Anna Sorokina, vielleicht besser bekannt unter dem Namen Anna Delvey, hat es gerade mal wieder in die Schlagzeilen geschafft, da Netflix ihre Lebensgeschichte unter dem Titel „Inventing Anna“ verfilmt hat. Sie ist eines der bekanntesten Beispiele für sogenannte con artists, Menschen, die sich das Vertrauen (confidence) anderer erschleichen, um diese dann zu betrügen. Maria Konnikova blickt in ihrem Buch „The Confidence Game“ hinter das Phänomen und beleuchtet die psychologische Disposition, die es braucht, um so gemein mit den Mitmenschen zu spielen. Nach und nach legt sie die Auswahl der Opfer, das Setting des Betrugs, die Entwicklung der Geschichte und auch das Auffliegen dar. An unzähligen Beispielen zeigt sie, dass wirklich jeder auf sie hereinfallen kann – manche sogar mehrfach hintereinander.
Zum einen faszinieren die Methoden, mit denen die Gauner ihre Opfer anlocken und dann einwickeln und nicht mehr loslassen. So agieren so clever, dass es manchen noch nicht einmal bewusst ist, dass sie gerade hereingelegt wurden. Männer sind zwar deutlich in der Überzahl, aber auch Frauen beherrschen das Metier und sie lassen sich auch von hohen Strafen nicht abhalten; kaum in Freiheit, setzen sie zu ihrem nächsten Betrug an.
Das Buch lebt vor allem von den Geschichten, die bisweilen schier unglaublich sind und doch noch viel häufiger derart, dass einem sofort bewusst wird, dass man selbst genauso darauf hätte reinfallen können. Zahlreiche vor allem psychologische Studien haben sich sowohl mit dem Verhalten der Täter wie auch jenem der Opfer auseinandergesetzt, Konnikova untermauert mit diesen wissenschaftlich das, was hinter den con artists und seinen Taten steckt. Immer wieder legt sie so Muster offen, die es eigentlich erlauben, den Betrug zu durchschauen – jedoch, wir sind keine rationalen Wesen und unser Gehirn folgt auch gewissen Mechanismen, die es geradezu unmöglich machen, bestimmte Anzeichen zu erkennen. Oft ist man eben erst hinterher klüger und kann sich das eigene Verhalten nicht erklären. Maria Konnikova kann das hingegen, was „The Confidence Game“ zu einer ungemein interessanten Lektüre macht.
Schon als kleines Mädchen war Abigail nicht nur zielstrebig, sondern intellektuell ihren Altersgenossen weit voraus. Als Tochter eines der renommiertesten Psychologen des Landes, zu dem sie stets bewundern aufgeschaut hat, führt ihr Weg sie unweigerlich in dieselbe Richtung. Anders jedoch als der Vater, der geplagte Seelen therapiert, findet Abigail ihre berufliche Heimat bei der israelischen Armee und berät dort die Befehlshaber, wie sie ihre Untergebenen am besten motivieren können, wie sie erkennen, wer den Biss hat, alles für sein Land zu geben, und wer mental stark genug ist, die anspruchsvollsten Aufgaben im Nahkampf zu erfüllen. Ihr Vater hat für diese militärische Nutzung seiner Profession nur Verachtung übrig, doch Abigail geht ganz in ihrer Arbeit auf. Bis ihr Sohn Schauli einberufen wird und sie plötzlich die Armee auch aus dem Blick einer Mutter betrachten muss.
