Stine Pilgaard – Meter pro Sekunde

Stine Pilgaard – Meter pro Sekunde

Mit Mann und Baby zieht die Ich-Erzählerin in das beschauliche Velling in Westjütland, wo er einen Job an einer Schule annimmt. Was so idyllisch klingt, wird zu Herausforderung, denn die Menschen dort ticken anders und jede noch so kurze Unterhaltung wird zum Vabanquespiel. Außerdem muss sie endlich den Führerschein machen, sie hat schon fast alle Fahrlehrer verschlissen und gilt als größtes Projekt. Aber wie soll das gehen, wenn man dank Neugeborenem nicht mehr zu Schlaf kommt und schon beinahe beginnt zu halluzinieren? Ihre Emotionen kann sie nur an einer Stelle ungehemmt rauslassen, als Kummerkasten Tante der Lokalzeitung antwortet sie scharfzüngig und bissig auf die großen und kleinen Anliegen der Bewohner.

In ihrer dänischen Heimat ist Stine Pilgaard bereits seit ihrem Debüt 2012 ein Star und ihr Roman „Meter pro Sekunde“ wurde dort begeistert aufgenommen. Die Banalität und Absurdität des Alltags, die humorvoll auf den Punkt gebracht wird, hat offenbar viele ihrer Landsleute sich selbst erkennen lassen. Die Autorin greift eine ganze Bandbreite von Alltagsthemen einer jungen Mutter auf, die in eine Gegend mit eher schweigsamen Menschen zieht und dort ihr Leben neu sortieren muss. Das ist oft zum Schmunzeln, konnte mich jedoch nicht immer erreichen.

Es liegt vermutlich daran, dass ich kaum eine Beziehung zur Erzählerin aufbauen konnte, dass mich der Roman doch eher unberührt ließ. Sie hadert mit ihrem Schicksal, dass jedoch selbstgemacht ist und durchaus absehbar gewesen wäre. Die Einschübe des Gesangbuchs haben mich eher ratlos gemacht, zusammen mit den Kummerkasten Fragen und Antworten war mit das etwas zu viel Textdiversität. Vielleicht gibt es hier einen tierliegenden Sinn, in solche Tiefen bin ich jedoch nicht abgetaucht. Es ist eine Zeit lang ganz amüsant, ihre bissigen Kommentare zu verfolgen, diese werden jedoch irgendwann auch recht vorhersehbar und verlieren an Reiz.

Der Roman wird sein Publikum und seine Leser finden, für mich bleibt er Dank der Kürze eine schnelle Lektüre, die vermutlich nur wenig nachwirken wird, dabei hatte ich vor allem auch wegen des Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel recht viel erwartet.

Annie Ernaux – La honte [dt. Die Scham]

Annie Ernaux – La honte

An einem Sonntagnachmittag im Juni 1952 wollte der Vater der 12-jährigen Annie ihre Mutter umbringen. Damit eröffnet die französische Autorin ihren Roman, der mehr einem Tagebuch der Erinnerungen gleicht. Das Ereignis hat Spuren bei dem Mädchen hinterlassen, zwei Bilder aus dem fraglichen Jahr belegen dies, es gibt ein Davor und ein Danach. Detailliert schildert sie die Situation in der heimischen Küche, dem Durchgangszimmer zwischen dem Café der Eltern und der Wohnung der Familie, der Raum, der Einblick in das Leben erlaubt, das eigentlich verborgen sein sollte, denn alles Private ist auch mit Scham besetzt. Das erlebt das Mädchen immer wieder, so wird sie erzogen. Das kleine Dörfchen der Normandie, in dem sie aufwächst, hat in den 1950ern klare Regeln, ebenso ihre katholische Privatschule, beides prägt die Autorin so stark, dass es sich auch 40 Jahre später nicht loslässt.

Die meisten Romane Annie Ernaux sind autobiografisch geprägt, sie öffnet damit die Tür und gibt Einblick in ein Leben, das bis dato weitgehend verborgen war. Sie gilt als Chronistin des einfachen Lebens in Frankreich, sie schreibt über fast banale Alltagsthemen, die jedoch für die Figuren (oft sie selbst) essentielle Momente darstellen. In dem Roman, der bereits Mitte der 1990er Jahren veröffentlicht wurde, ist es der Gewaltausbruch des Vaters, der außer in ihrem Gedächtnis nirgendwo dokumentiert ist.

