Anna Yeliz Schentke – Kangal

Anna Yeliz Schentke – Kangal

Kangal – wie der starke bissige Hirtenhund, das ist das Pseudonym, unter dem Dilek online zu finden ist. Unter diesem schreibt sie, was man in der Türkei seit 2016 nicht mehr öffentlich sagen kann, weil sonst Gefängnis oder Schlimmeres droht. Doch nach Befragungen und Verhaftungen in ihrem Bekanntenkreis wird die Luft dünner, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis man sie identifiziert. Dilek beschließt zu fliehen, weiht nicht einmal ihren Freund ein. In Deutschland hofft sie in Sicherheit zu sein, nur zu ihrer Cousine Ayla traut sie sich Kontakt aufzunehmen, denn bevor ihre Mütter sich im Streit entzweiten, waren sie unzertrennbare Verbündete, fast wie Schwestern, obwohl sie in zwei verschiedenen Ländern aufwuchsen.

Anna Yeliz Schentke greift in ihrem Debütroman ein aktuelles Thema auf. Dass sich die Lage nach dem Putschversuch für alle, die nicht auf Linie des Präsidenten sind, dramatisch verschlechtert hat, ist weitgehend bekannt. „Kangal“ schildert eindrücklich die Angst, die vor allem junge, nach Freiheit strebende Menschen begleitet, und die Schwierigkeit, ihren Landsleuten hier in Deutschland die Situation begreiflich zu machen, während diese im zweiwöchigen Sommerurlaub an den Stränden das Dasein genießen und nichts von den alltäglichen Repressalien des Mannes erfahren, dem sie aus der Ferne zujubeln.

Dileks Angst wird in der Geschichte zunehmend greifbarer. Quasi minütlich könnte sie entlarvt und ihr Pass gesperrt werden. Was genau sie online gepostet hat, bleibt dabei im Dunkeln, spielt aber auch keine Rolle in einem Staat, wo es Rechte und Rechtsstaatlichkeit nur noch auf dem Papier zu geben scheint. Auch in der Ferne kann sie sich nicht von der Angst befreien und fürchtet bei jedem Türken, dass dieser zum Verräter werden und sie auffliegen lassen könnte.

Ihre Cousine kennt die Türkei nur als Urlaubsland, hat natürlich die Nachrichten verfolgt, kann sich aber kaum vorstellen, dass Dilek sich ernsthaft in Gefahr befindet. An ihrer Figur wird das zweite große Thema des Romans angerissen: wie konservativ ist die türkische Gemeinschaft hierzulande, können sich gerade junge Frauen überhaupt frei entfalten und wie kommt es, dass viele der sogenannten Gastarbeiter sich trotz anderer Pläne ihr Leben letztlich in Deutschland eingerichtet und die Rückkehrpläne aufgegeben haben. Vor allem für Frauen scheinen sich die großen Versprechungen und Erwartungen nicht erfüllt zu haben – Grund genug, diese auch den Töchtern vorzuenthalten?

Ein kurzer Einblick in das türkische Leben dort wie hier, in dem sich vieles im Schatten oder Verborgenen abspielt, sei es wegen der gesellschaftlichen oder familiären Normen oder wegen staatlicher Drohung, die auch aus der Ferne wirkt. Interessant fand ich dabei, dass Dilek weitaus moderner und aufgeklärter wirkte als Ayla, die sich letztlich doch dem familiären Korsett fügt und nur sehr begrenzt ihre eigenen Vorstellungen von einem Leben verfolgt.

Das Ungesagte, Verschwiegene nimmt einen wichtigen Platz mit ganz unterschiedlichen Funktionen ein. In der Türkei bietet dies Schutz vor der staatlichen Gewalt, in der Familie von Dilek und Ayla steht es zwischen ihnen, die Mädchen wissen nicht, was zwischen den Müttern gesagt und vorgefallen war und trauen sich nach Jahren auch kaum die Frage danach zu stellen, sondern beginnen selbst zu schweigen. So wird das Schweigen von einer auf die nächste Generation übertragen, ohne dass diese wüsste, warum.

