Alem Grabovac – Das achte Kind

Alem Grabovac – Das achte Kind

Ihre Kindheit in dem kroatischen Dorf war von Entbehrung geprägt, nur einen einzigen Raum hatte die Familie und oft nicht genug, um zu Essen. Smilja hat sich geschworen, jede sich bietende Chance zu nutzen, um den Elend zu entfliehen und kommt so als junge Frau als Gastarbeiterin einer Schokoladenfabrik nach Deutschland. Ihr Mann Emir ist launisch und faul und ein Ganove dazu, als sie schwanger wird, ist ihr klar, dass sie sich alleine um das Kind wird kümmern müssen, was nur schwer mit der Arbeit vereinbar sein würde. Eine Kollegin erzählt ihr von dem Arrangement für ihre Tochter: unter der Woche wächst das Kind bei Marianne und Robert auf, am Wochenende ist sie bei ihr. So kommt Alem schon nach sechs Wochen in eine deutsche Pflegefamilie, die so ganz anders ist als seine eigene. Nach dem plötzlichen Verschwinden Emirs findet die Mutter einen neuen Freund, der jedoch gewalttätig und permanent besoffen ist und mit dem sie in Frankfurt in prekären Verhältnissen haust. Alem dagegen ist in der deutschen Großfamilie als achtes Kind aufgenommen worden und erlebt die typische deutsche Kleinstadt Kindheit der 70er und 80er Jahre. Beide Leben sind unvereinbar, aber gleichermaßen Bestandteil seines Alltags.

Alem Grabovacs Roman kommt als Fiktion daher, erzählt allerdings seine eigene Lebensgeschichte, die jedoch alles andere als die typische Migrationsgeschichte ist. Er ist in beiden Kulturen aufgewachsen, hat Ausländerfeindlichkeit erlebt und ebenso das kleinbürgerliche Leben der schwäbischen Provinz – inklusive Holocaust-Verleugnung und heimlicher Nazi Verehrung. Kaum jemand wird so tiefen Einblick in die Lebenssituationen haben wie er; Leben, die im selben Land stattfinden, aber genauso gut auf unterschiedlichen Planeten angesiedelt sein könnten.

Interessant ist zunächst Smilja, deren Kindheit in den 50er Jahren wenig Anlass zur Freude bietet, sie aber zu einer entschlossenen und durchaus mutigen Frau macht. Alleine ins Ausland zu gehen, um das Glück zu suchen, erfordert Mut, doch bei der Wahl ihrer Männer hat sie kein Händchen. Sie wird benutzt, beraubt, verprügelt und kann sich selbst jedoch aus dem Elend nicht befreien. Allerdings ist sie bezogen auf ihren Sohn bedingungslos und stellt ihre Gefühle hinten an, um ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Diese bieten die Pflegeeltern, Alem mangelt es an nichts, auch die Zuneigung ist durchaus jene, die auch die leiblichen Kinder erfahren. Knackpunkt jedoch ist die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und der eigenen Vergangenheit. Roberts eindeutig rechte politische Gesinnung war sicherlich zu jener Zeit kein Einzelfall und hinter verschlossenen Türen – wie auch hier – wurde so manche nicht-salonfähige Parole geäußert.

Mit Ausbruch des Jugoslawienkriegs wird die Frage nach der kulturellen Zugehörigkeit nochmals komplizierter. Kroatische Mutter, bosnischer Vater, aufgewachsen in einer deutschen Familie. An Grabovacs vielseitigen Familienangehörigen, inklusive angeheiratetem mexikanisch-amerikanischen Soldaten, zeigt sich, dass dieses Konzept vielleicht auch schlicht überholt ist und schon lange nicht mehr zu einer mobilen Welt mit Migration in allerlei Richtungen und Familiengründungen in allen Farben und Formen mehr passt. Begriffe wie Heimat werden so flexibel, ergänzt um Wahlheimaten und mehr an Personen denn an Örtlichkeiten festgemacht. Ebenso lassen sich Neuankömmlinge nicht mehr

Facettenreich und mit viel Wiedererkennungswert, wenn man die Kindheit zur gleichen Zeit erlebte und dennoch öffnet der Autor auch Türen zu einer anderen Welt. Erzählerisch unterhaltsam und zugleich zum Denken anregend – vielleicht hilft der Blick zurück in die Vergangenheit, um in der Zukunft etwas anders zu machen, um das Nebeneinander etwas mehr Miteinander werden zu lassen.

