Norah Lange – People in the Room

Norah Lange – People in the Room

Die 17-jährige Ich-Erzählerin lebt mit ihrer Familie in der Avenida Cabildo in Belgrano, einem Stadtteil von Buenos Aires, wo sie zufällig im gegenüberliegenden Haus drei Frauen beobachtet. Jeden Abend sitzen diese in ihrem Wohnzimmer ohne die Läden zu schließen, so dass jeder sie sehen kann. Das heimliche Beobachten wird zur Obsession, die Erzählerin traut sich kaum mehr, das Haus zu verlassen oder von ihrem Tagesablauf abzuweichen aus Sorge, dass ihr etwas entgehen könnte. Bis sie zufällig eines Tages einen Postjungen abfängt und von ihm ein Telegramm annimmt, dass an die drei Frauen adressiert ist. Ein Besucher wird angekündigt, wer könnte dies sein? Und ist das die Gelegenheit, Kontakt mit den drei Unbekannten aufzunehmen?

Norah Lange wurde als Tochter eines norwegischen Ingenieurs und einer irisch-norwegischen Mutter in Argentinien geboren. Sie wuchs mit den literarischen Größen ihrer Heimat auf, denn Autoren wie Borges besuchten den regelmäßig stattfindenden Salon ihrer Mutter, der sie früh mit der Poesie in Kontakt brachte. Es sind weniger ihre Romane, die sie bekannt gemacht haben, als der exzentrische Lebensstil an der Seite des Journalisten und Schriftstellers Oliverio Girondo, obwohl auch ihre Werke vielfach ausgezeichnet wurden. „People in the Room“ erschien erstmals 1950, eine deutsche Übersetzung scheint es leider nicht zu geben, dabei reiht der Roman sich literarisch locker in die Reihe von beispielsweise Werken von Henry James oder James Joyce ein: ein nicht enden wollender Stream of Consciousness, der das Innenleben der Protagonistin offenlegt.

Die Handlung des Romans ist überschaubar, es sind im Wesentlichen die Beobachtungen und die sich daraus entspinnenden Gedanken. Die Erzählerin steigert sich immer mehr in ihre heimliche Observation, entwickelt regelrecht Angst davor, dass die drei Frauen plötzlich nicht mehr da sein oder gar sterben könnten. Immer irrationaler werden die Gedanken und bald fragt man sich, ob es die Frauen überhaupt gibt, oder ob sich nicht viel mehr alles nur im Kopf der Erzählerin zuträgt. Immer mehr verdichten sich die Anzeichen, dass sie halluziniert und phantasiert – doch sichere Belege dafür oder dagegen gibt es nicht.

Für heutige Zeiten ein eher untypischer Roman, aber als Zeugnis seiner Zeit mehr als überzeugend und fraglos lesenswert.

Géraldine Dalban-Moreynas – On ne meurt pas d’amour [dt. An Liebe stirbst du nicht]

Géraldine Dalban-Moreynas – On ne meurt pas d’amour

Gerade hat ihr Freund ihr auf dem Empire State Building einen filmreifen Heiratsantrag gemacht und sie das perfekte Loft gefunden, als es sie aus heiterem Himmel trifft. Ein Blick genügt und um sie und den neuen Nachbarn ist es geschehen. Zunächst nur freundliches Grüßen, gestohlene Blicke hier und da, aber sie wissen beide sofort, dass dies nicht lange so bleiben wird. Doch sie ist verlobt, der Hochzeitstermin steht, er hat Frau und eine kleine Tochter. Aber das, was sie verbindet, ist stärker und so beginnen sie eine Affäre. Heimliche Treffen, gemeinsame Nachmittage und Nächte. Aber es ist klar, dass dies nicht lange gutgehen kann. Bis er sich entscheiden muss. Und dies tut. Oder auch nicht.

« Il en fait ce qu’il veut. Il la quitte, il la reprend, il la jette, il la rattrape d’un doigt. Elle dit oui. À tout et à n’importe quoi. Elle dit oui parce qu’elle est incapable de dire non. »

Géraldine Dalban-Moreynas Romandebüt wurde 2019 mit dem „Prix du premier roman“ als bestes Erstlingswerk junger Autoren ausgezeichnet. Die Geschichte zwischen der Journalistin und dem Anwalt ist keine Liebesgeschichte, es ist eine Amour fou, eine Obsession, die die Figuren in einer Bubble leben lässt, die die Außenwelt ausblendet und sie blind macht. Eine gegenseitige Abhängigkeit, die stärker ist als alle Drogen und einen klaren Kopf und Entscheidungsfähigkeit ausschließt.