Wie immer in Yishai Sarids Romanen herrscht eine thematische Vielschichtigkeit und Multiperspektivität, die zeigt, dass es in der Realität, in der wir leben und die der Autor literarisch einfängt, keine einfachen Lösungen für komplexe Fragen gibt. Bewusst führt er seine Figuren in den emotionalen Ausnahmezustand, der es ihnen kaum mehr erlaubt, einen klaren Kopf zu behalten und die gut zurechtgelegten Argumentationsstrategien anzuwenden, die kurz zuvor noch funktionierten. Ähnlich wie auch in „Limassol“ stehen wieder die Armee und ihr Verteidigungsauftrag im Zentrum der Handlung, eine Institution, die schon historisch bedingt und tief im Bewusstsein der Bewohner verwurzelt – durch den obligatorischen Wehrdienst für alle zudem für jeden persönlich erfahrbar – eine besondere Stellung im Land innehat und per se nicht infrage gestellt werden darf, auch wenn dies aus rein menschlicher Sicht mehr als gerechtfertigt wäre.
Eines der großen Themen des Romans ist das Verhältnis der Generationen. Der Vater als überhöhte Figur, die bewundert wird und der sich das Familienleben unterordnet, vor allem auch Abigails Mutter, die scheinbar ein bedeutungsloses Dasein führt. Zu spät erkennt Abigail, dass sie deren Lebenskonzept grundlegend nicht verstanden und ihr tiefes Unrecht getan hat. Für ihren Sohn entscheidet sie sich ebenfalls für einen starken Vater, der jedoch fern und geheim bleiben muss, als Ergebnis einer Affäre wächst Schauli ohne männliches Vorbild auf; die Mutter mit ihrer Nähe zu den Kampfeinheiten und zahlreichen Einsätzen auch an der Front, liefert ihm jedoch ein klares Bild davon, wie ein israelischer Soldat zu sein hat. Nur dass Schauli das nicht ist. Er ist zu jung, um dies zu erkennen, die Mutter mit zu verstelltem Blick, um ihn retten zu können. Projektionen und hohe Erwartungen prägen die Entscheidungen, die die Kinder treffen – die schlechtesten aller Motivationen.
Nicht wenige Leser werden mit der Geschichte hadern, bietet sie statt Handlung über weite Strecken Exkurse in die komplexen psychologischen Auswirkungen des Kampfeinsatzes. Dies ist Abigails Thema, ihr ganzes berufliches Dasein dreht sich um gezieltes Töten und den Umgang damit, getötet zu haben. Dies ist erforderlich, um ihre Faszination nachvollziehen zu können und auch um die Nebenfiguren besser einordnen zu können. Keine Materie, der ich üblicherweise viel Interesse entgegenbringe, die jedoch in dem Roman-Setting und vor dem Hintergrund von Israels real gegebener Bedrohungslage, durchaus einen Blick wert ist und ungeahnte Sichtweisen ermöglicht.
So wird auch das unlösbare Dilemma aufgebaut, mit dem sich Abigail schließlich konfrontiert sieht: die Expertin mit der klaren Vorstellung davon, wie man mit jungen Männern und Frauen sprechen muss, um diese von der Sinnhaftigkeit ihres Tuns in der Armee zu überzeugen, soll selbiges bei ihrem eigenen Sohn tun. Doch die Gewissheit, dass er dabei Sterben kann und womöglich das, was er erlebt, nicht so erfolgreich verarbeitet wie erforderlich, lassen plötzlich ungeahnte Zweifel wachsen.
Der Autor kann die hohen Erwartungen einmal mehr vollends erfüllen. Geschickt verbindet er Realwelt mit Fiktion und lässt es zur Eskalation kommen, der man sich auch als Leser stellen muss.
Es war ein aufsehenerregender Mord: die Künstlerin Alicia Berenson erschießt ihren Mann in ihrem Atelier und zeichnet dann ein verstörendes Bild über die Tat, bevor sie für immer schweigt. Seit Jahren sitzt sie schon in einer psychiatrischen Einrichtung und der Therapeut Theo Faber hat nun endlich die Chance, sich ihr professionell zu widmen. Der Fall fasziniert ihn, vor allem im Zusammenhang mit dem Gemälde, auf welchem sich nur der Begriff „Alkestis“ fand, der der Schlüssel zu Alicias Schweigen sein muss. Die ersten Sitzungen verlaufen schlecht, doch dann scheint es Theo zu gelingen, zu Alicia vorzudringen und ihr wieder eine Stimme zu geben. Doch nicht nur bei der geheimnissenvollen Frau liegen Mysterien verborgen, akribisch beleuchtet Theo auch ihr Umfeld und das bietet so manche interessante Figur, die mehr zu wissen scheint, als sie zugibt und über Alicias Schweigen ganz froh ist.