Ein herzlicher Dank geht an die Hanser Literaturverlage für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Louise O’Neill – Asking for it [dt. Du wolltest es doch]

Louise O’Neill – Asking for it

Emma O’Donovan hat trotz ihrer erst 18 Jahre ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie weiß, dass sie die Hübscheste ist, auf jeden Fall hübscher und begehrenswerter als ihre Freundinnen. Dank des Einkommens des Vaters, einem angesehenen Bankdirektor, kann ihre Familie auch ein finanziell entspanntes Leben führen, auch wenn andere in der Kleinstadt noch etwas vermögender sind, aber damit können sich die Töchter auch nur begrenzt Aussehen und Bewunderung erkaufen. Nach einer Party wacht Emma eines Nachmittags auf der Veranda auf, völlig benebelt und ohne jede Erinnerung an das, was am Abend zuvor geschehen ist. Doch es dauert nicht lange, bis sie auf den Social-Media-Kanälen alles dokumentiert findet: offenbar hat sie sich gleich mit mehreren Männern eingelassen, die alles dokumentiert haben. Emmas Ruf ist ruiniert, doch bald steht auch die Frage im Raum, ob sie all dem überhaupt zugestimmt hat.

Louise O’Neill lässt erst gar keine Zweifel aufkommen: ihre Protagonistin ist eine furchtbare Figur, der man bald schon nur das Schlimmste wünscht. Aber gleich sowas? Geschickt spielt sie mit den Emotionen der Leser, es fällt einem schwer, Mitleid zu empfinden für jemand, der sich derart verlogen und rücksichtslos auch gegenüber vermeintlichen Freundinnen verhält. Ihr Charakter ist geprägt von einem ausufernden Egoismus und Egozentrik, liebenswert ist kaum etwas an ihr.

Auch an dem Abend, der zu dem entscheidenden Ereignis führt, verhält sie sich nach gewohnten Mustern und manövriert sich selbst leichtsinnigerweise in diese Situation. Doch ist sie schuld an dem, was man ihr antut? Und sind die darauffolgenden Reaktionen des Umfeldes gerechtfertigt? Die ganze Familie erfährt Verachtung und Ausgrenzung, beschuldigt sie doch angesehene Jungs der Gemeinschaft und Emmas Verhalten ist hinlänglich bekannt. Es folgt der psychische Niedergang aller, eine logische Konsequenz, die jedoch faktisch die Opfer doppelt bestraft.

Man kommt als Leser emotional nicht ganz aus der Zwickmühle heraus. Manche Aspekte sind klar, die „boys will be boys“ Kultur, das Wegsehen und Leugnen offenkundiger Gewalttaten, doch gerade die Tatsache, dass die Opferperspektive nicht so eindeutig den Unschuldstouch hat, macht es einem schwer, Emma als das zu sehen, was sie ist und das Ereignis von ihrem Charakter und der Vorgeschichte zu lösen. Ein aufwühlender, aber lesenswerter Roman mit zudem unerwarteten Ende.

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Sie finden ihn schwerverletzt unter seinem Auto liegend, die Beine eingeklemmt. Obwohl die Situation schwierig ist, will man dem Besucher helfen. Die Veterinärin kümmert sich um die Wunden und der alte Matthias, dem etwas abseits des Dorfes eine Hütte zugewiesen wurde, soll sich um seine Pflege kümmern. Schon länger haben sie keinen Strom mehr, der Winter naht und der Schnee steigt täglich höher. Es herrscht Endzeitstimmung, abgeschieden von der Außenwelt, mit langsam zur Neige gehenden Lebensmittelvorräten, sieht sich die kleine Gemeinschaft den Naturgewalten ausgeliefert. Die beiden ungleichen Männer ertragen derweil ihr Schicksal tapfer. Beide wortkarg beäugen sie sich zunächst stumm, bis sie langsam Vertrauen fassen auf den wenigen Quadratmetern, die sie miteinander teilen.

