Georges-Arthur Goldschmidt – Der versperrte Weg

Georges-Arthur Goldschmidt – Der versperrte Weg

Wie können Lebenswege trotz identischer Ausgangslage völlige verschiedene Läufe nehmen? Zwei Brüder, Erich, der ältere, von Beginn an der ernstere, Jürgen-Arthur als jüngerer von Geburt an von den Eltern verwöhnt und verhätschelt. Die Nazi Zeit führt zur Suspendierung des Vaters, dem angesehenen Richter des Hamburger Gerichts. Zunehmend merkt auch Erich, dass sich die Zeiten ändern, dabei ist er doch ebenso deutsch wie seine Klassenkameraden! Es folgt schließlich die Flucht der beiden Kinder in die französischen Alpen, wo sie in einem Internat versteckt werden. Hatte Erich einst noch die Nazis bewundert und bedauert, nicht Mitglied der HJ werden zu können, sind es nun die Kämpfer der Résistance, denen er nacheifert. Mit dem Erlernen der Sprache erfolgt die Annäherung und die Neukonzeption seiner Identität.

Die wahre Geschichte der beiden ungleichen Brüder wurde auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises nominiert, was mich neugierig machte. Der Roman, oder eher die Biografie aus Brudersicht, ist sperrig und beide blieben mir leider sehr fremd. Georges-Arthur Goldschmidt, seinerseits der jüngere, schwelgt in einer Hommage an seinen größeren Bruder, der unter seiner Existenz offenbar sehr gelitten haben muss und sich in die streng geregelte Welt des Militärs und Beamtentums gerettet hat.

Vieles bleibt fragmentarisch, wird nur angerissen, ist zum Teil der kindlichen Erinnerung geschuldet. Stark wird der Roman vor allem in den Passagen, in denen Sprache und Identität thematisiert werden. Es sind Widersprüche in seiner Biografie, in seinem eigenen Empfinden, aber auch in der Außensicht, an denen Erich sich immer wieder reibt, es ihn fast zerreißt. Nur mit perfekter Sprache und Assimilation kann er das verheimlichen, was er ist – oder war – um etwas zu sein, was er nie ganz werden wird. So wird er zum nicht-Deutschen, nicht-Franzosen, nicht-Juden, nicht-Displaced Person – nur was ist er dann?

„evangelischer Jude deutscher Herkunft im kaum von der deutschen Okkupation befreiten Frankreich“

Es bleibt der Weg in die Fremdenlegion als letzter Ausweg, die Aufgabe all dessen, was zuvor war. Was solche Erlebnisse mit den Menschen machen, kann der Roman deutlich vermitteln, für mich aber dennoch literarisch kein herausragendes Werk.

Anne Weber – Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber – Annette, ein Heldinnenepos

Ärztin, Kämpferin in der Résistance, militante Unterstützerin des Untergrunds. Geboren 1923 in einfachen Verhältnissen in der Bretagne wird Anne Beaumanoir zu einer der interessantesten Frauen Frankreichs des 20. Jahrhunderts. Noch als Studentin hilft sie während des 2. Weltkriegs zahlreiche Juden zu verstecken und zu retten, riskiert dafür nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ihre Liebe, denn immer sind ihre Ideale wichtiger als sie selbst. So ist es auch nur natürlich, dass der Algerien-Krieg nach den wenigen Jahren der Ruhe in ihr die Wut und Abenteuerlust aufs Neue entfacht und sie sich für die Freiheit der Kolonialisierten einsetzt. Obwohl sie inzwischen Mutter ist, bleibt das übergeordnete Ziel Orientierungspunkt und wichtiger als persönliche Empfindsamkeiten. Als auch diese Schlacht geschlagen ist, widmet sie sich einem neuen Betätigungsfeld, als Ärztin ist sie prädestiniert am Aufbau des nun vermeintlich befreiten Landes mitzuwirken.

„Gott oder wer auch immer hats gemacht, dass sie hier lebt, alleine, klein und krumm. Krumm nur ein bisschen und auch nur von außen; im Innern ist sie gerade. So gerade wie ein Mensch in dieser Welt nur sein und leben kann.“

Die kleine Grande Dame lebt noch immer, fast 100-jährig berichtet sie nach wie vor in Schulen von ihrem zivilen Ungehorsam für das, was sie für richtig hielt. Anne Weber hat ihr ein Denkmal gesetzt, das nicht nur den bemerkenswerten Lebensweg einer unbeirrbaren, aufrechten und mutigen Frau nachzeichnet, sondern auch mit einem lakonisch-amüsanten Ton überzeugt. Ob dies für den diesjährigen Deutschen Buchpreis reicht, wird man sehen. Für mich auf jeden Fall eine unbedingte Leseempfehlung in jeder Hinsicht.