Alex Michaelides Debutroman merkt man an, dass der Autor in der Materie bewandert ist; bevor er zum Drehbuchschreiber wurde, hat er als Psychiater in einer geschlossenen Klinik gearbeitet. Die psychologischen Aspekte sind es auch, die im Vordergrund der Handlung stehen, die Auswirkungen der Erlebnisse und Beziehungen, die die Menschen haben, auf ihr Seelenleben und vor allem ihr Seelenheil. Daher weniger ein Psychothriller, der den Leser in Angst und Schrecken versetzt, als ein Roman, der die Grenzsituationen zwischen psychisch gesund und krank beleuchtet und damit gekonnt spielt.
Die Handlung bewegt sich stringent auf den Höhepunkt zu, hat aber zunächst ein eher gemächliches Tempo, das nur wenig Spannung bietet. Die Schilderungen der unterschiedlichen psychologischen und psychiatrischen Ansätze und die gegensätzlichen Meinungen der Disziplinen fand ich trotzdem unterhaltsam und für einen Roman perfekt dosiert. Etwas verwunderlich Theo Fabers akribische Nachforschung in Alicias Leben vor der Tat, hier wirkt der Psychologe eher wie ein Detektiv, der den Fall nochmals aufrollt, was aber der Therapiesituation eine spannende zweite Handlungsebene an die Seite stellt und durch die unerwarteten Enthüllungen nun auch deutlich mehr Richtung Thriller geht, denn langsam formen sich Bilder, die große Fragen in Bezug auf Alicia aufwerfen.
Der Autor wartet mit clever platzierten Wendungen auf, die vor allem die bestehenden Annahmen davon, wem man trauen kann und wem nicht, wer phantasiert und wer lügt, immer wieder auf die Probe stellen. Das Ende für mich ein wenig zu viel des Guten, aber in sich stimmig motiviert. Insgesamt ein nicht übermäßig spannender, aber ohne Frage lesenswerter und überzeugender Roman.
Es gibt Horrorbücher, da ist man auf das Schlimmste vorbereitet. Man weiß, dass es eine Figur geben wird, die Grenzen überschreitet und mit gespannter Vorfreude wartet man auf den Schauer, der sich einstellt, wenn die Erwartungen noch übertroffen werden. Und dann greift man zu einer Kurzgeschichtensammlung, die den harmlosen Titel „Cat Person“ trägt, was so etwas Harmloses wie eine Katzenmutter sein kann. Dunkel erinnerte ich mich, dass das Buch schon kurz nach der Veröffentlichung heftige Reaktionen nach sich zog, aber welche, war mir nicht mehr präsent. Auch der Klappentext klingt eher harmlos. Nur wenige Seiten des Lesens genügten, um von dem Aufschrei eine sehr klare Vorstellung zu bekommen.
In zwölf Geschichten lässt die Autorin Figuren auftreten, die zwar durchaus ein moralisches Gewissen besitzen, dieses jedoch um der Erfüllung ihrer innersten Sehnsüchte willen über Bord werfen und das ausleben, was eigentlich maximal als Gedanke zum Leben erweckt werden sollte. Sie vergewaltigen, verletzen, erniedrigen, üben Macht aus, quälen auf jede erdenkliche psychische und physische Weise. Männer Frauen, Kinder, Teenager, Erwachsene; hier, da und dort auf der Welt; gestern heute und vermutlich auch morgen. Gemeinsam haben sie ihren Egozentrismus, die Ignoranz gegenüber den anderen, die gnadenlose Verfolgung ihrer eigenen Wünsche auf Kosten ihrer Mitmenschen. Zu echter Liebe sind sie nicht fähig, sie können noch nicht einmal sich selbst lieben.
