Jo Nesbø – Eifersucht

Jo Nesbo — Eifersucht

Der norwegische Krimiautor Jo Nesbø macht sich in seinem aktuellen Buch auf, unterschiedliche Formen von Eifersucht zu ergründen, die – man ahnt es – für die Beteiligten nicht immer gut ausgehen. In sieben Geschichten, die sich in Setting und Länge völlig unterscheiden, lässt er den Leser daran teilhaben, wie die Figuren in den emotionalen Ausnahmezustand geraten. Der Profikiller, der eigentlich nur seinen Job machen will und dann an eine für ihn bezaubernde Kundin gerät; das Brüderpaar, das um die Gunst derselben Frau buhlt; die Migrantin, die sich als Kassiererin den ganzen Tag den Unverschämtheiten ihrer Kunden aussetzen muss oder auch der Autor, bei dem sich Realität und Fiktion vermischen, sie und weitere erleben wir im Grenzbereich des Menschlichen und Unmenschlichen.

Ich bin zugegebenermaßen kein ausgewiesener Freund von Kurzgeschichten, die Figurenentwicklung kommt mir dabei oft zu kurz und das Zuspitzen der Handlung auf einen einzigen Kulminationspunkt lässt mir zu viel von dem Fehlen, was davor geschah und dahin geführt hat. Daher ist es für mich nicht weiter verwunderlich, dass die längeren Geschichten mich deutlich mehr angesprochen haben, insbesondere „Eifersucht“ um die beiden Kletterer und den Athener Ermittler, der ihren ungewöhnlichen Fall untersucht, mit rund 120 Seiten auch schon eher eine Novelle innerhalb der Sammlung.

Über allen Geschichten schwebt die Frage, was einen Menschen dazu treiben kann, einem anderen das Leben zu nehmen. Es sind ganz unterschiedliche Beweggründe, die meist nachvollziehbar motiviert sind und so die Frage beim Leser aufreißen, ob man selbst auch in dieser Situation enden könnte. Natürlich würde niemand bei klarem Verstand so weit gehen und doch: Jo Nesbø präsentiert ganz normale Figuren, die einem tagtäglich über den Weg laufen könnten und bei denen schlicht ein einziger Tropfen zu viel wurde und das Fass zum Überlaufen brachte. Kann man nicht selbst auch an diesen Punkt gelangen? Würde man so weit gehen? Und hat man nicht sogar sehr viel Verständnis für sie? Eine moralische Herausforderung, die dabei bestens unterhält.

Kristen Roupenian – Cat Person

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Kristen Roupenian – Cat Person

Es gibt Horrorbücher, da ist man auf das Schlimmste vorbereitet. Man weiß, dass es eine Figur geben wird, die Grenzen überschreitet und mit gespannter Vorfreude wartet man auf den Schauer, der sich einstellt, wenn die Erwartungen noch übertroffen werden. Und dann greift man zu einer Kurzgeschichtensammlung, die den harmlosen Titel „Cat Person“ trägt, was so etwas Harmloses wie eine Katzenmutter sein kann. Dunkel erinnerte ich mich, dass das Buch schon kurz nach der Veröffentlichung heftige Reaktionen nach sich zog, aber welche, war mir nicht mehr präsent. Auch der Klappentext klingt eher harmlos. Nur wenige Seiten des Lesens genügten, um von dem Aufschrei eine sehr klare Vorstellung zu bekommen.

In zwölf Geschichten lässt die Autorin Figuren auftreten, die zwar durchaus ein moralisches Gewissen besitzen, dieses jedoch um der Erfüllung ihrer innersten Sehnsüchte willen über Bord werfen und das ausleben, was eigentlich maximal als Gedanke zum Leben erweckt werden sollte. Sie vergewaltigen, verletzen, erniedrigen, üben Macht aus, quälen auf jede erdenkliche psychische und physische Weise. Männer Frauen, Kinder, Teenager, Erwachsene; hier, da und dort auf der Welt; gestern heute und vermutlich auch morgen. Gemeinsam haben sie ihren Egozentrismus, die Ignoranz gegenüber den anderen, die gnadenlose Verfolgung ihrer eigenen Wünsche auf Kosten ihrer Mitmenschen. Zu echter Liebe sind sie nicht fähig, sie können noch nicht einmal sich selbst lieben.