Christian Guay-Poliquin schildert zwar ein gänzlich anders geartetes Szenario in der kanadischen Provinz, es könnte aber kaum besser in die Welt passen, die man im Jahr 2020 erlebt. Zwar sind die Menschen nicht von der Außenwelt abgeschnitten und haben auch Strom und zahlreiche Kommunikationsmittel, aber das gemeinsam ans Haus gefesselt sein, die Schwierigkeit, einander aushalten zu müssen und nicht zu wissen, wann und ob sich die Situation entspannen wird, teilt die Fiktion mit der Realität. Mit dem steigenden Gewicht des Schnees, der anfangs nur kniehoch liegt, dann aber dramatische und bedrohliche Dimensionen annimmt, steigt auch der Druck auf die Menschen, die einerseits in der Krise voneinander abhängig sind, gleichzeitig aber auch feindseliger und egoistischer werden.

Dem Autor gelingt es mit einer einerseits sehr klaren und präzisen, andererseits aber auch hochpoetischen Sprache die Emotionen, die selten offenkundig gezeigt werden, einzufangen. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Langsamkeit der Zeit, Langeweile durch das Eingesperrt sein und im Falle des Erzählers zudem der Immobilität werden immer wieder deutlich spürbar. Einzig das Feuer im Kamin versprüht bisweilen eine gewisse Wärme, ansonsten herrschen Kälte und unbarmherzige Natur. Aber auch die Menschen offenbaren ihre grausamen Seiten.

Die Kapitel – zunächst irritierend, da der Roman mit „Neununddreissig“ beginnt, was sich aber rasch erklärt – werden von der Ikarus-Sage eingerahmt, die in sieben Teilen untergliedert ist. Es beginnt im Labyrinth und der Leser ist gewarnt, dass zu viel Übermut das Leben kosten kann.

Eine sehr dichte Erzählung, deren reduzierte Handlung und Schauplatz beinahe zu erdrücken drohen, der jedoch zugleich wie eine Hommage an die Natur und den kanadischen Winter wirkt.

Gabriella Ullberg Westin – Der Todgeweihte

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Gabriella Ullberg Westin – Der Todgeweihte

Nächtliche Schüsse im Zentrum des beschaulichen Hudiskvall mit einem Toten und einer Schwerverletzten stellen die Polizei vor Fragezeichen. Im Umfeld der Opfer können Kriminalinspektor Johan Rokka und seine Kollegen keine Motive für den brutalen Mord finden. Doch dann werden die Ermittlungen für Rokka noch deutlich erschwert als Louise Hojier, die Frau seines Cousins und Mutter der 5-jährigen Silje, auf einer Geschäftsreise verschwindet. Eigentlich darf er in diesem Fall nicht ermitteln, aber das Personal ist knapp und so lässt man ihn nach der top Informatikerin eines erfolgreichen Start-Ups suchen. Dass sein Bruder Daniel unerwartet nach 15 Jahren Funkstille plötzlich vor ihm steht, macht die Lage auch nicht einfacher, denn Daniel ist Morphium-abhängig und offenbar todkrank. Nicht nur Johan Rokkas schwerster, sondern vor allem sein persönlichster Fall, doch wie persönlich dieser wird, ahnt er noch gar nicht…

Die Schwedin Gabriella Ullberg Westin konnte sich mit ihrer Serie um den Inspektor Johan Rokka schnell einen vorderen Platz in der Riege der skandinavischen Krimiautoren sichern. Sein dritter Fall setzt die Reihe überzeugend fort und stellt einmal mehr unter Beweis, dass auch fernab der Hauptstadt spannende Geschichten erzählt werden können. Der Protagonist steht dieses Mal mehr denn je unter Beschluss, blieb er gerade im ersten Band noch etwas undurchschaubar, wird Rokka zunehmend sympathisch und als Figur greifbarer.