Die Autorin lässt kaum einen menschlichen Abgrund aus, zeichnet dabei aber authentisch wirkende Figuren, die auf den ersten Blick sogar sympathisch sein können, der nette Mensch von nebenan eben. Doch der Blick hinter die Fassade offenbart das dunkle schwarze Loch. Ohne Frage ist Kristen Roupenian eine begnadete Erzählerin, die einem trotz des wahrlich abscheulichen Inhalts fesselt.
In der Washington Post schreibt Molly Roberts über die titelgebende Story, die zuvor im New Yorker erschien und schnell im Netz viral ging: „A New Yorker short story went viral because, for one of the first times, something in the magazine seemed to capture the experience not of print-oriented, older intellectuals but of millennials.” Ja, die Datinggewohnheiten haben sich verändert, auch das Verhältnis zu Körper bzw. Körperkult, Pornografie und Sex – das neue Jahrtausend hat den Menschen in den westlichen Ländern ungeahnte Freiheiten geschenkt. Das findet sich in den Geschichten wieder, doch die Autorin bleibt hier nicht stehen, sondern treibt ihre Figuren über die neue rote Linie hinweg.
Freunde der psychologischen Betrachtung von Literatur dürften ihre wahre Freude an den Geschichten haben, die Bandbreite an auffälligem, vom der Norm abweichendem verhalten ist groß. Was macht man nun als normaler Leser damit? Zu sagen die Spielereien gefallen einem, ist irgendwie schwierig, die Tatsache, dass man durch die Texte hindurchrauscht und fasziniert auf die Buchstaben starrt, spricht jedoch auch für sich. Bleibt als Fazit wohl am besten zu sagen: unerwartet, aber beachtenswert.
Was als Suche nach einem Medikament zur Stabilisation des Kreislaufs beginnt, wird zu einem unvergleichlichen gesellschaftlichen Problem: die Entwicklung von LSD. Der Psychologe Fitz Loney kommt Anfang der 1960er Jahre nach Harvard, um dort seine Dissertation zu verfassen. Er landet am Lehrstuhl von Timothy Leary, den er ehrfurchtsvoll bewundert. Zunächst arbeitet Fitz hart an seinem Vorhaben, bemerkt aber schnell, dass es um Leary einen inneren Kreis gibt, von dem er ausgeschlossen ist. Bald wünscht er sich nichts mehr, als ebenfalls dazuzugehören und an den Wochenendsessions des Professors ebenfalls teilhaben zu dürfen. Es dauert nicht lange, bis Fitz und ebenso seine Frau Joanie in den Bann des charismatischen Gurus gezogen werden – die regelmäßige Dreingabe von LSD tut ebenfalls ihren Teil. Was Leary als psychologisches Experiment deklariert, wird bald von außen angegriffen, was die Gruppe nur noch enger zusammenschweißt, unter der Führung Learys stellen sie sich gemeinsam gegen den Feind.
Wie auch schon in zahlreichen früheren Romane greif T.C. Boyle für seine Erzählung auf reale Personen und Ereignisse zurück: in der kurzen Eröffnungssequenz stellt er Albert Hofmann vor, den Vater des LSD, bevor er sich dann gänzlich der schillernden Figur Timothy Leary und dem Kult um selbigen widmet. Er schildert die Anfänge der Hippiebewegung und vor allem das Wirken Learys, was man heute als mustergültig für die Sektenbildung betrachten kann.