Die Autorin lässt kaum einen menschlichen Abgrund aus, zeichnet dabei aber authentisch wirkende Figuren, die auf den ersten Blick sogar sympathisch sein können, der nette Mensch von nebenan eben. Doch der Blick hinter die Fassade offenbart das dunkle schwarze Loch. Ohne Frage ist Kristen Roupenian eine begnadete Erzählerin, die einem trotz des wahrlich abscheulichen Inhalts fesselt.

In der Washington Post schreibt Molly Roberts über die titelgebende Story, die zuvor im New Yorker erschien und schnell im Netz viral ging: „A New Yorker short story went viral because, for one of the first times, something in the magazine seemed to capture the experience not of print-oriented, older intellectuals but of millennials.” Ja, die Datinggewohnheiten haben sich verändert, auch das Verhältnis zu Körper bzw. Körperkult, Pornografie und Sex – das neue Jahrtausend hat den Menschen in den westlichen Ländern ungeahnte Freiheiten geschenkt. Das findet sich in den Geschichten wieder, doch die Autorin bleibt hier nicht stehen, sondern treibt ihre Figuren über die neue rote Linie hinweg.

Freunde der psychologischen Betrachtung von Literatur dürften ihre wahre Freude an den Geschichten haben, die Bandbreite an auffälligem, vom der Norm abweichendem verhalten ist groß. Was macht man nun als normaler Leser damit? Zu sagen die Spielereien gefallen einem, ist irgendwie schwierig, die Tatsache, dass man durch die Texte hindurchrauscht und fasziniert auf die Buchstaben starrt, spricht jedoch auch für sich. Bleibt als Fazit wohl am besten zu sagen: unerwartet, aber beachtenswert.

Marina Keegan – Das Gegenteil von Einsamkeit

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Marina Keegan – Das Gegenteil von Einsamkeit

Wenn ein junger Mensch bei einem Autounfall stirbt, ist das immer tragisch. Wenn es sich dabei um ein Ausnahmetalent handelt, das eine große Zukunft vor sich hatte, ist dies umso bedauerlicher. Nur wenige Tage nach ihrem Abschluss in Yale starb Marina Keegan, eine junge Frau, die bereits in vielen Bereichen Aufmerksamkeit erregt hatte und sicher eine global bedeutsame Stimme geworden wäre. Egal ob Schreiben, Schauspielern oder auch als politische Aktivistin in der Occupy Yale Bewegung und im Wahlkampfteam von Obama – Marina hat Spuren hinterlassen. „Das Gegenteil von Einsamkeit“ ist eine posthum erschienene Sammlung von Essays und Kurzgeschichten, die ihre Eltern und Professoren als ihr Erbe veröffentlichten.

„Marina war geistreich, freundlich und idealistisch; ich hoffe, ich vergesse nie, dass sie auch wütend, gereizt und provokant war. Ein bisschen wild. Mehr als ein bisschen nonkonformistisch. Wenn man es geruhsam haben wollte, war Marina nicht die Richtige.“

Das schreibt ihre Anne Fadiman, eine US-amerikanische Schriftstellerin und Journalistin, bei der Marina Keegan in Yale einen Kurs im Schreiben besuchte und die das Vorwort der Sammlung verfasste. So gegensätzlich wie die Beschreibung der jungen Autorin sind auch die Texte. Es beginnt mit „Das Gegenteil von Einsamkeit“, ihrer Abschlussrede für den Jahrgang 2012 in Yale, in der sie sowohl die Zeit an der Elite-Universität Revue passieren lässt wie auch über die ungewisse aber vielversprechende Zukunft sinniert. Ganz verschiedene Themen reißt sie an, von Soldaten im Einsatz, über Adoption und erste Liebe, von der Kunst und der Karriereplanung spricht sie, fiktive Geschichten und reale Begebenheiten teilt sie mit dem Leser.