Die beiden Fälle scheinen zunächst nichts miteinander zu tun zu haben, gerade der Anschlag auf die beiden jungen Kinobesucher kommt nicht voran. Dafür wird das Umfeld des Inspektors schnell interessant. Die Nebenhandlung um Amanda ist zwar recht vorhersehbar, die Bedeutung ihrer Täuschung jedoch wird erst später offenkundig. Der Fall ist als ganz persönliche Herausforderung für Johan Rokka angelegt, hätte aber durchaus auch das Potenzial zu einem Wirtschaftskrimi gehabt, diese Chance hat Ullberg Westin leider verschenkt, denn so richtig wird nicht klar, welche Bedeutung für die Sicherheitstechnik Louises Erfindung haben könnte. Dies tut der Spannung jedoch keinen Abbruch, die sich stetig steigert im Laufe der Handlung.

Ein sauber konzipierter Krimi, dessen Fäden langsam zusammenlaufen und am Ende keine Fragen offenlassen. Die Entwicklung der Figuren wird von Fall zu Fall besser, womit Ullberg Westin meine Erwartungen voll erfüllt hat.

Lina Bengtsdotter – Löwenzahnkind

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Lina Bengtsdotter – Löwenzahnkind

Das Verschwinden einer 17-Jährigen führt Charlie Lager zurück in den Ort ihrer Kindheit, den sie nicht nur vergessen, sondern völlig aus ihren Gedanken löschen wollte. Schnell kommen in der trostlosen Provinz, die Kindern und Jugendlichen außer Drogen, Alkohol und Gewalt nichts zu bieten hat, die Erinnerungen wieder hoch. Und wie zu erwarten war, mauern die Einheimischen, niemand will etwas gesehen haben oder über den Abend wissen, an dem sich Annabelles Spur verliert. Charlie versucht herauszufinden, wer das Mädchen war, das scheinbar gerne zur Schule ging und wissbegierig war, andererseits aber immer wieder gegen die Regeln der Eltern verstieß und am Wochenende wie alle anderen auch die sie umgebende Tristesse versuchte zu ertränken.

Lina Bengtsdotter hat ihre Thriller Serie um die Polizistin Charlie in ihrem Heimatort Gullspång angesiedelt, eine Kleinstadt abgehängt von der Großstadt und mit wenig Perspektiven. Der erste Band erzählt nicht nur die Suche nach dem verschwundenen Mädchen, sondern gibt auch erschreckende Einblicke in Funktionsweisen der kleinen Gemeinschaft, wo jeder alles über jeden weiß und dennoch Geheimnisse über Jahrzehnte gut gehütet werden. Auch die Protagonistin trägt so einiges an Ballast mit sich herum, Dämonen, die mit der Rückkehr wieder zum Leben erwachen.

Der Roman lebt davon, dass jede Begegnung, jede Tür, die geöffnet wird, das Potenzial hat, die Handlung in eine völlig neue Richtung zu lenken oder der ohnehin kaum auszuhaltenden Trostlosigkeit ein weiteres Mosaiksteinchen an trauriger Realität hinzuzufügen. Gullspång hat wenig gemein mit dem fröhlichen und ausgelassenen Midsommar, den man so gerne für die Darstellung Schwedens bemüht, sondern bietet eine brutale Sommerhitze, die die aufgeheizte und angespannte Stimmung noch verschärft. Die Spannung lebt vor allem von der feindseligen Atmosphäre, weder die Menschen noch die Natur wirken einladend oder freundlich, im Gegenteil, wir sehen eigentlich nur die feindselig-destruktiven Seiten.

Aus psychologischer Sicht ein interessantes Sammelsurium an Figuren, die auch viel Potenzial für weitere Bände haben. In dieser Umgebung aufzuwachsen geht nicht ohne Spuren zu hinterlassen. Ich bin gespannt, was in der Ermittlerin Charlie noch versteckt ist.