Ein interessanter Roman, der viel zu schnell endet, denn die Geschichte der beiden jungen Frauen ist für mich noch nicht zu Ende erzählt, zu viel Potenzial steckt noch in Anna Yeliz Schentkes Figuren.

Nachtrag: Belohnt wird der Roman mit der Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022.

Tanja Maljartschuk – Blauwal der Erinnerung

Tanja Maljartschuk – Blauwal der Erinnerung

Die Ich-Erzählerin leidet und Angststörungen, die sie zunehmend lähmen und an die Wohnung fesseln. Auch schreiben kann die Autorin kaum mehr. Als sie in einer Zeitung auf die Todesanzeige Wjatscheslaw Lypynskyjs stößt, einen vergessenen ukrainischen Volkshelden, mit dem sie kaum etwas gemein hat, ist sie auf unerklärliche Weise fasziniert und ihr wird Interesse geweckt. Sie beginnt zu forschen und zeichnet das Leben des Adelsspross nach, der von der Gründung eines ukrainischen Staates träumte und der dafür bereit war, sehr viel zu opfern.

Es gibt Romane, deren Erscheinung man wahrnimmt, sie unter „merken zum irgendwann lesen“ abspeichert und dann doch langsam vergisst. „Blauwal der Erinnerung“ war so ein Buch für mich. Im Zuge der aktuellen politischen Entwicklungen und einem Interview mit Tanja Maljartschuk bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden und war von Wjatscheslaw Lypynskyj ebenso beeindruckt wie die Erzählerin. Der ukrainischen Autorin und Journalistin gelingt es, einem sofort für den idealistischen Mann zu begeistern und mit ihm auf den steinigen Weg zu seinem großen Ziel zu gehen. Nicht nur als Roman unterhaltsam, sondern auch gerade vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen und der Diskussion um das Existenzrecht des Staates ein sehr erhellendes Buch, das ich nur unbedingt empfehlen kann.

Lypynskyj wird 1882 als Sohn einer polnischen Adelsfamilie in der heutigen Ukraine geboren. Das Land, dessen Sprache und Existenz er sein Leben verschreibt, existiert damals noch nicht. Polen und das russische Zarenreich teilen sich das Gebiet, die Sprache wird als bäuerlicher Dialekt angesehen, keineswegs den beiden Hochsprachen gleichgestellt und bald sogar in Russland verboten. Eigentlich will er in Krakau Argrawissenschaften studieren, doch Geschichte und Literatur interessieren den jungen Mann mit schwacher Gesundheit viel mehr. Er wird zum politischen Aktivisten, findet in Polen und später auch in Wien mutige Mitstreiter, während seine Familie sich von seinen absurden Hirngespinsten abwendet, auch seine Frau hält es nur wenige Jahre an seiner Seite aus.

„Folklore und die Liebe zu Alltagsantiquitäten waren das Einzige, dessen sich das Ukrainertum des Jahres 1903 rühmen konnte. Aufgeteilt zwischen zwei Großmächten erinnerte es immer mehr an eine mit Staub überzogene Dekoration, die keiner brauchte.“

Eng verwoben mit der Lebensgeschichte des Idealisten ist die Entstehung der Ukraine. Zunächst der Ukrainischen Volksrepublik, die für wenige Monate nach dem Ersten Weltkrieg ausgerufen und doch bald schon in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingegliedert wird. Erst mit dem Mauerfall konnte die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Nationalbewegung einen eigenen Staat und Anerkennung ihrer Identität als Nation realisieren. Es lässt sich einiges an historischen Begründungen, die aktuell als vermeintliche Argumente für die Invasion angeführt werden, nicht unbedingt nachvollziehen, aber einordnen. Der Gedanke an den unabhängigen Staat, der Lypynskyj trotz schwerer Tuberkulose am Leben hielt und dazu brachte, weit über seine Kräfte hinauszuwachsen, glaubt man aktuell bei ganz vielen seiner Nachfahren gleichermaßen erkennen zu können.