« Jalousie absurde. L’histoire est absurde. L’amour est absurde. »

Die Geschichte wird aus Sicht der Journalistin erzählt, die eigentlich von einem biederen Leben der Pariser Mittelschicht träumt – Mann, Kind, hübsche Wohnung mit all den unnützen Gegenständen, die man eben so besitzt, aber nie benötigt –und die völlig von ihren Emotionen überrannt wird. Nach Wochen und Monaten des heimlichen Zusammenseins muss das böse Erwachen kommen. Und mit diesem kommt auch der Schmerz.

« Elle se dit que chaque fois la douleur a été plus violente. Elle n’ose imaginer la prochaine fois. »

Er liebt seine Noch-Ehefrau nicht mehr, ohne Frage, aber er liebt seine Tochter, die er nicht aufgeben will. Trennt er sich, verliert er auch sie. Eine Entscheidung, die er nicht treffen kann. Und sie leidet. Jedes Mal mehr. Aus Liebe wird Qual, so hoch sie fliegen, wenn sie zusammen sind, so tief ist der Fall und so hart ist der Aufschlag, wenn er ins eheliche Nest zurückkehrt. Ewig könnte dies weitergehen, außer ein dramatischer Einschnitt kommt. Und das tut er.

Es ist keine Liebesgeschichte, bei der man mit den Figuren liebt und ein wenig leidet und weiß, dass das Happy-End unweigerlich kommt; die Figuren bleiben dadurch, dass sie nicht einmal Namen haben, ein bisschen fern, was aber die Intensität ihres Leids auch abmildert, diese wäre vor allem im letzten Drittel auch kaum mehr auszuhalten. Auch wenn der Titel Gegenteiliges behauptet, man ist sich zwischendurch nicht sicher, dass die Protagonisten diese Obsession überleben. Géraldine Dalban-Moreynas schreibt intensiv und es gelingt ihr so, die Geschichte greifbar und für den Leser auch durchaus fühlbar zu machen.

Louise O’Neill – Almost Love

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Louise O’Neill – Almost Love

Things are not going too well between Sarah and her partner. Is it just because her job as a teacher exhausts and frustrates her? She is an artist, but has never been good enough to really succeed with her paintings, not like her mother-in-law to be or her best friend. When she flees their home one afternoon, she by coincidence meets Matthew and all comes up again. The man she loved like never before, the man she would have given up everything for – the man she has given up everything for and destroyed so much. But he is still Matthew and there is something in her that makes the old feeling, she thought she had overcome, show up again.

After reading the blurb, I expected a story with an unhealthy love addiction and intense feelings on the part of the female protagonist. I was quite sure to feel compassion for her obsessive love and what it makes with her, yet, I mainly hated Sarah, even more than Matthew, which made it a bit difficult to really enjoy the novel.

So, why didn’t I feel pity for her? First of all, she is incredibly arrogant. When still young, her best friend from university gets the big chance of an exhibition, but instead of being happy for him, she envies him and is convinced that it should have been her. Second, her father obviously is quite lonely in their remote village and he always tries not to put her under pressure and to tolerate her awful behaviour, but she treats him like an old imbecile. Yes, he might not have been the perfect dad when her mother died – yet, he also lost his beloved wife and needed time for himself and his grief. Her school friends are just places she can dump her personal dramas, she doesn’t care about their problems and feelings and even doesn’t realise when she spoils her former best friend’s wedding. The current relationship is marked by her evil behaviour towards her boyfriend. No, he cannot do anything right, she only snaps at him and looks down on him. All of this is not necessarily linked to her obsessive love, not, she is just a very mean person.

When it comes to her flashbacks and memories of the time with Matthew, well, it is the classic constellation: a successful man in the middle of his life meets the naive girl who falls for him and somehow she succumbs to the illusion that he might also fall in love with her. Her whole behaviour – bombarding him with text messages, dropping everything when he calls, accepting all his wishes in their shabby hotel room, being subservient in any imaginable way – well, that’s something that might happen, but over months without understanding what is going on? That she is never at his side in public, but hidden in a hotel room where he doesn’t even have the time for a proper conversation with her? At least, she can serve as a cautionary tale.