Raphaela Edelbauer – Das flüssige Land

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Raphaela Edelbauer – Das flüssige Land

Der plötzliche Unfalltod ihrer Eltern wirft Ruth Schwarz völlig aus der Bahn; als ihre Tante dann noch erwähnt, dass die Eltern aufgrund ihrer engen Beziehung zu Groß-Einland dort beerdigt werden sollten, ist sie völlig verwirrt. Was ist das für ein Ort, von dem sie nie etwas gehört hat? Die Wiener Physikerin macht sich auf in die Provinz und findet tatsächlich ein beschauliches Städtchen diesen Namens, das völlig aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Eigentlich wollte sie nur kurz dort bleiben, aber ein seltsames Naturphänomen weckt ihre Neugier: Mitten im Ort befindet sich ein großes Loch, das den ganzen Lebensraum regelrecht aufzusaugen droht. Doch nicht nur dieses Loch und seine Geschichte ist höchst mysteriös, auch die Bewohner, allen voran die alles wissende und bestimmende Gräfin, lassen Ruth wundern und nicht mehr los. Aus der kurzen Visite wird plötzlich ein immer längerer Aufenthalt.

Raphaela Edelbauers Roman ist gleich für zwei Auszeichnungen nominiert, er steht sowohl auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, wie auch auf jener für den Österreichischen Buchpreis 2019.  Unweigerlich ist da die Neugier besonders groß, zwei Jurys können sich kaum irren. Was die Nominierung jedoch nicht verrät, ist, dass nicht jedes Buch zu jedem Leser passt und „Das flüssige Land“ setzt voraus, dass man das märchenhafte und fantastische Element entweder sowieso liebt oder großzügig darüber hinweglesen kann. Wer auf authentische Handlung steht, ist bei diesem Roman eher schlecht beraten.

So verlangte der Text mir auch einiges ab. Bisweilen hatte ich den Eindruck Mitten in „Alice im Wunderland“ gelandet zu sein. Das Raum-Zeit-Kontinuum scheint aufgehoben und das Figurenpersonal ist ein Sammelsurium von Kuriositäten, allen voran die Gräfin. Das hat einen gewissen Reiz, wird auch sprachlich ansprechend und überzeugend umgesetzt, entbehrt gleichermaßen aber jeden Realismus. Zwar wird die Handlung immer wieder historisch wie auch naturwissenschaftlich eingebettet, aber so ganz wurde ich den Eindruck der Fantasiewelt nicht los. Das Mysterium um das Loch bietet ein gewisses Spannungsmoment, wird aber etwas zu langatmig abgehandelt. Auch das Ende kann mich nur bedingt überzeugen, zu bemüht wird die Ordnung wieder hergestellt.

Man den Roman womöglich als Parabel lesen, die unter anderem Fragen nach dem menschlichen Umgang mit der Umwelt, nach ethischer Verantwortung und vermeintlichem kollektivem Gedächtnisverlust oder auch der fragwürdigen Gesellschaftsstruktur aufwirft. Vielleicht erfreut man sich auch einfach an der geradezu fabelhaften Welt mit ihren kuriosen Figuren. Literarisch so gar nicht meine Welt, weshalb mich der Roman nicht wirklich erreichen konnte. Gerettet hat ihn der Schreibstil, viele pointierte Zuspitzungen, die gekonnt formuliert sind und ein in sich stimmiges Szenario mit liebevoll gestalteten Figuren.

Eva Schmidt – Die untalentierte Lügnerin

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Eva Schmidt – Die untalentierte Lügnerin

Nachdem sie ihr Studium der Schauspielerei an den Nagel hängen musste und einen längeren Klinikaufenthalt hinter sich gebracht hat, kehrt Maren in die Wohnung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters in die österreichische Provinz zurück. Planlos lebt sie zunächst in den Tag, bevor sie einen Job in einem Museum als Aufpasserin annimmt. Mit dem Hund geht sie spazieren. Lernt Menschen kennen, die jedoch irgendwie nur an den Rand ihres Lebens drängen und bald auch wieder verschwinden. Die Ehe ihrer Eltern kriselt und sie selbst entwickelt auch nur wenig Zukunftspläne. Es wird Winter und wieder Frühling, aber Maren blickt immer noch verloren auf ihr Leben.

Bereits 2016 war Eva Schmidt mit einem Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ebenso wie „Ein langes Jahr“ tat ich mich auch mit dem aktuellen Roman schwer. Die Geschichte liest sich leicht weg, genau darin liegt aber auch für mein Empfinden die große Schwäche: mir fehlt die Entwicklung ebenso wie das Tiefgründige. Ja, die Autorin beschreibt sehr intensiv die Natur, aber die Menschen erfasst sie dabei nicht.