Viele Aspekte in dem Roman könnte man ansprechen: die Figur des Fitz Loney, der einerseits als Doktorand in Harvard durchaus erfolgreich ist, dessen Leben aber genaugenommen nur eine Abfolge von Scheitern darstellt und der wegen seines viel zu geringen Selbstbewusstseins ein gefundenes Opfer für Menschen wie Leary darstellt. Der angesehene Professor, der mit Leichtigkeit die Menschen manipuliert, sich selbst zum Guru eines Kultes macht und dem die Anhänger blind folgen. Es ist schier unglaublich, wie es ihm gelingt, intelligente, hoch gebildete und kritische Studenten und Doktoranden in seinen Bann zu ziehen und jede kritische Distanz verlieren zu lassen. Für mich besonders erschreckend war vor allem die Vernachlässigung der Kinder in der Kommune. Kümmert man sich anfangs noch halbherzig um sie, ist es bald schon egal, wo sie schlafen, wie sie ihre Zeit verbringen, ob sie überhaupt noch in die Schule gehen. Die Auflösung der klassischen Familie enthebt die Eltern jeder Verantwortung und man weiß aus der Geschichte, dass dies nicht allen Kindern bekommen ist.
Obwohl dies im Zentrum steht, bleiben die Drogentrips doch etwas vage und werden meist nur in den berichtend er Figuren als Rückschau rekapituliert. Auch Leary als Person, um die einerseits alles kreist, bleibt doch nur ein Randphänomen, Einblick in seine Gedankenwelt erhält man leider kaum. Dennoch ein souveräner und eingängiger Roman über die Zeit der versuchten Sinneserweiterung, die man heute rückblickend eher als Verirrung bezeichnen mag.
Als Dora ist sie weit über die Welt der Psychologie hinaus bekannt geworden. Sigmund Freuds berühmteste Patientin, der er in jungen Jahren Hysterie attestierte und die ihr Leben lang unter der Diagnose leiden sollte. Ihre Urenkelin Katharina Adler erzählt nun die andere Geschichte der Dora, oder Ida, wie sie tatsächlich hieß. Wie das immerzu kranke Mädchen in jungen Jahren unglaublichsten Therapien unterzogen wird, bis sie schließlich bei dem berühmten Wiener Arzt landet. Wie sie sich von ihrer Familie befreit und im Theater ihr Glück sucht und wie schließlich die dunkle Zeit über Europa hereinbricht, die sie als Jüdin in größte Gefahr bringt.
Die etwas unkonventionelle Biographie, die in der Tat mehr Romancharakter hat und durch den diskontinuierlichen Aufbau auch nicht der Chronologie der Ereignisse folgt, zeichnet das Bild einer Frau, deren Erlebnisse als junges Mädchen so tiefgreifende Einfluss auf ihren späteren Lebens- und Entwicklungsweg nehmen, dass man unweigerlich wieder bei der Psychologie landet, die ihr erst die weltweite Berühmtheit brachte. Allerdings blieb mir das Mädchen bzw. die spätere Frau in weiten Teilen zu sehr hinter den politischen Ereignissen zurück, dabei hätte sie das Potenzial gehabt, ganz in den Mittelpunkt gerückt zu werden und die Geschichte zu tragen.
Zugegebenermaßen hatte ich mit den vielen Zeitsprüngen etwas zu kämpfen, es ist auch nicht ganz nachvollziehbar, weshalb sich Katharina Adler für diese Struktur entschieden hat, denn dies bremst meines Erachtens das Nachvollziehen der Entwicklung Idas enorm. Die interessantesten Passagen warn für mich zum einen die Erlebnisse mit Hanns Zellenka und die Reaktion ihres Umfeldes darauf: in penetrantester Weise bedrängt er das noch junge Mädchen und niemand schenkt ihr Glauben. Wie unsäglich dies später von Freud im Roman verdreht wird, setzt dem ganzen noch die Krone auf. Der psychologische Druck, der auf die junge Ida ausgeübt wird, wird nur noch durch die – man kann es kaum anders sehen – physischen Misshandlungen durch die anderen Ärzte getoppt. Hier ist die Erzählung dicht, nach bei der Protagonistin und lässt einem auch als Leser nicht kalt.