Ein Leben gewidmet dem Widerstand gegen totalitäre, ungerechte Staatsmacht. Nie zweifelt sie an ihren Idealen, auch wenn diese keinen Platz in der Wirklichkeit finden, ein kommunistischer Staat ohne Repression, dafür mit gleicher Freiheit für alle, muss wohl wirklich eine Utopie bleiben. Das heißt jedoch nicht, dass man Unrecht nicht bekämpfen sollte, wenn man es sieht. Rückschläge und immer wieder die Erkenntnis, dass die neuen Herrscher im Grunde auch nicht besser sind als die alten, können sie nicht abschrecken oder gar aufhalten. Die Männer an ihrer Seite müssen entweder ihren Kampf mitkämpfen oder sich verabschieden, ein klassisches Familienidyll gibt es für sie nicht, zu viel ist sie in geheimen Missionen oder auf der Flucht unterwegs. Sie droht sich selbst dazwischen immer wieder zu verlieren, doch sie treibt sich selbst immer wieder an weiterzukämpfen.

„Die Lage ist nicht grade ideal, um zwei jüdische Kinder zu verstecken. Sie tun es trotzdem. Denken womöglich: In idealen Lagen würde man keinen zu verstecken haben.“

Man kennt viele Geschichten von mutigen Helfern, die sich den Nazis und anderen fast übermächtigen Verbrechern couragiert entgegenstellten. Die Rolle der Frau wird dabei oft verschwiegen oder kleingeredet. Reden schwingen, das erlebt auch Anne Beaumanoir in der Partei, das ist es, was die Männer wollen, Reden schwingen und Macht, trotz Medizinstudium und Doktortitel bleibt für sie als Frau nur die Handlangertätigkeit, dabei ist sie es, die beherzt tut, was getan werden muss und das Machen immer vor das Reden stellt.

„Annette weiß: Was sie tat, ist richtig, vielleicht hat sie nicht das Recht, aber sie hat die Gerechtigkeit auf ihrer Seite, daran hat sie nicht die geringsten Zweifel.“

Sie trägt heute den von Yad Vashem verliehenen Titel „Gerechter unter den Völkern“ als Anerkennung für ihre Rettungsaktionen und das Risiko, das sie damit eingegangen ist. Auch wenn nicht alles legal und vielleicht im Nachhinein nicht die beste Entscheidung war, sie kann sicherlich als ein Vorbild für einen altruistischen Kampf für das höhere Gut gelten. Allein dafür, dass sie diese Frau ins öffentliche Bewusstsein außerhalb Frankreichs bringt, gehört der Autorin eine Auszeichnung.

Jean-Luc Seigle – Ich schreibe Ihnen im Dunkeln

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Jean-Luc-Seigle – Ich schreibe Ihnen im Dunkeln

Pauline Dubuisson, einer der bekanntesten Kriminalfälle im Frankreich der 1950er Jahre. Jeder kennt ihre Geschichte, denn sie wurde unter dem Titel „La Vérité“ von Henri-Georges Clouzot mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle verfilmt. Doch ist das wirklich die Geschichte der Pauline Dubuisson? Jean-Luc Seigle hat sich des Stoffes noch einmal angenommen und lässt Pauline nun selbst erzählen. Das Mädchen, in das die Eltern so hohe Erwartungen setzten, da sie überdurchschnittlich intelligent war und das Medizinstudium immer vor Augen hatte. Nach dem Tod ihrer älteren beiden Brüder im Zweiten Weltkrieg zieht sich die Mutter immer mehr zurück. Die Not ist groß im besetzten Frankreich und Paulines Vater, den sie abgöttisch verehrt und dessen Aufmerksamkeit alles für sie bedeutet, kann für das Mädchen eine Stelle als Krankenschwester bei einem deutschen Arzt finden, was der Familie Zugang zu Lebensmitteln verschafft. Nach dem Krieg fällt das Urteil hart über das Mädchen aus. Eine Deutschenhure wurde sie genannt, mehrfach vergewaltigt als Strafe dafür, dass sie mit dem Feind kollaboriert hat, und letztlich zum Tode verurteilt. Doch dieses Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt. Hart kämpft sie sich zurück ins Leben und lernt im Studium zum ersten Mal die richtige Liebe kennen. Doch sie möchte nicht, dass ihre Vergangenheit zwischen ihnen steht und offenbart sich ihrem zukünftigen Mann. Dessen Ablehnung und Demütigung kann sie nicht ertragen. Sie will sich das Leben nehmen, doch ihre letzte Begegnung verläuft anders als geplant und am Ende ist sie eine Mörderin.

