anderen, nur Anne-Marie weilt noch auf Erden und hält die Erinnerung wach.

Man merkt dem kurzen Text von Yasmina Reza an, dass er – genau wie viele andere ihrer Bücher – für die Bühne geschrieben wurde und dort sicherlich noch mehr wirkt als auf Papier. Die ältere Dame, die einer längst vergangenen Zeit nachhängt, gedanklich immer noch in dieser gefangen ist und sich nie von der Bewunderung der zwei Jahre älteren Kollegin lösen konnte muss fantastisch wirken mit der richtigen Schauspielerin. Wenn die Rolle in all ihren Nuancen ausgefüllt wird, benötigt das Drama keine weiteren Figuren.

Während Anne-Marie einen biederen und langweiligen, dafür aber verlässlichen Mann geheiratet hat, genoss Gigi das Leben in vollen Zügen, was sie den Klatschblättern bei der Pediküre entnehmen konnte.

« Il ne faut pas oublier une chose madame: dans notre monde on tome de haut. »

Erinnerungen, mal freudig, mal bitter, mal geradezu banal. Ein Traum von dem, was hätte sein können, aber nie war. Man kann sich die ältere Madame gut vorstellen, wie sie nun, als letzte Verbliebende, Hof hält und die Aufmerksamkeit der Journalistin bekommt, der sie ein Leben lang nachgetrauert hat. Ein Leben im Schatten, niemals kam jemand in die rue des Rondeaux, wo sie mit ihrem Mann wohnte und sich wie in die Kindheit im Norden zurückversetzt fühlte, nur noch einsamer. Doch plötzlich ist da ein Scheinwerfer, der jedoch auch nicht den Glanz zaubern kann, der nie da war. Jetzt hat sie die Bühne und lässt ihrem Mund freien Lauf.

Wie gewohnt bissig, was jedoch wieder auf die Figur zurückfällt, aber dem Leser respektive Zuschauer auch dezent den Spiegel reicht, um die eigene Erkenntnis zu ermöglichen.

Elizabeth Gilbert – City of Girls

elizabeth gilbert city of girls
Elizabeth Gilbert – City of Girls

Mit den langweiligen Kommilitoninnen in Vassar konnte Vivian nicht viel anfangen, mit dem Studium ebenso, weshalb sie nach nur einem Jahr hochkant rausfliegt. Ende der 1930er Jahre wissen die bürgerlich-konservativen Eltern nicht viel mit ihr anzufangen, weshalb sie das Landei zur Tante nach New York schicken. Peg unterhält dort ein Theater und schnell schon taucht Vivian in die Welt der Revue-Mädchen und vor allem das Nachtleben der Großstadt ein. Sie lernt einen ganz anderen Lebensstil kennen, von dem ihre Eltern entsetzt wären, hätten sie auch nur den geringsten Schimmer. Mit ihrem ausgesprochenen Nähtalent kann sie sich auch schnell einen wichtigen Platz erobern und als sich die berühmte britische Bühnenschauspielerin und Freundin Pegs, Edna Watson, wegen des Kriegs ankündigt, verspricht nochmals eine neue Zeit anzubrechen – mit allen schönen und nicht so schönen Seiten.

Elizabeth Gilbert hat keinen Roman verfasst, sondern eine Hommage an das wilde Manhattan der 1940er Jahre, wo man das Kriegstreiben in Europa noch ignorieren konnte und das Leben in vollen Zügen genoss. Das zwielichtige Schauspielhaus, das statt großer Tragödien leichte Revuen mit noch leichter bekleideten Mädchen bot, die regelmäßig den Tag zur Nacht machten und die nach Prohibition und Weltwirtschaftskrise Anfang des Jahrzehnts scheinbar alles nachholen mussten, ist eine ganz eigene kleine Welt innerhalb des Großstadttrubels. Was außerhalb dieser kleinen Familien geschieht, spielt keine Rolle, denn innerhalb der Wände des Theaters findet sich schon das pralle Leben mit all seinen komischen und tragischen Momenten.

