
Carter University – Harvard des Südens. Dort treffen ganz unterschiedliche Menschen aufeinander. Annie Stoddard will dort endlich eine normale Studentin sein, nach einem Unfall waren ihre Beine durch Narben entstellt, was inzwischen durch eine OP optisch korrigiert werden konnte. Bea Powers will sich von den Fußspuren ihrer über-erfolgreichen Mutter lösen und hat daher Strafrecht als Fach gewählt, sie will die Welt besser machen und jene verteidigen, denen niemand beisteht. Stayja York würde auch gerne studieren, aber sie uns ihre kranke Mutter kommen kaum über die Runden, weshalb sie als Barista jobbt und nur einzelne Kurse belegen kann. Als Annie nach einer Verbindungsparty den angesehenen Studentensprecher Tyler der Vergewaltigung beschuldigt, kreuzen sich die Wege der jungen Frauen unerwartet. Und alle drei müssen lernen, dass nicht Gerechtigkeit und Wahrheit entscheiden, sondern die Summen, die Eltern bereit sind, für ihre Kinder in die Hand zu nehmen. Mit dem falschen Background kann man so schnell doppelt zum Opfer werden.
Mary Adkins hat einerseits eine recht typische Campus-Novel geschrieben, in der das Leben an der Universität im Fokus steht: die Orientierung in der neuen Welt, große und kleine Sorgen des Studentenalltags und letztlich auch das Erwachsenwerden durch die ersten Schritte ohne die Eltern. Viel mehr noch rückt jedoch bald die US-amerikanische Gesellschaft mit ganz aktuellen Problemen in den Fokus.
Stayja ist leistungswillig und intelligent, aber die fehlenden finanziellen Mittel verhindern, dass sie studieren und damit ihrem sozialen Milieu entfliehen kann. Immer wieder neue Steine werden ihr in den Weg gelegt, die sie an den Rand der Verzweiflung bringen. Ihre Jobsituation ist prekär und schnell droht der Rausschmiss bei kleinsten Fehlern. Die Studierenden, die sie bedient, sehen sie gar nicht oder sehen auf sie herab.
Bea ist behütet in teuren Privatschulen an der Ostküste aufgewachsen, muss aber in Carter erkennen, dass sie mit ihrer dunklen Hautfarbe schnell kriminalisiert wird. Zunehmend realisiert sie, wie sehr Vorurteile das Strafmaß entscheidend bestimmen und wie so junge Leben zerstört werden, während andere Verbrecher ungestraft davonkommen. Auch in ihrem Studienprogramm wird ihr schmerzlich bewusst, wie die Gunst des angesehenen Professors verteilt wird: nicht der scharfe Verstand, sondern das Aussehen und die Bereitschaft ihn auf Reisen (und mehr) zu begleiten, sind entscheidend.
Annie ist durch ihre Narben immer schon zum Opfer stilisiert worden und ihr Aussehen gerät direkt in den Mittelpunkt in der sehr auf die Optik ausgerichteten Gesellschaft. Es ist zwar nicht so, dass man ihr ihre Vergewaltigungsvorwürfe nicht glauben würde, aber sie richtet sie schlichtweg gegen den falschen. Tyler stammt aus einer Familie mit Macht, die ungewünschte Stimmen zum Verstummen bringen kann und so erlebt sie statt Unterstützung weitere Repressalien, was unweigerlich dazu führt, dass sie immer mehr in einer Depression versinkt.
Überzeugend ausgearbeitete Figuren, deren jeweilige Geschichten clever miteinander verbunden werden. Viele aktuelle gesellschaftliche Fragen werden aufgeworfen, die einem als Leser zum Nachdenken bringen und einem auch vor das Rätsel stellt, ob Ähnliches sich hierzulande in ähnlicher Weise zutragen könnte.