Es ist die Stimme einer Studentin, die klingt wie eine Studentin. Lebensdurst und Unsicherheit sprechen gleichermaßen aus ihr, große Träume und reflektierte Introspektion – Marina Keegan wollte schreiben und obwohl sie wusste, oder vielleicht gerade weil sie wusste, dass dies ein harter Weg werden würde, hat sie es getan und immer an sich gearbeitet und doch gezweifelt, ob ihr Talent reichen würde. Wissend um ihren Unfall, erscheint folgende Passage in einem anderen Licht als dies vielleicht gewesen wäre, würde sie noch leben:

„Ich bin so neidisch. Lachhaft neidisch. Neidisch auf jeden, der vielleicht die Gelegenheit hat, aus dem Grab zu sprechen. Ich habe meine Chronik bis über die Apokalypse hinaus verlängert, und ungläubig, wie ich bin, schätze ich die Möglichkeit, dass etwas Handfestes von mir bleibt. Wie vermessen! Überhaupt davon auszugehen, jemand könnte besonders sein.“

Es ist etwas von ihr geblieben und man kann nur bedauern, dass wir nicht mehr von ihr haben, denn man liest die Studentin aus ihren Zeilen, aber die Stimme der erwachsenen Marina haben wir nie zu hören bekommen, dabei hätte auch die uns sicher sehr viel sagen und erzählen können.

Joshua Ferris – Männer, die sich schlecht benehmen

Maenner die sich schlecht benehmen von Joshua Ferris
Joshua Ferris – Männer, die sich schlecht benehmen

„Was tut ein Mann – und ich meine einen echten Mann, also, was tut ein echter Mann –, wenn er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat?”

Dies ist eine der Fragen, die sich die Figuren in Joshua Ferris Geschichten stellen. Es geht um Beziehungen, meist zwischen Männern und Frauen, manchmal aber auch zwischen Männern und ihrer Umwelt im Allgemeinen, und all den Hürden, die diese tagtäglich mit sich bringen. Muss man die Freunde des Partners automatisch auch mögen und diverse gemeinsame Abende aushalten? Wie kommt man auf einer VIP Party am besten an, steht nicht blöd da und überwindet seine Menschenscheu? Wie erklärt man den Schwiegereltern einen Seitensprung und dass einem die eigene Frau gerade offenkundig verlassen hat? Leicht haben sie es alle nicht, aber ganz unverschuldet sind sie aber auch nicht in die kurzen Ausschnitte ihres Lebens geraten.

Joshua Ferris‘ Kurzgeschichtensammlung war mir nach Erscheinen im Original bereits aufgefallen, wo man sich allerdings mit „The Dinner Party and Other Stories“ für einen weitaus passenderen und nicht ganz zu verschreckenden Titel entschieden hat. „Männer, die sich schlecht benehmen“ hat einen Preis für nicht nur unglaublich schlechte Passung zum Inhalt, sondern auch für marktschreierisches Fishing for Aufmerksamkeit verdient, was das Buch eigentlich nicht verdient hat.

Im Zentrum der Geschichten stehen Männer und oft auch Frauen gemeinsam, denn die Beziehung, die sie verbindet, befindet sich an einem kritischen Scheidepunkt: geht es doch hoch gemeinsam weiter oder werden sich die Wege trennen? Die bestehenden Konflikte sind einem als Leser oftmals gut bekannt: Erwartungen, die der Partner nicht erfüllen kann; der Wunsch nach einem Leben, das einfach anders ist als das, in dem man sich gefangen fühlt. Die Figuren sind nicht immer Sympathieträger, ganz im Gegenteil, der Autor straft sie und ihr Verhalten oftmals auch mit feiner Ironie ab. Eine gewisse Neurotik und Selbstbezogenheit kann man kaum übersehen, aber dies macht die Figuren auch verwundbar und an dieser Stelle trifft Ferris sie und er wählt gerade einen der verletzlichsten Momente aus, der in der jeweiligen Geschichte dargestellt wird.

