Agatha Christie – N oder M?

Agatha Christie – N oder M?

Tommy und Tuppence Beresford langweilen sich 1940 im vom Krieg bedrohten England fürchterlich. Im 1. Weltkrieg waren sie für den Geheimdienst mittendrin, doch jetzt schiebt man sie zum alten Eisen ab. Als Tommy ehemaliger Vorgesetzter mit einer Geheimmission an ihn herantritt, schleicht sich seine Frau ebenfalls in die Küstenstadt Leahampton, wo sie als Mr Meadowes und Mrs Blenkensop im Gästehaus Sans Souci von Mrs Perenna unterkommen. Ihr Auftrag besteht darin, einen Maulwurf in den britischen Reihen zu finden, der zu der sogenannten Fünften Kolonne gehört, einer Nazi Organisation. Doch sie erkennen schnell, dass ihr Job nicht einfach ist, denn die Gäste sind alle gleichermaßen unverdächtig, was sie alle wiederum hochgradig verdächtig macht.

Kein klassischer Krimi, wie man ihn von Agatha Christie kennt, sondern eher ein typischer Spionagethriller mit Agenten und Doppelagenten. Der Titel „N oder M?“ spielt auf die vermuteten Identitäten eines deutschen Agentenpärchens an, statt ursprünglich aus dem Katechismus des Book of Common Prayer, wo es die Antwort auf die Frage nach dem Namen war. Der Roman brachte Christie selbst ins Visier des MI5, da eine der Figuren, Major Bletchley, mit dubioser Beziehung zu Deutschland zufälligerweise denselben Namen wie das top-secret Dekodierungszentrum des Geheimdienstes heißt.

 Auch wenn „N oder M?“ nicht dem bekannten Muster Christies folgt, gibt es doch einige charakteristische Wiedererkennungsmerkmale: eine abgeschlossene Gruppe von Fremden, die sich in der Pension zusammenfinden. Ein Querschnitt durch die britische Bevölkerung, der unauffälliger kaum sein könnte, mit Ausnahme des Deutschen, der natürlich sofort verdächtig ist, was aber zu offenkundig wäre. Eine geheimnisvolle Fremde, durchsuchte Zimmer, kleine Geheimnisse hier und da, die nach und nach an die Oberfläche kommen.

Ein besonderes Hoch geht an Tuppence, die wie eine naive Gattin wirkt und der scheinbar banale Fehler passieren, die sich jedoch als echte weibliche Heldin entpuppt. Wie gewohnt liebenswerte Figuren, ein durchaus kniffliger Fall, der jedoch ausgesprochen clever gelöst wird.

John le Carré – Silverview

John le Carré – Silverview

Julian Lawndsley hat seinen stressigen Job in London aufgegeben, um in einem kleinen englischen Küstenort eine Buchhandlung zu eröffnen, auch wenn er bislang nur wenig Erfahrung in diesem Bereich hat. Eines Abends kommt ein ungewöhnlicher Kunde in seinen Laden, der auf dem nahegelegenen Herrschaftssitz Silverview wohnt und sich als Jugendfreund von Julians Vater vorstellt. Mit Ratschlägen will er den Neubuchhändler unterstützen, der nicht sicher ist, was er von Edward Avon halten soll. Sein Vater hatte ihn nie erwähnt, aber er scheint bestens informiert über Julians Familie und da Edwards Frau schwerkrank ist, will er den älteren Herren auch nicht gleich der Lüge bezichtigen. