Patrick McGuinness – Den Wölfen zum Fraß

Patrick McGuinness – Den Wölfen zum Fraß

Als man eine Frauenleiche findet, scheint der Täter offenkundig: der etwas exzentrische Einzelgänger Michael Wolphram, der das Opfer auch kannte und gar nicht verhehlt, gelegentlich mit der attraktiven jungen Frau gesprochen zu haben. Vor seiner Pensionierung war er Lehrer am Chapleton College, das auch Alexander, einer der beiden Polizisten, die den Fall untersuchen, besuchte. Er hat gänzlich andere Erinnerungen an den Mann als das Bild, das die Presse schnell von ihm zeichnet. Sein Kollege Gary will eigentlich nur noch die notwendigen Beweise sichern und den Fall abschließen. Was zunächst offenkundig scheint, wirft jedoch schnell einige Fragen auf.

Patrick McGuiness erzählt zwar oberflächlich in „Den Wölfen zum Fraß“ einen klassischen Krimi, darunter liegt jedoch eine scharfsinnige Analyse der Gesellschaft, die auf unterschiedenen Ebenen von Vorurteilen und klaren Grenzen zwischen den Schichten und Bevölkerungsgruppen geprägt ist. Die Frage nach dem Mörder rückt immer wieder hinter diese zurück und eröffnet so Raum für weitaus größere und interessante Aspekte.

Die beiden Polizisten sind perfekt austarierte Partner, die trotz ihrer Verschiedenheit, oder vielleicht auch gerade wegen dieser, hervorragend zusammenarbeiten und sich ergänzen. Alexander der gebildete, studierte, der mit klarem Kopf sachorientiert vorgeht; Gary repräsentiert mit seinem Dialekt eher die Arbeiterklasse, zu der er naturgemäß bei Befragungen auch besser einen Draht aufbauen kann.

Durch die Rückblicke in eine längst vergangene Schulzeit eröffnet Alexander nicht nur ein differenzierteres Bild des Verdächtigen, sondern zeigt auch wie eng die realen und geistigen Mauern des britischen Internatslebens sein können und wie schwierig es für Außenseiter ist, dort Fuß zu fassen. Mehr noch allerdings exponiert er die Presse, die blutsaugend hinter dem Fall her ist. Die Geschichte basiert auf jener von Christopher Jeffries, der 2010 wegen des vermeintlichen Mordes an Joanna Yeates durch die Boulevardblätter bereits verurteilt wurde, bevor überhaupt die Polizeiarbeit abgeschlossen war.

Kein Roman, der mich von der ersten Seite gepackt hätte, sondern einer, der zunehmend sein Potenzial zeigt, dessen pointierte Sprache ihre Bedeutung erst langsam enthüllt und dann erst erkennen lässt, um was für einen großartigen, bis ins Detail ausgefeilten Roman es sich handelt.

Volker Jarck – Sieben Richtige

Volker Jarck – Sieben Richtige

Das ganz normale Leben zwischen Bochum und Köln, wie es eben so spielt mit seinen Zufällen. Die Ehe von Marie und Victor ist am Ende, ihr Sohn Nick lebt inzwischen in den USA und nach der Krebs-Diagnose zieht es Marie weg aus dem Ruhrgebiet zu ihrer Schwester an den Rhein. Ihre Nachbarn durchleben derweil im Sommer 2018 den größten Alptraum aller Eltern: ihre Tochter Greta wird durch einen übermütigen Raser lebensgefährlich verletzt. Im Krankenhaus arbeitet die Pflegerin Lucia, die ebenfalls eine schreckliche Nachricht erhält: ihr Vater starb durch einen Wespenstich an einer Autobahnraststätte; er war gerade dabei die Möbel der Autorin Eva Winter zu deren neuer Wohnung in Köln zu transportieren. Diese hat sie kurzfristig bekommen, da die Vormieterin Linda mit ihrem neuen Freund Tim zusammengezogen ist, beide waren einst Schüler von Victor, der seinerseits während seine Studiums von einer gemeinsamen Zukunft mit Eva träumte. Der Kreis schließt sich und die Uhr dreht sich unermüdlich weiter.

„Sieben Richtige“ – quasi der Sechser im Lotto plus Zusatzzahl, ein statistisch unwahrscheinliches Zusammentreffen der richtigen Zahlen im richtigen Moment, das aber dennoch regelmäßig vorkommt. Genauso verhält es sich mit den Begegnungen der Figuren in Volker Jarcks Roman. Nach vielen Jahren als Lektor hat er sich auf die andere Seite des Schreibens gewagt und das mit überzeugendem Ergebnis. Die Geschichten der einzelnen Figuren greifen immer wieder ineinander, sind verwoben und stoßen sich gegenseitig an und werden so zu einem stimmigen Ganzen.