Nicht alle Geschichten konnten mich gleichermaßen überzeugen, mit mancher Konstellation konnte ich mehr anfangen als mit anderes, auch die Figuren sprechen mal mehr an, mal weniger. Insgesamt aber eine kurzweilige Sammlung, die vor allem durch die scharfe Beobachtungsgabe und treffsichere Umsetzung des Autors überzeugt.

Ferdinand von Schirach – Strafe

Strafe von Ferdinand Schirach
Ferdinand von Schirach – Strafe

Seit vielen Jahren schon ist Fernand von Schirach eine feste Größe im Literaturbetrieb und hat mit seinen Rechtsfällen eine eigene literarische Gattung geschaffen. „Strafe“ knüpft an seine beiden ersten Bücher „Verbrechen“ und „Schuld“ an und hat wieder einmal verschiedene Rechtsfälle in Form von Kurzgeschichten zum Inhalt. Zwölf Schicksale stellt von Schirach vor, die auch die Grenzen des Rechtssystems zeigen und nachvollziehen lassen, weshalb manchmal Unschuldige ins Gefängnis wandern und weshalb manchmal Schwerverbrecher auf freien Fuß kommen.

Der Autor ist kein klassischer Erzähler, sein Stil trägt deutlich die Handschrift des Juristen: klar, präzise, schnörkellos. Das mag nicht jedem gefallen, er bieten jedenfalls wenig Raum für analytische Sprachbetrachtung und vielschichtige Entschlüsselung des Textes. Dies ist auch gar nicht nötig, denn das, was der Autor mitzuteilen wünscht, liegt direkt vor einem und besticht eben durch die sachliche Darstellung, die keine Fragen offen lässt. Dies hindert einem jedoch keinesfalls daran, mit den Menschen Mitgefühl zu empfinden, zu leiden und sie auch bisweilen zu verachten.

Die Texte variieren in Länge und Perspektive, den einen oder anderen Fall glaube ich auch aus den Medien zu kennen, etwa die Geschichte um den Mann im Taucheranzug – das ist so skurril, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass die häufiger vorkommt. Am interessantesten und berührendsten fand ich die Fälle „Lydia“ um die Puppe, die zur Lebensgefährtin wird, und „Subotnik“, die zeigt, in welcher Zwickmühle sich Verteidiger wiederfinden können. Zwar kommen alle Geschichten nicht an das ethisch/moralisch nicht zu lösende Dilemma von „Terror“ heran, trotzdem liefern sie Einblicke in Grenzbereiche der Justiz, die einem ansonsten verborgen bleiben würden.

Lina Muzur (Hrsg.) – Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht

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Lina Muzur (Hrsg.) – Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht

Kurzgeschichten sind keine einfache literarische Form; sie sind oft zu kurz, um eine Entwicklung einer Figur zu zeigen, müssen sich beschränken auf den entscheidenden Moment, was davor war und was danach kam, muss notgedrungen ausgeblendet werden. Wenn sie dann noch von unterschiedlichen Autoren sind, deren Schreibstil sich stark unterscheidet, sind sie geradezu ein Wagnis. Zugegebenermaßen bin auch ich kein ausgewiesener Fan von diesen Sammlungen kurzer Episoden, denen schon aufgrund des Rahmens vieles nicht möglich ist, was ich an Romanen schätze. Und wie soll man als Leser und Rezensent erst diesen kurzen pointierten Ausschnitten des Lebens gerecht werden?

Nichtsdestotrotz gibt es die Ausnahmen, für die Form und Inhalt genau passend sind. Lina Muzur hat in dem Band „Sie sagte“ 17 Autorinnen versammelt, die rund um das Thema Sex und Macht die verschiedenen Sichtweisen, wenn auch immer die weibliche, in kurze Texte umsetzen, die gerade alles ausblenden, was nicht zu dem Kulminationspunkt gehört. Schlag auf Schlag folgen Erniedrigungen, Scham und Selbstzweifel. Kristine Bilkau, Hanna Katharina Hahn, Helene Hegemann, Heike-Melba Fendel und Julia Wolf sind nur einige der Autorinnen, die Kurzgeschichten geliefert haben und hier eine starke weibliche Seite der Literatur zeigen.