Leider sind diese Passagen in der Gesamtbetrachtung zu kurz geraten, was für mich der größte Kritikpunkt vor allem im Hinblick auf die Werbung für das Buch ist. Unabhängig davon wurde durchaus geschickt das Einzelschicksal mit dem historischen Lauf verwoben, was aber für mein Empfinden eine ganz andere Geschichte ist. Auch die vielen Zeitsprünge sind für mich nicht nachvollziehbar motiviert. Fazit: interessant zu lesen, aber nicht ganz den Erwartungen entsprechend.
Eleanor Oliphant ist eine junge Frau, die ein sehr geregeltes Leben führt. Sie geht morgens pünktlich zur Arbeit als Debitorenbuchhalterin, kehrt am Abend zurück, hört dann die Archers im Radio und kocht sich Nudeln mit Pesto. Jeden Tag. Außer freitags, da gönnt sie sich eine Fertigpizza und zwei Flaschen Wodka, mit denen sie dann das Wochenende überleben kann. Kontakt zu Menschen hat sie kaum, mit ihren Kollegen spricht sie nur das Nötigste. Freunde? Fehlanzeige. Nur mit ihrer Mutter telefoniert sie einmal pro Woche. So geht das Leben jahrein jahraus. Bis sie eines Tages nach der Arbeit zufällig zusammen mit ihrem Kollegen Raymond Zeuge eines Zusammenbruchs eines alten Mannes wird. Raymond zwingt sie, dem Mann ebenfalls zu helfen und ihn auch wenige Tage später im Krankenhaus zu besuchen. Raymond ist fasziniert und verwundert zugleich von der Frau, der so jede Sozialkompetenz zu fehlen scheint und die alle Aussagen ihrer Mitmenschen wörtlich zu nehmen scheint. Normale soziale Anlässe überfordern sie, aber langsam bewegt sich etwas in Eleanor und vielleicht gelingt es Raymond ja herauszufinden, wo die Narben herkommen, die in Eleanors Gesicht und Hände prägen.
Zu Beginn des Romans hat mich Eleanor mit ihrer Art etwas überfordert, ähnlich wie auch die Figuren, denen sie im Alltag begegnet. Einerseits macht sie einen intelligenten und gebildeten Eindruck, doch in der Interaktion mit anderen versagt sie kläglich. Sie kann ihre Gesten und Mimik nicht deuten, spricht eine andere Sprache als sie und all das, was für Menschen in ihrem Alter normal zu sein scheint, ist ihr völlig fremd. Sie hat sich Standardsätze antrainiert, mit denen es ihr gelingt, einfache Konversation zu bewältigen, ansonsten hält sie sich von Menschen fern. Ihr Verhalten liegt schon beinahe im Autismusspektrum, so abweichend ist es; die Tatsache, dass sie vom Sozialdienst betreut wird, spricht auch dafür, dass sie doch größere Probleme in der eigenständigen Lebensbewältigung hat. Doch durch den Kontakt zu Raymond lernt sie langsam hinzu und öffnet sich für die Welt. Zu diesen neuen Erfahrungen kommt auch zum ersten Mal so etwas wie Verliebtheit, ein Sänger einer lokalen Band hat es ihr angetan und sie ist fest davon überzeugt, dass sie ihn von sich überzeugen kann. Doch dann kommt der Rückschlag und Eleanor wird in die dunkelste Zeit ihres Lebens zurückgeworfen, langsam erfährt der Leser, warum die junge Frau so geworden ist, wie sie ist und welches Schicksal sie durchleiden musste.