Vermutlich trägt der triste Grundton des Romans zu meinem eher wenig berauschenden Eindruck bei. Die Protagonistin ist unzufrieden, nur leidlich ergreift sie die Initiative, um etwas zu verändern, aber eigentlich wartet sie eher darauf, dass die Veränderung zu ihr kommt und es wundert sie auch nicht, dass Menschen einfach so wieder aus ihrem Leben verschwinden. Die Familienkonstellation bleibt zu diffus, um Stoff für analytische Betrachtungen zu liefern. Ein Bruder in der Ferne mit seiner glücklichen Familie, der andere voller Liebeskummer und gescheitertem Studium zwar in der Nähe, aber ebenfalls abwesend. Die Mutter gescheiterte Künstlerin, die nun eher dem Alkohol zuspricht und scheinbar unter einer nicht behandelten Depression leidet und dann noch der Stiefvater, der sich grenzwertig aufdrängt und dann plötzlich flüchtet. Was soll man daraus machen? Auch das Ende reißt mehr Fragen auf als Antworten zu geben, wird hier etwas angedeutet, dass das Buch in einem anderen Licht erscheinen lässt oder doch nicht?

Mich hat der Roman nicht erreicht. Auch der Titel stellt mich immer noch vor ein Rätsel: Maren lügt unentwegt, wobei es sich eher um die keinen Alltagsausflüchten handelt, um sich nicht erklären zu müssen und das Gegenüber nicht zu verletzten – obwohl sie das in ihrer stumpfsinnigen Art bisweilen geradeheraus tut. Es bleibt am Ende große Ratlosigkeit.

Matthias Wittekindt – Die Tankstelle von Courcelles

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Matthias Wittekindt – Die Tankstelle von Courcelles

Ein Provinznest im Osten Frankreichs. In den 1970ern wachsen die Kinder in der dörflichen Gemeinschaft auf, befreunden sich, zerstreiten sich, raufen sich wieder zusammen. Gemeinsam gehen sie zur Schule, gemeinsam werden sie das Abitur meistern, um dann in Paris die große weite Welt kennenzulernen. Lou ist eine von ihnen, immer schon etwas mutiger als andere Mädchen, immer schon etwas abgebrühter. Kurz bevor die letzten Prüfungen anstehen, arbeitet sie in der Tankstelle ihres Stiefvaters in der Nachtschicht. Zwei LKW-Fahrer kommen ihr seltsam vor, doch die beiden sind so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Ein kurz darauf ankommender PKW mit zwei Männern wird dann aber deutlich ungemütlicher; da einer der beiden bereits betrunken ist, will sie ihm keinen weiteren Alkohol verkaufen. Als sie beginnen zu randalieren, zieht sich Lou in den hinteren Raum der Tankstelle zurück. Kurz darauf sind beide Männer tot. Brutal ermordet. Und sie werden nicht die letzten Leichen in dem französischen Dörfchen bleiben.

Matthias Wittekindt war mir bislang als Autor nicht bekannt, allerdings habe ich einige seiner Hörspiele gehört, die mich eigentlich immer begeistern konnten. Dass „Die Tankstelle von Courcelles“ auf der Krimibestenliste vom Mai 2018 gelandet war, bot dann genügend Anlass, den Roman zu lesen. Leider jedoch konnte er die Erwartungen nicht ganz erfüllen.

Lange hält sich Wittekind mit der Kindheit Lous und ihrer Freunde in den 70er Jahren auf, ohne dass tatsächlich etwas Berichtenswertes geschieht. Es gibt Unfälle, wie sie überall geschehen, auch ein verlassenes mysteriöses Zelt sorgt für eine Menge Gesprächsstoff im Ort. Die Freundschaften der Kinder und später Jugendlichen entwickeln sich in diese und jene Richtung, mal sind sie enger, mal lockerer. Das Erwachsenwerden und die dazugehörigen Theorien um die Welt, befeuert vom neuen Lehrer des Dorfes, entzweit auch so manche alte Verbindung. Der Roman schleppt sich so dahin, kündigt jedoch stetig ein großes Ereignis an, das jedoch auf sich warten lässt.