Die Geschichten sind so verschieden wie die Frauen dieser Welt und so spricht einem die eine mehr, die andere weniger an. Besonders beeindruckend fand ich Antonia Brauns „Setzen Sie sich!“, dem Bericht einer Frau, die von einem Mann genötigt und bedrängt wird und als sie dies berichtet damit konfrontiert wird, dass man ihr eine Mitschuld gibt, weil sie sich nicht viel früher gewehrt hat und jetzt in der Opferrolle Mitleid einfordert. In Julia Wolfs „Dickicht“ ist eine junge Mutter alleine Zuhause und die hereinbrechende Nacht bringt auch das ungute Gefühl mit sich, beobachtet zu werden und die diffuse Gefahr, die von der Situation ausgeht, bereitet Ängste, die sie kaum zugeben mag. Auch Fatma Aydemirs Geschichte „Ein Zimmer am Flughafen“, in der eine Studentin erst eine Vergewaltigung erlebt und dann einen Vertrauensmissbrauch, nachdem sie davon erzählt, beleuchtet den Zwiespalt zwischen den widersprüchlichen Gefühlen, denen Frauen in dieser Situation ausgesetzt sind, sehr drastisch. „Maria im Schnee“ von Annett Gröschner wurde bereits 1988 veröffentlicht und löste eine Debatte aus, da zu diesem Zeitpunkt das öffentliche Reden über Vergewaltigungen ein Tabu darstellte – was die Rolle der Frau, die ihr dabei von der Gesellschaft zugeschrieben wurde, verdeutlicht.

Ja, man kann sich an der #metoo Debatte sattgelesen haben. „Sagte sie“ ist sicherlich thematisch nicht weit davon entfernt, aber ganz sicher keine Anklageschrift gegen Männer, auch wenn diese hier vielfach als Täter auftreten. Es ist die literarische Bearbeitung von Grenzsituationen, die zwar fiktiv, aber keineswegs utopisch sind, sondern genau so tagtäglich in der Realität vorkommen. Darüber soll man reden, darüber muss man reden. Vielleicht hilft diese literarische Form insbesondere dabei, Worte für das Unsagbare zu finden und doch darüber ins Gespräch zu kommen.

Ein herzlicher Dank geht an die Hanser Literaturverlage für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zum Titel und den Autorinnen finden sich auf der Verlagsseite.

Frédéric Valin – In kleinen Städten

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Frédéric Valin – In kleinen Städten

In den deutschen Kleinstädten ist die Welt noch in Ordnung – sollte man denken. Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem in der Not. Doch ist das wirklich so? Frédéric Valin berichtet aus der Provinz, aus dem künstlich geschaffenen Dorf für diejenigen, die niemand sehen möchte, weil sie alt oder behindert sind. Von dem kleinen Urlaubsort, der eigentlich gar nichts zu bieten hat, außer Bettenburgen und Alkohol. Vom Heimatort, den der Erzähler nur noch besucht, wenn wieder einmal eine Beerdigung ansteht. Von der Oberbürgermeisterwahl, die die Lokalzeitung als Event aufziehen will und damit beinahe die sorgsam gepflegte Kleinstadtordnung durcheinanderwirbelt. Und von den hippen Städtern, die in die Provinz flüchten, wo sie sich Erfüllung vom eigenen Gärtchen erhoffen.

Frédéric Valin hat in seinem kurzen Sammelband ziemlich genau porträtiert, was die deutsche Provinz ausmacht und so ist es nicht schwer, vieles darin wiederzuerkennen. Auch wenn der Blick auf das gelenkt wird, was nicht so ansprechend und attraktiv ist, ist es doch keine Abrechnung mit dem pseudo-idyllischen Landleben und den Menschen, die diesen Ort der hektischen Großstadt vorziehen. Es ist auch weniger die Generalisierung als das Individuum, das er in jeder Geschichte erschafft, das überzeugen kann.