Scham kommt als Thema immer wieder in ihren Büchern vor, vor allem bezogen auf ihre Herkunft. Die Eltern schon haben einen kleinen Aufstieg erreicht, indem sie von Fabrikarbeitern zu Selbstständigen wurden. Die Regeln für die Tochter sind streng, unter keinen Umständen darf sie den äußeren Schein gefährden. Dazu zählen auch die Frömmigkeit der Mutter und der Besuch der katholischen Schule, wo sie eine Außenseiterin bleibt, denn aus ihrem Viertel gehen alle Kinder in die staatliche Schule und mit ihren Mitschülerinnen aus gutbürgerlichen Elternhäusern hat sie nur wenig gemein. Dennoch will sie gefallen, vor allem den Lehrerinnen und den bewunderten älteren Schülerinnen. Doch nie ist sie genug, zumindest so ihr Empfinden, es bleiben immer Makel, derer sie sich nicht entledigen kann und die ein tiefes Gefühl von Scham bei ihr hinterlassen, das sie ihr Leben lang begleiten wird.

Frankreich mangelte es nun wahrlich nie an Philosophen und Soziologen, die uns die Gesellschaft versuchten zu erklären. Annie Ernaux macht dies allerdings auf eine viel greifbarere Weise, die einem als Leser unmittelbar trifft. Auch viele Jahrzehnte später kann sie sich noch in das junge Mädchen und sein damaliges Empfinden hineinversetzen und ihr eine Stimme verleihen, die sie damals noch nicht hatte. Im Suhrkamp Verlag sind in den vergangenen Jahren einige Neuübersetzungen von Annie Ernaux erschienen, so auch „Die Scham“. Sicherlich kein Roman für die Massen und für mich auch nicht ganz so stark wie „Erinnerung eines Mädchens“, aber auf jeden Fall empfehlenswert, wenn man unsere Nachbarn etwas besser verstehen möchte, denn gerade auch dieser Roman erklärt, weshalb Annie Ernaux eine leidenschaftliche Unterstützerin der „Gilets Jaune“ (Gelbwesten) war.

Laurie Halse Anderson – Speak

laurie-halse-anderson-speak
Laurie Halse Anderson – Speak

Alle hassen Melinda Sordino, niemand will mehr mit ihr befreundet sein, nachdem sie bei einer legendären Party im Sommer die Polizei gerufen hat. Nur Heather, die neu an der Schule ist, spricht noch mit ihr. Melinda geht es zunehmend schlechter, sie hat nicht ohne Grund die Polizei gerufen an diesem Abend, sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte, nachdem sie von Andy Evans vergewaltigt worden war. Doch sie kann mit niemandem darüber sprechen. Sprechen fällt ihr ohnehin zunehmend schwerer und deshalb schweigt sie. Gegenüber den Mitschülern, gegenüber den Lehrern, gegenüber den Eltern. Ihre Noten werden immer schlechter, sie schwänzt die Schule, versteckt sich in einer Abstellkammer, ihrer einzigen Zuflucht, aber statt sie zu fragen, was mit ihr los ist und die Depression und post-traumatische Störung zu erkennen, wird sie als renitente Schülerin abgestempelt.

Das Jugendbuch „Speak“ ist inzwischen zwanzig Jahre alt und so etwas wie ein Klassiker unter den Traumabüchern. Erst viele Jahre nach Erscheinen des Buchs und zahlreichen Lesungen in Schulen hat die Autorin eingeräumt, dass die Geschichte auf ihren persönlichen Erfahrungen basiert und sie ebenso wie ihre Protagonistin als junges Mädchen vergewaltigt wurde und nicht darüber gesprochen hat. Aufgrund des Triggerpotenzials wird „Speak“ unterschiedlich aufgenommen, zahlreiche Preise anerkennen den literarischen und vor allem inhaltlichen Wert für Jugendliche, gleichermaßen ist es an zahlreichen Schulen und Universitäten verboten.

Auch wenn ein depressives, traumatisiertes Mädchen im Zentrum der Handlung steht und die Geschichte aus ihrer Perspektive geschrieben ist, empfand ich dies beim Lesen als übermäßig belastend. Es ist weniger das Ereignis selbst, als viel mehr das Unvermögen ihres Umfeldes zu erkennen, dass mit ihr etwas nicht in Ordnung ist, dass sie sich zurückzieht, auch mit Ritzen experimentiert und nicht mehr spricht, das thematisiert wird. Melinda versucht selbst, einfach zu vergessen, was an dem Abend geschehen war, ein unmögliches Unterfangen, denn die Flashbacks lassen sich nicht aufhalten und so muss sie sich dem Erlebten immer wieder stellen.

