Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Sasha Filipenko – Der ehemalige Sohn

Eines dieser Unglücke, von denen sich jeder später fragt, wie sie geschehen konnte. Wegen eines Unwetters strömen Menschenmassen in die U-Bahn, die dem Ansturm nicht gewachsen ist, Panik und Enge führen zu unzähligen Opfern. Unter ihnen auch der Schüler des Konservatoriums Franzisk, der zwar überlebt, aber in ein Koma fällt. Nach Wochen des Bangens verlieren nach und nach alle die Hoffnung, außer seiner Babuschka, die weiterhin täglich an seinem Bett sitzt und ihm davon erzählt, was sich außerhalb der Krankenhausmauern zuträgt. Das Wunder, an das keiner mehr glauben mag, ereignet sich nach zehn langen Jahren doch noch: Franzisk erwacht und sieht eine Welt, die einerseits genauso ist wie ein Jahrzehnt zuvor und doch ganz anders.

Sasha Filipenko ist eine der jungen Stimmen aus Belarus, die über die Landesgrenzen hinaus gehört werden und einen Blick hinter die Fassade des Regimes erlauben. „Der ehemalige Sohn“ ist sein erster Roman, der in seiner Heimat auch mit renommierten Preisen ausgezeichnet wurde, auf Deutsch ist im vergangenen Jahr bereits „Rote Kreuze“ erschienen. Als Journalist macht er Missstände öffentlich und engagiert sich für die Protestbewegung, dieses politische Engagement spielt auch in seinem Debütroman eine entscheidende Rolle.

Der erste Teil des Romans lässt den Leser in die gesellschaftlichen Strukturen des recht abgeschotteten Landes am östlichen Rand Europas blicken. Auf den Staat hofft niemand, die Familie und Beziehungen sind es, die darüber bestimmen, welche Chancen und Möglichkeiten man hat. Die öffentliche Hand ist von Korruption unterwandert und ein falsches Wort kann zu drakonischen Strafen führen, was im kollektiven Rückzug ins Private resultiert. Während Franzisk im Koma liegt, sorgt dich die Großmutter aufopfernd um ihn und lässt nichts unversucht, während seine Mutter mit dem Arzt anbändelt, um sich selbst ein besseres Leben zu ermöglichen.

„Ich will einfach sehen, dass außer mir auch andere Leute hinausgehen, die genauso nicht an diese Farce glauben, und spüren, dass ich nicht die einzige Geisel in diesem Narrenhaus bin.“

Franzisks Welt ist eingefroren im Jahr 1999, dies erlaubt ihm den Blick eines Fremden, als er seine Heimat 2009 neu kennenlernt. Trotz formeller Unabhängigkeit hängt das Land noch immer am Tropf des großen Bruders, der über ausreichend Druckmittel verfügt, Belarus gefügig zu machen. Der vorgeblich demokratisch gewählte Präsident ist ein Autokrat wie er im Buche steht und der keine Scheu zeigt, gegen sein Volk alle verfügbare Gewalt anzuwenden, um dieses in Schach zu halten. Die staatliche Propaganda glaubt schon lange niemand mehr und wer kann, der flieht ins Ausland. Der Protagonist muss sich schon fragen, weshalb er in dieses Leben zurückgekehrt ist.

Auch in diesem Roman gelingt Filipenko das Private mit dem Politischen zu verbinden und über die Erzählung hinaus nachzuwirken. Die Musik spielt ebenfalls wieder eine wichtige Rolle und dient letztlich als Flucht vor einer kaum ertragbaren Realität. Nicht ganz so ausdrucksstark wie sein späterer Roman „Rote Kreuze“ lässt aber auch dieser schon erkennen, dass man es mit einem beachtenswerten Autor zu tun hat, der unbedingt gehört werden sollte, da er Literatur nicht nur als Unterhaltungsmedium, sondern auch als Sprachrohr nutzt und damit auch an seine Leser eine Aufforderung über den Genuss der Geschichte hinaus sendet.