Mir haben drei der Geschichten besonders imponiert. Schon die erste, die aus der Sicht eines Pflegers einer Einrichtung für Hilfsbedürftige und Behinderte geschrieben ist, hinterlässt ihre Spuren:

„Als ich das erste Mal hier herausfuhr, zu meinem Bewerbungsgespräch, dachte ich noch, was es für eine mittelalterliche Idee ist, tausend Alten und geistig Behinderten ein Dorf mitten im Nirgendwo zu bauen, als könne man sie der normalen Welt nicht zumuten. Heute weiß ich, dass es andersrum ist: Die normale Welt ist unzumutbar.”

Hier geht es weniger um die Kleinstadt als um die Zustände in unserer Gesellschaft und wie wir mit Alten und Kranken umgehen. Wenn er von den „FLW-Gruppen: Füttern, lagern, windeln“ spricht, muss man sich eigentlich empören – oder man verschließt die Augen, weil man es ja eigentlich weiß´, aber nicht wahrhaben will, wie die Zustände insbesondere in der Pflege sind.

Der Sohn, der anlässlich einer Beerdigung nach Hause fährt und seine Mutter nicht wiedererkennt, die offenbar die Rolle der nur-Mutter abgelegt hat und wieder ein eigenständiges Wesen mit Interessen und Talenten wurde, fand ich ebenfalls interessant. Insbesondere, weil diese Feststellung so unverhofft und unerwartet kam und die Geschichte nicht in der trüben Stimmung endet, in der sie mit der Todesnachricht eingeläutet wurde.

Mein Favorit ist jedoch eindeutig „Der Oberbürgermeister“. Der Kleinstadtfilz – nicht, dass es diesen in größeren Städten nicht auch geben würde – wird auf den Punkt literarisch umgesetzt und könnte authentischer kaum sein. Herrlich, was Valin dem noch amtierenden OB als Ratschlag an seinen designierten Nachfolger in den Mund legt:

»Schau, es ist so: Du kannst doch nicht Bürgermeister sein und gleichzeitig in wilder Ehe leben! Wie sähe das denn aus. Der Pfarrer war ja schon gestern kaum zu beruhigen. Der wollte sogar eine Predigt zu dem Thema halten. Eine Predigt! Wie sähe das denn aus, frag ich dich.«

Natürlich gibt es die Kleingeister und so manches, was man belächeln kann. Aber darum geht es nicht. Valin hat das Leben eingefangen und in überzeugenden Dialogen und mit pointiert charakterisierten Figuren aufs Papier gebracht.

Denzil Meyrick – Die Mädchen von Strathclyde

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Denzil Meyrick – Die Mädchen von Strathclyde

Constable Jim Daley ist noch recht neu bei der Polizei von Glasgow und zum banalen Streifendienst verdonnert. Eigentlich träumt er ja davon, irgendwann einmal bei der Kripo Mordfälle lösen zu können. Ein Anruf eines besorgten Nachbarn liefert ihm auch schon eine Leiche: Tracey Greene wird tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Was zunächst den Anschein eines goldenen Schusses einer sich prostituierenden Drogenabhängigen erscheint, stellt sich rasch als heimtückischer Mord heraus. Schon der dritte innerhalb kürzester Zeit in Glasgow. Jim erhält seine Chance und hat schon bald eine Verbindung zu einem stadtbekannten Obdachlosen im Visier. Dass diese Verbindung noch viel mehr beinhaltet, als das Zusammentreffen zweier gesellschaftlicher Außenseiter, ahnt er noch gar nicht.

Ein knackiger Kurzkrimi, der interessanterweise im Jahr 1986 angesiedelt ist. Handys, Internet, jede Form der modernen Kommunikation entfällt und auch anstelle von Computern sind noch Schreibmaschinen im Einsatz. Eine angenehme Abwechslung im Genre, die von Denzil Meyrick auch glaubwürdig und in die Zeit passend umgesetzt wird.

Aufgrund der Kürze kommt der Krimi weitgehend ohne groß Schnörkel und Nebenhandlungen aus, sondern bleibt recht fokussiert auf den Fall. Die Lösung findet sich entsprechend zügig, aber nicht unglaubwürdig übereilt. Die Spuren sowie das Motiv sind für mich überzeigend und die Handlung insgesamt glaubwürdig. Alles in allem, ein für die Länge passabler Fall, der bei der Figurenzeichnung etwas an Format hätte gewinnen können.