Der Roman überzeugt vor allem durch die Figurenzeichnung Eleanors. Zunächst die in kleinen Szenen verdeutlichte Schwierigkeit im Umgang mit Menschen, aber auch ihre Entwicklung und der unvermeidliche Rückschlag – den ich insbesondere passend fand, im Leben geht nicht immer gradlinig bergauf. Der zweite Aspekt ist die Frage, was in Eleanors Leben geschehen ist. Immer wieder äußert sie im Gespräch kleine Details: sie trägt einen neuen Namen, bekam eine neue Identität, zog als Kind häufig um, es gab irgendwann wohl ein Feuer – doch erst gegen Ende enthüllt sich das ganze Drama, das einem als Leser schier den Atem raubt.
Psychologisch besonders spannend fand ich das Verhältnis zwischen Eleanor und ihrer Mutter. Einerseits haben sie regelmäßig Kontakt, die Mutter nimmt Anteil an ihrem Leben und zeigt Interesse, gleichzeitig beleidigt und beschimpft sie Eleanor. Die junge Frau kann sich ihrem Urteil auch nicht lösen denn, die ist nun einmal ihre Mutter:
„Sie ist ein schlechter Mensch und hat Schlimmes getan, aber eine andere Mutter habe ich nicht.“ (Pos. 5472)
Ein bemerkenswerter Roman, der jedoch für meinen Geschmack mit einer Triggerwarnung versehen werden sollte, denn vieles, was hier dargestellt wird, ist sicherlich nicht für jeden Leser einfach zu ertragen.
Felicitas Auersperg – Das merkwürdige Verhalten von Schimpansen in Kinderkleidung
Felicitas Auersperg, Universitätsassistentin an der Psychologischen Fakultät der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien, lädt uns ein einen Blick auf zum Teil bekannte, zum Teil weniger öffenlichkeitswirksame psychologische Experimente zu werfen, die sich insbesondere dadurch auszeichnen, dass sie der Sozialpsychologie entstammen und somit eine direkte Übertragbarkeit bzw. Erkenntnisgewinn für den Alltag liefern. In sechzehn Kapiteln stellt sie jeweils das Experiment dar und erläutert anschließend, wie die gewonnen Erfahrungen für den Leser nutzbar gemacht werden können.
Das Buch kann zunächst aufgrund zweierlei Dinge überzeugen: zum einen werden die Untersuchungssetting auch für Laien gut nachvollziehbar geschildert und es wird auf fachwissenschaftliches Blabla verzichtet. Das Ziel, gerade nicht den Experten anzusprechen, sondern den normalen Menschen, der weniger Wert auf wissenschaftliche Details der Versuchsanordnung und statistische Wahrscheinlichkeiten o.ä. legt, ist an dieser Stelle gut gelungen. Eingängig im lockeren Plauderton werden die Experimente dargestellt, so dass man diese problemlos nachvollziehen kann. Dies setzt sich in den Erläuterungen zur Bedeutung des jeweiligen Versuchs nahtlos fort, so dass man am Ende jeden Kapitels einen eigenen Erkenntnisgewinn hat, den man mit in den Alltag retten kann.
Die Auswahl der Versuche fand ich ebenso gelungen. Es finden sich darunter die großen, bekannten Experimente wie das Stanford-Prison-Experiment oder der Milgram Test, die vielen Lesern vermutlich schon einmal begegnet sind. Gleichermaßen interessant waren für mich insbesondere der Pygmalioneffekt – letztlich eine Art self-fulfilling prophecy bezogen auf die Leistung eines Gegenübers – und die Gruppendynamik im Ferienlager Experiment, da diese sich unmittelbar auf den Umgang mit den Mitmenschen auswirken können.
Der Brückenschlag zwischen Wissenschaft und breitem Publikum ist für mich in diesem Buch gelungen. Es ist nicht nur informativ, sondern zudem unterhaltsam geschrieben und ist es ganz sicher auch wert, nach einer Zeit nochmals zur Hand genommen zu werden, um sich den einen oder anderen Versuch nochmals vor Augen zu führen.