I am not sure if I find Sarah’s character authentic and thus could really believe the story. Nevertheless, it captivated me somehow and I almost read it in just one sitting which definitely speaks for Louise O’Neill.

Philippe Dijan – Marlène

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Philippe Dijan – Marlène

Wer ist Marlène? Und hat sie wirklich so eine böse Aura, wie Richard vermutet? Schwanger flüchtet Marlène zu ihrer Schwester Nath, die sie aus Pflichtgefühl aufnimmt, auch wenn die Situation gerade schwierig ist. Mit ihrer 18-jähirgen Tochter Mona liegt sie im Clinch, so dass diese zu Dan zieht, dem besten Freund ihres Vaters Richard. Dieser saß drei Monate im Gefängnis und steht kurz vor der Entlassung. Dan versucht in das bürgerliche Leben zurückzukehren, was nach den Erfahrungen im Jemen und Afghanistan nicht einfach ist, doch im Gegensatz zu Richard scheint es ihm zu gelingen. Er ist bemüht seinem Job regelmäßig nachzugehen, die Nachbarn zu grüßen und seine Hilfe anzubieten, um wieder aufgenommen zu werden in die Gesellschaft. Doch dann kommt Marlène und macht ihm eindeutige Avancen. Er wehrt sich und ahnt noch nicht, dass er besser die Flucht ergreifen sollte, denn Marlène zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her.

Philippe Dijan ist als Autor in der französischen Literaturszene seit Jahrzehnten eine feste Größe. Vor allem die komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen haben es ihm angetan, seinen Durchbruch hatte er 1985 mit „37°2 le matin“ (dt. „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“), in dem er die obsessive Liebe zwischen Betty und Zorg schildert. Sein Roman „Oh…“ aus dem Jahr 2012 wurde mit dem Prix Interallié ausgezeichnet und beschreibt die verstörende Anziehung zwischen einer Frau und ihrem Vergewaltiger.

Die Protagonistin, die dem aktuellen Roman den Titel verleiht, bleibt über weite Teile der Handlung erstaunlich blass. Es wird mehr über sie gesprochen als dass man sie selbst erleben würde und man fragt sich, wie die anderen Figuren zu ihrer Einschätzung kommen und inwieweit sie mit dieser richtig liegen. Richard hasst Marlène und macht keinen Hehl daraus. Die Probleme, die Richard und Dan haben, wieder festen Boden unter den Füßen zu finden, nehmen viel mehr Raum ein und man fragt sich fast, wie Marlène zu ihrer Ehre kommt, kann sie Dan vielleicht doch von seinem Trauma befreien?

„Er kannte nicht nur Angst, Blut und Schmerz, aber er konnte sich schrubben, so viel er wollte, es ging nicht ab, es kam immer wieder, und jedes Mal färbte es auf den Rest ab (…) Er hatte sich daran gewöhnt. In gewisser Weise war er schon tot, dachte er. Weder Marlène noch sonst jemand konnte etwas dafür. Wer einmal in der Hölle gewesen war, kam nicht wieder zurück.“

Die zarte Verbindung scheint jedoch eine Zukunft zu haben, zumindest in Dans Augen. Er ist bereit sich dafür auch gegen seinen Freund zu stellen und Marlène zu verteidigen. Doch dann folgt unweigerlich der Moment des Schreckens und Grauens. Völlig unvorbereitet trifft es einem als Leser und Dijan legt sofort nach, kaum ein Herzschlag vergeht zwischen den Schlägen, die er uns zumutet.

In kurzen Sequenzen erzählt Dijan seine Geschichte, wechselnd zwischen den Figuren erlaubt er Innen- und Außensicht, was ein komplexes Bild entstehen lässt und die Zwänge, denen sie ausgesetzt sind, anschaulich verdeutlicht. Dialoge und Beschreibungen gehen fließend ineinander über und entwickeln so die Figuren und die Handlung unentwegt fort. Kaum scheint man sie greifen zu können, entweichen sie wieder.

Dijan ist keine leichte Kost, aber ein sprachlicher Virtuose, der ein Auge für die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele hat.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.