Anna Gavalda – Ab morgen wird alles anders

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Anna Gavalda – Ab morgen wird alles anders

Ab morgen wird alles anders – in fünf Geschichten erzählt Anna Gavalda, wie sich für ihre Figuren das Leben verändert, den entscheidenden Moment, der den Morgen in einem anderen Licht und das Leben wieder lebenswert erscheinen lässt. Ein Mann muss seinen Hund in seinen letzten Stunden begleiten, doch der Verlust des geliebten Begleiters wird durch eine andere Beziehung abgelöst. Mathilde, die durch ihre Unachtsamkeit viel Geld verliert, das ihr nicht einmal gehört. Ein Vater, der in einer fast aussichtslosen Situation plötzlich den Kern erkennt. Yann, dem ein langer alkohollastiger Abend den nötigen Antrieb gibt und eine lange Partynacht, die zufrieden im ersten Zug des Morgens endet.

Anna Gavalda, die in Deutschland mehr durch ihre Romane bekannt geworden ist, liefert hier kurze Einblicke, die natürlich hinter der Langform zurückbleiben müssen, was Entwicklung und Tiefe der Figuren angeht, dies liegt in der Natur der Sache. Auch wenn einzelne Kurzgeschichte schon eine beachtliche Länge haben, bleiben es doch Momentaufnahmen, die – wie der Titel bereits suggeriert – auf diesen einen Moment konzentriert sind. Wie auch in ihren Roman erkennt man die Autorin hier wieder: Die typischen, ganz normalen Menschen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie kaum anders sind als der Leser selbst und dieser sich in ihnen wiederfinden kann. Dazu eine Sprache ohne Ecken und Kanten, die gemächlich dahinfließt und immer eine etwas süßlich, kuschelige Note hat.

Für mich interessant zu beobachten war die Tatsache, dass mich die drei Geschichten mit männlichen Protagonisten mehr ansprechen konnten als die weiblichen Figuren. Die Szene in der Schule, in der der Vater eine wirklich überzeugende Rede hält und eine bemerkenswerte Wendung herbeiführt, in dem er die Situation aus Kindersicht deutet und eben nicht den Blickwinkel der Erwachsenen annimmt, war dabei der insgesamt stärkste Moment des Buchs. Der abendliche Plausch bei den Nachbarn gefiel mir besonders wegen des ansprechenden Ambiente, in dem die Autorin die Szene verortete.

Alles in allem, ein in sich stimmiges Büchlein für zwischendurch, das keinen besonderen Tiefgang hat, aber als ein geselliger Begleiter für eine nette Lesezeit sorgt.

Shirley Jackson – Dark Tales

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Shirley Jackson – Dark Tales

From Shirley Jackson, one of the masters of horror short stories, now comes a collection of seventeen stories. They are all in the tradition of the good old ghost story where you have the ostensibly ordinary people living a normal live until something strange happens. There is the old lady writing anonymous letters to trigger evil in her neighbours. A girl who tries to flee from her family, who can build a new and quite happy life and who thinks that it is her who has cut the thread with her parents. Or the strange elderly couple on a honeymoon whom everybody eyes suspiciously – there must be something wrong. The husband who only wants to get home to his loving wife just like the woman who hates the public bus drivers and wants to complain about them even before boarding the bus. Or Anne, the plain student who moves unobserved and could never do any harm – couldn’t she?

Although we have rather short stories which do not shed a light on the characters’ past and which do not have complicated plots, it is great fun to read. What all the stories have in common is the unexpected turning point. We have a quick rise in suspense until something unforeseen happens and we change our mind – either in how we judge the character whom we have followed over a couple of pages or about the context in which the story seems to have taken place. A lot of surprises and what I found especially striking is the fact that the stories are all different. You do not have a kind of parallel that you can recognize, no obvious repetitions in the structure or characters.

All in all, a collection perfect for winter evenings for lovers of classic short stories.