Völlig lose voneinander erscheinen die Erzählungen zunächst, erst im Laufe der Handlung werden die vielfältigen Beziehungen deutlich, die es nicht nur 2018 gibt, sondern auch schon Jahrzehnte zuvor und ebenso viele danach geben wird. Sie sind Geliebte, Partner, Lehrer, Schüler, Nachbarn, Freunde, Ex-Partner, Kinder – in unterschiedlichen Konstellationen treffen wir sie an, mal heiter, mal traurig, beschwingt vom Moment des Glücks, am Verzweifeln ob der sich abspielenden Tragödie. Immer neue Verbindungen werden geschaffen und so einsteht eine kleine Welt in der großen, in der Gegenwart wie in Vergangenheit und Zukunft.

Für jede einzelne Figur sind es große Ereignisse, tatsächlich aber gibt es im Roman nicht die eine weltverändernde Begebenheit; die Geschichte lebt von der Normalität, in die sich jedoch der unglaubliche Zufall einschleicht, so wie er das tagtäglich überall tut. Vor allem das Ineinanderspielen der einzelnen Episoden fasziniert, macht das sichtbar, was Stanley Milgram einst als „Kleine-Welt-Phänomen“ bezeichnete: dass zwei unbekannte Menschen über 6-7 Personen miteinander verbunden sind.

Sprachlich routiniert erzählt mit kleinen, aber feinen Ausreißern nach oben (die Wespe!), ein Roman zum Aufschlagen und einfach nur genießen.

Michela Murgia – Chirú

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Michela Murgia – Chirú

Viele Jahre sind vergangen seit Eleonora zuletzt einen Schüler angenommen hatte. Zu stark war der Schmerz nach dem Selbstmord Nins. Als die Chirú zum ersten Mal begegnet, sieht sie sofort, dass sie den 18-Jährigen Violinisten begleiten, ihn in das Leben der Kunst einführen muss. Unbedarft ist Chirú, aber ein gelehriger Schüler, doch seine Lehrerin unterschätzt ihn. Zunehmend und schmerzhaft muss sie erkennen, dass er nicht nur schnell lernt, sondern vor allem eine scharfe analytische Beobachtungsgabe besitzt, die er in Worte umzusetzen vermag, die nicht nur ins Schwarze treffen, sondern dort auch wie Dolche einstoßen und die Brutalität der Wahrheit geäußert durch seine Jugend umso schlimmer erscheinen lassen.

Michela Murgias Roman liest sich ausnehmend langsam. Voller leiser Töne, einzelner Sätze, die ihre Zeit einfordern aufgrund der Bedeutungsschwere, die ihnen innewohnt. Man kann nicht oberflächlich über sie hinweggehen, zu viel liegt darunter, was sich nach und nach entfalten will.

Ihre beiden Protagonisten sind ein ungewöhnliches Paar. Eleonora, erfolgreiche Theaterschauspielerin und Freigeist, lässt sich weder gedanklich einsperren noch von Konventionen begrenzen und doch lebt sie genau jene wiederum und bringt sie ihren Schützlingen bei. Chirú, der sich unweigerlich in diese attraktive und unnahbare Frau verlieben muss, bewundert sie und saugt ihre Worte regelrecht auf. Doch die Nähe, die zwischen beiden entsteht, wird durch ihre Tournee unterbrochen und ihre über Monate gepflegte Nähe erfährt nun eine plötzliche Loslösung.

Eigentlich sind die Rollen klar verteilt: sie die ältere, weisere, die Lehrerin. Er der jung, vielleicht noch naive Schüler. Doch früh schon zeigt sich, dass mehr in ihm steckt. Er durchschaut sie: das äußere Bild einer Bürgerin, einer Frau, die nicht gefallen will, die im Inneren jedoch einsam ist und unglücklich. Die Maske, die sie auf der Bühne trägt, hat sie auch im Leben für sich gefunden. Sie ist verletzt von seinen Worten und muss doch die Treffsicherheit anerkennen.  Ihm kann sie nichts vormachen. So auch nicht ihre Beziehung zu Martin verheimlichen. Doch sie kann den jungen Schüler nicht einfach aufgeben, auch wenn dieser offenkundig für sie schwärmt. Zu sehr reizt sie das Gefühl der Allmacht, den Einfluss, den sie auf ihn hat. Für diesen Hochmut wird sie bezahlen, sie ahnt es und doch rennt sie sehenden Auges weiter.