Der Doppelmord selbst wird tatsächlich recht unspektakulär geschildert und schnell von den Ermittlungen abgelöst, die jedoch auch keine wirkliche Zielgerichtetheit erkennen lassen. Es kommt zu keiner Auflösung, der Täter wird nicht gefunden, die Spekulationen bleiben. Und schon bewegt sich die Handlung weiter, sprungartig bis in die Gegenwart. Dazwischen noch schnell ein weiterer nicht ganz eindeutiger Tod eines der Jugendlichen und Lous ungeklärtes 10-tägiges Verschwinden.

Hätte es nicht zwischendurch ein paar Tote gegeben, hätte ich die Genrezuordnung „Krimi“ gänzlich angezweifelt. Die normalerweise unabdingbare Spannung fehlte mir gänzlich, auch war oft nicht klar, wer eigentlich die Rolle des Protagonisten übernehmen soll, einerseits Lou, das ist recht offenkundig, dann wiederum rückt der örtliche Gendarm Ohayon in den Fokus, nur um sich kurze Zeit später wieder zurückzuziehen.

Zusätzlich erschwert wurde die Geschichte durch einen Erzählton, der wohl mit „lakonisch“ am besten beschrieben ist. Knappe Sätze, kaum Ausschmückung, bisweilen fast lustlos schildert der Erzähler die Ereignisse. Man hört regelrecht die Seufzer, ach ja, doch, da wird noch was passieren. Das etwas einsilbige Erzählen ermüdet bisweilen, hat jedenfalls keine spannungserzeugende Wirkung, ganz im Gegenteil.

Ich kann den begeisterten Stimmen nicht beipflichten. Ein vor allem sprachlich ungewöhnlicher Roman, der vielleicht ein wenig zu viel wollte, um zu überzeugen.

Alexander Oetker – Retour

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Alexander Oetker – Retour

Da sein Vater schwer krank ist, lässt sich Commissaire Luc Verlain von Paris in seine Heimat in Aquitaine zurückversetzen. Dort hofft er auf eine ruhige Zeit und die Möglichkeit, sich um seinen Vater zu kümmern. Doch kaum ist er angekommen, wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden, erschlagen am Strand. Der Stiefvater ist sich sicher, dass es der junge algerische Freund war, den sie verlassen hatte und der ihr immer noch hinterherlief. Die Indizien, die zunächst gegen Hakim sprechen, erweisen sich jedoch schnell als entlastend und so rückt der unbekannte reiche Liebhaber des Mädchens in den Fokus der Ermittlungen.

Die Liste der Ermittler in der französischen Provinz wird immer länger. Alexander Oetker hat mit Luc Verlain nun einen weiteren Kommissar ins Rennen um die Gunst der deutschen Leser geschickt und setzt dabei auf bewährte Versatzstücke: aus Paris in die Provinz versetzt; dort schwieriger Start mit den Kollegen; den Fall kann der Superermittler quasi im Alleingang lösen, auch acht teilweise bewaffnete Gegner sind für ihn kein Problem und zwischendurch wird viel über Weinberge, Wein und Essen geredet. Natürlich darf die hübsche junge Frau aus der Provinz, die dem gestandenen Ermittler aus der Großstadt den Kopf verdreht, auch nicht fehlen. Viel Neues war hier leider nicht zu entdecken.

Der Fall selbst ist recht vorhersehbar, zwar mit ein zwei vermeintlichen Fährten gespickt, ist es jedoch recht schnell offenkundig, wer hier welches Spiel spielt. Die Figurenzeichnung beschränkt sich weitgehend auf stereotype Schwarz-Weiß-Malerei, so etwa der böse Bulle, der in Korruption verstrickt war als Widersacher des Helden – der sich allerdings recht schnell selbst ins Aus schießt. Anouk, die zwar zunächst als talentierte Polizistin eingeführt wird, dann aber nur noch in Form des assistierenden Häschens auftreten darf und deren Relevanz und Beschreibung sich auf ihren Hintern, Busen und Haare und den Wunsch Verlains, sie endlich ins Bett zu zerren, beschränkt. Für ihr berufliches Geschick bleibt leider bei dem Ego des Protagonisten nicht viel Platz.