Genaugenommen erzählt Gilbert eine klassische coming-of-age Geschichte eines Landeis, das völlig naiv und unbedarft in die Großstadt gerät und dort auch prompt noch in ein Milieu, wo man es mit bürgerlichen Konventionen besonders locker nahm. In Pegs Theater findet sich noch der letzte Rest der längst vergangenen schillernden 20er Jahre, die Zeit scheint fast stehengeblieben. Erwartungsgemäß tappt Vivian in so manche Großstadtfalle, bevor schließlich der unweigerliche Skandal kommt, der sie zurück zur Familie treibt, wenn auch nur kurz. Dann wird aus der Geschichte des Erwachsenwerdens jene einer unabhängigen Frau, deren Denken wie auch Kleidung nicht den gängigen Erwartungen entspricht und die ihren eigenen Weg wählt und so lebt, wie sie es sich wünscht, egal, was die Menschen um sie herum darüber denken. Sie brauchte die Erfahrungen aus den jungen Jahren, um zu jener Grande Dame zu werden, die sie am Ende ihres Lebens ist.

Ohne Frage ist Elizabeth Gilbert eine wundervolle Erzählerin, die einem sogleich in die Glitzerwelt des Lily Playhouse eintauchen lässt. Man begleitet Vivian auf dem bisweilen steinigen Weg vom Mädchen zur Frau und verzeiht ihre Naivität gerne, denn letztlich hat sie ein gutes Herz. Viele herrlich komische Situationen und wundervoll pointierte Formulierungen lassen einem immer wieder schmunzeln. Einzig die Rahmenhandlung wirkt doch etwas bemüht und ist eigentlich völlig überflüssig. Darauf hätte ich gut verzichten können, denn diese hat kaum mehr zur Figur von Vivian beigetragen und für mich das Ende auch unnötig hinausgeschoben.

So wild das Treiben im Theater, so lebendig wird auch der Roma erzählt. Die Begeisterung des jungen Mädchens für diese schillernde Welt kann einem auch als Leser direkt packen und fesseln.

Janna Steenfatt – Die Überflüssigkeit der Dinge

janna-steenfall-die-überflüssigkeit-derdinge
Janna Steenfatt – Die Überflüssigkeit der Dinge

Sie sind kein Liebespaar, aber auch mehr als die typische WG. Als Ina sich bei Falk das zu vermietende Zimmer ansieht, wissen sie sofort, dass sie zueinander passen. Der introvertierte Falk und die planlose Mitzwanzigerin, die zwar ihr Studium beendet, aber keinerlei Zukunftspläne hat. In Hamburg streifen sie durch die Nachtszene bis Inas Mutter, zu der das Verhältnis immer schwierig war, unerwartet stirbt und Ina von der Vergangenheit eingeholt wird. Doch nicht so sehr die Trauer ist es, die sie überwältigt, sondern die Erkenntnis, wer ihr Vater ist und dass dieser womöglich gar nichts von ihrer Existenz weiß. Doch just in diesem Moment kommt der Regisseur in die Stadt und so tut sich für Ina die Chance auf, ihm am Theater näherzukommen. Als Küchenkraft beäugt sie ihn aus der Ferne, wie immer schon in ihrem Leben, auf den richtigen Moment wartend, um ihn zu konfrontieren.

Es ist nicht leicht, Ina sympathisch zu finden, nein, eigentlich ist es sogar ausgesprochen schwierig, die junge Frau zu verstehen und zu mögen. Janna Steenfatt hat einen komplexen Charakter geschaffen, dem zwar jedes Charisma fehlt und der auch für die anderen Figuren kaum liebenswert erscheint, der jedoch aus psychologischer Sicht durchaus seinen Reiz hat. Schon als kleines Kind leidet sie unter ihrer dominanten Mutter, die als Schauspielerin immer die öffentliche wie auch private Anerkennung und Bewunderung sucht. Besonders ausgeprägt sind ihre mütterlichen Instinkte nicht, was in einer emotionalen Vernachlässigung des Kindes endet. Auch die Tatsache, dass sie Vater und Tochter die gemeinsame Beziehung vorenthält, ist eine egoistische Entscheidung mit weitreichenden Folgen.