„Man muss kein Hellseher sein, um offensichtliche Dinge vorauszusagen, die seit Langem durch die Geschichte vorherbestimmt sind. Die Ukrainer – zerrissen zwischen Kaiser und Zar – befinden sich in einer Situation, in der sie sich entweder aufgeben und als Volk verschwinden oder sich erheben müssen.“

Unabhängig von der Aktualität und Relevanz besticht der Roman durch eine geschickte Verwebung der beiden Handlungsstränge und vor allem durch die Figurenzeichnung und die pointierte Darstellung der gesellschaftlichen sowie politischen Strömungen, denen sich der vergessene Volksheld gegenüber sah.

Zoë Beck – Paradise City

Zoë Beck Paradise City
Zoë Beck – Paradise City

Erst ihr Chef und Liebhaber Yassin, dann auch noch Kaya, eine weitere investigative Journalistin. Liina und Özlem wird schmerzlich bewusst, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie arbeiten in einer geheimen Agentur, die sich der Wahrheit verpflichtet hat und das veröffentlicht, was die Staatspresse versucht zu verheimlichen. Wie den seltsamen Tod einer Frau in der Uckermark, die scheinbar von einem wilden Tier zu Tode gebissen wurde. Doch vor Ort wollen die spärlichen Informationen, die sie zusammentragen können, einfach kein stimmiges Bild ergeben. Es muss mehr dahinterstecken. Für Liina wird der Stress lebensbedrohlich, denn ihre Herzschwäche verträgt Unregelmäßigkeiten nicht gut und gerade sie muss besonders aufpassen, denn in ihrem Körper schlägt ein ganz besonderes Organ, von dem ebenfalls wiederum niemand etwas wissen darf.

Zoë Becks neuester Roman verbindet unterschiedlichste aktuelle Themen der letzten Jahre: die zunehmende Technologisierung, die eine totale Überwachung der Bevölkerung ermöglichen könnte; ein Staat, der die Presse und Informationsveröffentlichung kontrolliert, um so die Bürger in Schach zu halten; ein Gesundheitsglaube, der alles, was nicht der optimierten Norm entspricht, versucht auszusortieren; die Folgen des Klimawandels, die weite Teile der Küstengebiete unbewohnbar machen; medizinische Forschung, die die Grenzen des ethisch vertretbaren immer weiter ausreizen. Im Zentrum eine rebellische junge Frau, die ihr Leben riskiert, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen und die all jene Ideale vertritt, die man mit Gruppierungen wie Anonymus oder Extinction Rebellion in Verbindung bringt.

Die lange Aufzählung lässt bereits erahnen, dass das alles zu viel ist für einen Thriller, der nicht einmal 300 Seiten hat. Die dystopische Anlage des Staates bleibt für mein Empfinden zu diffus, um zu überzeugen. Es gibt nur noch Megacities, deren Entstehung sich nicht wirklich erklärt, auch ist nicht ganz klar, wo die Grenzen des Staates verlaufen, was drumherum ist, wo Konstrukte wie die EU geblieben sind oder weshalb sie verschwanden. Ist dieser nebulöse Staat mit seiner Totalüberwachung und Pressekontrolle das böse Feindbild oder ist dies doch eher die medizinische Forschung? Angedeutet werden Massen- und Grippepandemien, aber sie bleiben zu nebensächlich, genauso wie die Gruppe der „Parallelen“, die sich rebellisch der verordneten Lebensweise entziehen.

Die Protagonistin Liina ist durchaus interessant angelegt, steckt sie ganz persönlich in dem Konflikt rund um die medizinische Versorgung, hat einerseits davon profitiert, wird aber auch zu deren Opfer. Sie genauso wie ihre Kollegen der geheimen Journalisten können mich jedoch nicht wirklich für sich gewinnen, sie sind mir zu schemenhaft und oberflächlich gezeichnet, um authentisch und überzeugend zu wirken.

Es entsteht zwar so etwas wie Spannung, aber ich hatte mehr den Eindruck wie ein blindes Huhn mal in diese, mal in jene Richtung zu rennen, nichts wirklich zu erkennen und plötzlich vor einem großen Verschwörungsfinale zu stehen. Das Grundgerüst der Handlung hätte mehr hergegeben, so hat es auf mich wie eine etwas lieblose Aneinanderreihung von zu vielen Themen gewirkt, die einfach nicht zu einer unterhaltsamen, spannenden Geschichte verschmelzen wollen.