Dieser trotzt nur so vor Klischees, an kaum einer Frau kommt er vorbei, ohne ausführlich ihre optischen Qualitäten zu eruieren und bei Gelegenheit mit ihr das Bett zu teilen. Natürlich hat er in Paris auch noch eine Partnerin, die sich aber auf einen Kurzurlaub seinerseits beschränken muss und ansonsten nicht einmal eine SMS verdient hat. Ausnahmslos alle Frauen werfen sich an seinen Hals, er bleibt dabei aber der coole rauchende Surfer, der sich auf nichts Festes einlassen will. Ach ja, da war ja noch sein Vater, wegen dessen Krankheit er die Versetzung erwirkte. Der muss sich mit einem wenige Minuten dauernden Besuch mehrere Tage nach seiner Ankunft zufriedengeben.

Für mich keine Reihe, die ich weiter verfolgen werde, zu platt Handlung wie Figuren und viel zu viel sexistische Flachheit, um daran Gefallen zu finden.

Håkan Nesser – Der Fall Kallmann

Der Fall Kallmann von Hakan Nesser
Håkan Nesser – Der Fall Kallmann

Nach dem Verlust seiner Frau und seiner Tochter zieht Leon Berger in eine schwedische Kleinstadt, um an der dortigen Schule als Lehrer neu anzufangen. Er übernimmt den Job eines gewissen Eugen Kallmann, der wenige Monate zuvor unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Für die Polizei war es ein natürlicher Tod, aber nachdem Leon in seinem Schreitisch Tagebücher gefunden hat, wachsen langsam Zweifel an dieser Version. Zusammen mit seinen Kollegen Ludmilla und Igor beginnt er nachzuforschen und will vor allem herausfinden, was an den Tagebüchern der Wahrheit entspricht und was Fiktion ist, denn dort berichtet Kallmann von einem Mord, den er begangen habe. Weitere Zwischenfälle in der Schule, zunächst antisemitische Briefe, dann aber auch ein Mord an einem Schüler scheinen im Zusammenhang mit dem undurchsichtigen Lehrer zu stehen, der in all den Jahren an der Schule trotzdem für alle Kollegen unbekannt und ein Rätsel blieb.

Schätzungsweise war dies mein fünfzehnter Roman von Håkan Nesser und immer wieder bin ich begeistert davon, wie es ihm gelingt einen ganz eigenen, ruhigen Erzählton zu entwickeln, obwohl die Geschichte gerade eine dramatische Wendung nimmt und das Leben seiner Figuren tiefgreifend verändert. Der etwas langsamere Rhythmus der schwedischen Provinz wird so überzeugend umgesetzt und macht das Lesen seiner Krimis zu einem großen Spaß.

Der aktuelle Fall um Eugen Kallmann kann mich ebenso überzeugen wie viele Vorgänger. Nesser verzichtet auf unnötige Komplikationen durch ein riesiges Figurenensemble, im Wesentlichen beschränkt er sich auf die beiden Lehrer Leon und Igor und die Schulpsychologin Ludmilla. Hinzu kommt eine Schülerin, deren Familiengeschichte in den Fall verwickelt zu sein scheint. Das Privatleben verleiht den Figuren mehr Tiefe, lenkt jedoch nicht von den Nachforschungen ab, sondern ist genau richtig dosiert. Auch setzt Nesser nicht auf unerwartete Zufälle, um seinen clever konstruierten Plot zu lösen, sondern dröselt langsam und zielgerichtet jeden Knoten auf, so dass nicht nur alle Fragen beantwortet werden, sondern auch die Motivationen der Figuren glaubwürdig bleiben und die Handlung in sich stimmig wirkt.

Es sind einmal mehr urmenschliche Beweggründe, die die Figuren zu ihrem Handeln veranlassen. Wie nur wenigen anderen Autoren beweist Håkan Nesser eine hervorragende Beobachtungsgabe der menschlichen Natur und kann dies gekonnt in einen Roman umsetzen. Die perfekte Unterhaltung für lange Herbstabende.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Roman und Autor finden sich auf der Seite des Random House Verlag.