Es ist unglaublich wie sehr sich Seigle in diese Figur eindenken konnte und wie glaubwürdig dieser Bericht erscheint. Er ist fiktiv, nur die Eckdaten sind belegt, und dennoch kann man sich nur vorstellen, dass dies die Gedanken und Gefühle waren, die Pauline durch den Kopf gingen, sondern entwickelt auch ein gänzlich anderes Bild der Frau als das, das in der Öffentlichkeit von ihr gezeichnet wurde. Vor allem durch die Verfilmung wurde die Vorstellung von ihr geprägt und das, wo weder sie noch ihr Umfeld daran mitgearbeitet haben. Seigle fasst dies so zusammen:

„Ein Drehbuch über meine Geschichte kam mir umso unwahrscheinlicher vor, als ich bisher überhaupt nichts von der Wahrheit gesagt hatte, nicht einmal bei meinem Prozess; niemand außer mir wusste, was in der Nacht des Verbrechens vorgegangen war.“

Symptomatisch für ihr Leben wird folgender Satz:

„Ich glaube, man kann nur daran sterben, dass man nicht mehr geliebt wird. Und das bedeutet nicht, aus Liebe zu sterben, sondern eher das Gegenteil.“

Als Kind und Jugendliche liebt sie ihren Vater und befolgt seine Befehle unhinterfragt, was ihr zum Verhängnis wird. Als Erwachsene wird sie wiederum von zwei Männern, die sie liebt, zurückgewiesen und als Konsequenz wünscht sie sich den Tod. Nur dieser kann sie erretten. Mehrfach misslingen ihre Suizide, Pauline ist zum Leben verdammt scheint es:

„am Tag vor der Eröffnung meines Prozesses, als ich zum dritten Mal versucht habe, mir das Leben zu nehmen. Alle sagten, ich sei abermals «gerettet» worden, während ich dachte, ich sei abermals am Sterben «gehindert» worden.“

Besonders bestürzend waren die Lynchjustiz und Racheakte der vorgeblichen Résistance. Erbarmungslos schildert der Autor, was man dem jungen Mädchen antut. Die Zeilen sind drastisch, kaum zu ertragen vor Brutalität und man fragt sich, ob der Krieg wirklich alles Menschliche in der Bevölkerung ausgelöscht hat und dass sie vorgefertigte Wahrheiten der tatsächlichen Realität vorziehen. Vieles im Leben von Pauline ist durch die Umstände und vor allem den Krieg bestimmt. Ihr Leben wäre ein gänzlich anderes gewesen, wäre sie in anderen Zeiten großgeworden. Aber so funktioniert nun einmal das Schicksal, es sind die Umstände, die die Menschen zu dem werden lassen, was sie letztlich sind. Und es sind die Worte, die wir gebrauchen, um sie zu beschreiben, die sie zu dem werden lassen, was wir in ihnen sehen wollen. Doch manchmal ist auch die Sprache nicht ausreichend:

„Die Vorsätzlichkeit qualifiziert das Verbrechen als Mord, als assassinat. Doch das Substantiv assassine, mit dem eine Frau zu bezeichnen wäre, die vorsätzlich gemordet hat, existiert in der französischen Sprache nicht; die Form ist nur als Adjektiv gebräuchlich. Maître Floriot und die anderen arrangierten sich mit dieser Unzulänglichkeit des Französischen.“

Aber man findet Wege, sich zu arrangieren.

Ein beeindruckend und nachhaltig wirkendes Buch über eine Frau, die so viel Hoffnung hatte und die in ihrem Leben einfach kein Glück finden konnte. Wie es wirklich war, wird sich nie herausfinden lassen. Ihr Abschiedsbrief, in dem sie sich offenbar erklärte, ist verschollen und so bleiben nur die Prozessakten, ein Film und das, was wir uns über sie zusammenreimen. Aber das ist nicht wichtig, Jen-Luc Seigle hat ihr eine Stimme gegeben, endlich ihre Version der Wahrheit zu erzählen.

Interessanterweise habe ich gestern ein Feature über „Erfundene Wahrheiten“ in der Fiktion gehört. Es scheint seit einiger Zeit einen Trend auf dem Buchmarkt zu geben, dass sich Bücher, die auf realen Begebenheit beruhen, besonders gut verkaufen. Welche Gefahren darin liegen, wird dabei sehr schön auch aufgezeigt. Letztlich ist aber doch Realität eine Konstruktion, die sich jeder selbst macht. Wir kreieren unsere Welt und darin ist glücklicherweise auch Platz für lesenswerte Geschichten.