Bemerkenswert fand ich, dass die Autorin nicht nur Melindas Innenleben und die Folgen des Traumas authentisch und überzeugend dargestellt hat, sondern auch, wie viel unter der Erzählebene versteckt liegt. Die Suche der Schule nach dem Maskottchen, das identitätsstiftend wirken soll und doch aufgrund der vielfältigen Konnotationen immer wieder abgelehnt wird – kann dies in einer diversen Gesellschaft überhaupt noch gelingen? Oder auch Melindas Gespräche mit einem Poster Maja Angelous, der Autorin, die ihre Gewalterfahrungen literarisch in „I Know Why the Caged Bird SIngs“ verarbeitete und die Besprechung von Hawthorne, in dessen Protagonistin Hester Prynne Melinda sich wiedererkennt. Allem voran jedoch ihr Jahresthema im Kunstunterricht: sie soll einen Baum schaffen, doch ihre Versuche enden immer in einem toten Geäst, es findet sich kein Leben in der Pflanze, keine neuen Blätter entstehen mehr, denn die Kraft des Lebens fehlt.

In jeder Hinsicht ein anspruchsvolles Jugendbuch, das einerseits ein wichtiges Thema beleuchtet, gleichzeitig fürchte ich jedoch, dass nicht jede junge Leserin bzw. auch jeder junge Leser gut damit umgehen kann, vor allem, wenn sie sich in Melinda wiederkennen und das Lesen ihre Trauma verstärken könnte.

Laurie Gelman – Die Elternsprecherin

laurie-gelman-die-elternsprecherin
Laurie Gelman – Die Elternsprecherin

Jenny Dixon hatte Kinder und Schule eigentlich hinter sich als sie mit ihrem Mann Ron doch noch einen Sohn bekommt. Also geht alles wieder von vorne los und da sie das Drama schon kennt, übernimmt sie den Job als Elternsprecherin der Vorschulklasse von Miss Ward. Damit die anderen Eltern wissen, wo der Hase langläuft, wendet sie sich mit deutlichen Ansagen und wenig feinfühliger Ironie an diese. Die einen sind verärgert, die anderen haben gehörigen Spaß. Doch wichtige Positionen locken Neider an und bald ist Jennys Job in Gefahr, aber sie hat ja auch noch andere Sorgen als nur die Vorschule, z.B. dem Schlammwettlauf, für den sie trainiert oder ihre High-School-Flamme, die plötzlich wieder aufgetaucht ist.

Laurie Gelmans Roman lebt von spritzigem Humor und Situationskomik. Die Protagonistin ist herrlich gezeichnet und unterhält bestens mit ihrer unkonventionellen Art. Sie entspricht so gar nicht dem Klischee der Nur-Mutter, die Helikopter-mäßig nur um ihren Jüngsten kreist, sondern sieht alles mit einer gelassenen Distanz, die die anderen Eltern bisweilen auf die Palme treibt.

Daneben gibt es größere und kleinere Dramen: Liebe, Affären, Zickereien -alles was das Leben so bietet. Humorvoll und nicht so ernstzunehmend, damit beste Unterhaltung für Zwischendurch.

Jan Weiler – Eingeschlossene Gesellschaft

Eingeschlossene Gesellschaft von Jan Weiler
Jan Weiler – Eingeschlossene Gesellschaft

Freitagnachmittag nach Unterrichtsende, nur noch wenige Lehrkräfte sind in der Schule und eigentlich auch schon auf dem Weg ins Wochenende, als es an der Tür des Lehrerzimmers des städtischen Gymnasiums klopft. Ein Vater bittet Klaus Engelhardt, einen strengen Pauker, um ein Gespräch, denn sein Sohn wird die Zulassung zum Abitur nicht bekommen, wenn er nicht von just diesem Lehrer einen Punkt mehr bekommt. Der Vater lässt sich nicht abwimmeln und als er merkt, dass die Kooperationsbereitschaft der Pädagogen recht überschaubar ist, greift er zu einer Waffe, um so seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Unter dem Druck der Situation zeigen plötzlich alle ihr anderes Gesicht, das sie normalerweise hinter der professionellen Fassade verstecken.