Sasha Filipenko – Rote Kreuze

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Sasha Filipenko – Rote Kreuze

Alexander ist noch gar nicht in seine neue Minsker Wohnung eingezogen, als er auch schon die Bekanntschaft mit der scheinbar exzentrischen Nachbarin Tatjana Alexejewna macht, vor der ihn die Maklerin gewarnt hat. Eigentlich möchte er nicht auf einen Plausch zu ihr kommen, doch dann fesselt ihn die Lebensgeschichte der 91-Jährigen, die an Alzheimer erkrankt ist und oftmals heute schon vergessen hat, was gestern geschehen ist. An ihre Vergangenheit kann sie sich jedoch sehr gut erinnern. Den Zweiten Weltkrieg, ihre Arbeit im Außenministerium, ihren vermissten Mann Ljoscha und die Tochter Assja, die man ihr entrissen hat, als man sie wegen Volksverrat ins Lager schickte. Ein bewegtes Leben hat sie hinter sich, das exemplarisch für viele in der ehemaligen Sowjetunion steht. Mit dem Erzählen ihrer eigenen Geschichte, bewahrt sie diese nicht nur vor dem eigenen Vergessen, das der Krankheit geschuldet ist, sondern auch vor dem kollektiven Verdrängen der Straftaten, die die Kommunisten hinter dem Eisernen Vorhang über viele Jahre verübten.

„Rote Kreuze“ ist der erste Roman des weißrussischen Autors Sasha Filipenko, der ins Deutsche übersetzt wurde. Der Journalist und Drehbuchautor sagt im Nachwort zu seinem Roman, dass für ihn ein guter Roman nicht nur eine Geschichte erzählen soll, sondern Geschichte haben muss. Die Recherche um die Gräuel des Stalin-Regimes setzt er literarisch um und schafft es, auf nicht einmal 300 Seiten ein wichtiges Kapitel der russischen Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und den Opfern mit Tatjana Alexejewna eine Stimme zu verleihen.

Trotz ihrer Geburt in London und zahlreicher Reisen in Westeuropa, wird Tatjana Alexejewna schnell eine Anhängerin des Kommunismus als sie nach Moskau übersiedelt. Rückblickend fällt es ihr schwer nachzuvollziehen, wie sie so lange die Augen vor den untrüglichen Anzeichen des sich nähernden Krieges verschließen konnte. Sie dient ihrem Land und wird doch als Verräterin hart bestraft. Nicht die Prügel und die Entbehrungen des Straflagers sind es jedoch, die ihr zusetzen, sondern die Ungewissheit darüber, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter geschah und vor allem das schlechte Gewissen wegen einer Kleinigkeit, einem minimalen Betrug, von dem sie hoffte, dass sie so dem Schicksal ein Schnippchen würde schlagen können. Am Ende ihres Lebens angekommen, kann sie nichts mehr beängstigen, nicht einmal mehr Gott, sollte es ihn denn geben:

 „Jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.“

Vergessen und Erinnern sind die zentralen Themen des Romans. Nicht nur die alte Dame, sondern auch der junge Nachbar kann und will vor der Erinnerung nicht davonlaufen. Alexanders Los ist zwar gänzlich anders gelagert, aber auch er hadert mit unabwendbaren Entscheidungen einer übermenschlichen Macht, denen er jedoch alles Menschenmögliche entgegensetzt.

Neben der historischen Relevanz des Themas begeisterte mich Filipenko mit unzähligen wundervollen, treffsicheren Formulierungen, die das Lesen zu einem Fest machen. Auch vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die wiederholten Verbindungen von Handlung mit Musik – wie etwa Tschaikowskys 5. Symphonie, die nach Tatjana Alexejewnas Empfinden die ganze Dramatik der russischen Geschichte widerspiegelt – man mag sich die Stücke sofort anhören, um noch mehr in die Handlung einzutauchen als man das ohnehin schon tut.

Ein Roman, bei dem einfach alles stimmt – schon jetzt eins der Highlights 2020. Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.