Ina internalisiert den Wunsch zu gefallen, es ihr Recht zu machen, was ihr jedoch kaum gelingt, mehr als süffisante Verachtung hat ihre Mutter selten für sie übrig. Als Erwachsene ist ihre Persönlichkeit durch Unentschlossenheit und Unsicherheit geprägt, dies geht so weit, dass sie einen Job weit unter ihrer Qualifikation annimmt. Beziehungen und Freundschaften gibt es nicht wirklich in ihrem Leben, mit Falk verbindet sie ein eigenartiges Band, beide sind introvertiert und gehen ungern auf andere zu. Auch der Beziehungsversuch mit der Schauspielerin Paula scheitert kläglich. Liebe ist für sie nichts, das einfach geschieht und dann gedankenlos gelebt werden kann, was dann letztlich auch erwartungsgemäß zu großen Problemen führt.

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist ein endloses Warten darauf, dass das Leben irgendwann beginnt. Das Leben, das die Figuren eigentlich leben wollen. Bis dahin leben sie eben ein anderes, fremdes, das sie sich nicht selbst ausgesucht haben, sondern eines, das sie gefunden hat. Ein sperriger Roman, der auch im Leser einiges bewegt, nicht einfach zu fassen bleibt und an dem man sich reibt, wenn nicht gar aufreiben kann.

Petra Morsbach – Opernroman

petra-morsbach-opernroman
Petra Morsbach – Opernroman

Tristan und Isolde, Figaros Hochzeit, Fidelio, Die Fledermaus – seit Jahrhunderten schon begeistern die großen tongewaltigen Opern die Menschen. Auch in kleinen Häusern werden sie regelmäßig inszeniert, trotz all der Widrigkeiten wie dem fehlenden adäquaten Personal auf der Bühne und im Orchestergraben oder den frustrierten Sängern und Dirigenten, die sich mit der Kleinstadt-Tingelei, die jedermann nur hassen kann, ihre Sporen verdienen müssen. Neid, Missgunst, Intrigen, Enttäuschungen, überschwängliche Freude – die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen kann man arrangiert wie auch real erleben. Petra Morsbachs „Opernroman“ lüftet den Vorhang und erlaubt den Blick hinter die Kulissen der schönen Kunstwelt, der gar nicht mehr so schmuckvoll und imposant ist.

Mit „Justizpalast“ hatte mich die Autorin restlos begeistern können. Die Fähigkeit, auch kleinste Details wahrzunehmen und sie in der Erzählung überzeugend und punktgenau unterzubringen, hatten mich sehr angesprochen. Es gelang ihr, die tröge Juristerei mit Leben zu füllen und das Spannungsfeld der Figuren aufzuzeigen. Dieses in den Kulturbetrieb zu übertragen klang verlockend, doch leider war der Roman eine herbe Enttäuschung.

Die große Oper findet nicht statt. Zu viele Figuren laufen durchs Bild, ohne dass man zu ihnen eine Beziehung aufbauen könnte und dem Leser ihr Schicksal so nahegehen könnte. Rasch werden die Kulissen ausgetauscht und zahlreiche geschilderte Momente und Akteure scheinen mehr Kulisse als aktiv Agierende zu sein. Die Bühne dreht sich weiter, nächster Aufzug, nächste Kulisse – es wiederholt sich und schafft es nicht, Interesse zu wecken. Die Einblicke in die Theaterwelt bleiben zu fragmentarisch, zu punktuell, um zu einer Handlung zu verschmelzen. Ein Schicksal reiht sich an das nächste, aber so wie Schauspieler nach einer Saison das Haus verlassen, rauscht auch das Buch an einem vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und ist schnell schon vergessen. Das imposante Donnern eines Wagner verkommt so zu einem launischen Gepiepse, das mich nicht erreicht hat.