Nachdem ich das Hörspiel zu Jan Weilers Pubertier nur mäßig lustig fand und entnervt mittendrin ausgeschaltet habe, war ich etwas skeptisch. Dies war jedoch bei der Eingeschlossenen Gesellschaft völlig unbegründet. Das Hörspiel überzeugt durch boshaften Witz, herrliche Dialoge und einer ins Schwarze treffenden Anklage der vorgeblich besseren Gutmenschen.

Die Figuren, die zunächst als unscharfe Charaktere nur durch ihren Beruf als Lehrer gekennzeichnet sind, entwickeln sich im Laufe der Handlung zu fein ausgearbeiteten Individuen, die allesamt nicht nur überraschen können, sondern eine riesige Bandbreite von gesellschaftlichen und persönlichen Verfehlungen aufbieten können, die einerseits erschreckt, bei genauerem Hinsehen aber eigentlich nur glaubwürdig und lebensnah wirkt. Jeder einzelne muss sich dem Urteil der kleinen Gemeinschaft stellen und aus der vorher noch herrschenden Solidarität wird schnell purer Egoismus, jeder will seine eigene Haut retten und zeigt schnell mit dem Finger auf die anderen.

Håkan Nesser – Der Fall Kallmann

Der Fall Kallmann von Hakan Nesser
Håkan Nesser – Der Fall Kallmann

Nach dem Verlust seiner Frau und seiner Tochter zieht Leon Berger in eine schwedische Kleinstadt, um an der dortigen Schule als Lehrer neu anzufangen. Er übernimmt den Job eines gewissen Eugen Kallmann, der wenige Monate zuvor unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Für die Polizei war es ein natürlicher Tod, aber nachdem Leon in seinem Schreitisch Tagebücher gefunden hat, wachsen langsam Zweifel an dieser Version. Zusammen mit seinen Kollegen Ludmilla und Igor beginnt er nachzuforschen und will vor allem herausfinden, was an den Tagebüchern der Wahrheit entspricht und was Fiktion ist, denn dort berichtet Kallmann von einem Mord, den er begangen habe. Weitere Zwischenfälle in der Schule, zunächst antisemitische Briefe, dann aber auch ein Mord an einem Schüler scheinen im Zusammenhang mit dem undurchsichtigen Lehrer zu stehen, der in all den Jahren an der Schule trotzdem für alle Kollegen unbekannt und ein Rätsel blieb.

Schätzungsweise war dies mein fünfzehnter Roman von Håkan Nesser und immer wieder bin ich begeistert davon, wie es ihm gelingt einen ganz eigenen, ruhigen Erzählton zu entwickeln, obwohl die Geschichte gerade eine dramatische Wendung nimmt und das Leben seiner Figuren tiefgreifend verändert. Der etwas langsamere Rhythmus der schwedischen Provinz wird so überzeugend umgesetzt und macht das Lesen seiner Krimis zu einem großen Spaß.

Der aktuelle Fall um Eugen Kallmann kann mich ebenso überzeugen wie viele Vorgänger. Nesser verzichtet auf unnötige Komplikationen durch ein riesiges Figurenensemble, im Wesentlichen beschränkt er sich auf die beiden Lehrer Leon und Igor und die Schulpsychologin Ludmilla. Hinzu kommt eine Schülerin, deren Familiengeschichte in den Fall verwickelt zu sein scheint. Das Privatleben verleiht den Figuren mehr Tiefe, lenkt jedoch nicht von den Nachforschungen ab, sondern ist genau richtig dosiert. Auch setzt Nesser nicht auf unerwartete Zufälle, um seinen clever konstruierten Plot zu lösen, sondern dröselt langsam und zielgerichtet jeden Knoten auf, so dass nicht nur alle Fragen beantwortet werden, sondern auch die Motivationen der Figuren glaubwürdig bleiben und die Handlung in sich stimmig wirkt.

Es sind einmal mehr urmenschliche Beweggründe, die die Figuren zu ihrem Handeln veranlassen. Wie nur wenigen anderen Autoren beweist Håkan Nesser eine hervorragende Beobachtungsgabe der menschlichen Natur und kann dies gekonnt in einen Roman umsetzen. Die perfekte Unterhaltung für lange Herbstabende.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Roman und Autor finden sich auf der Seite des Random House Verlag.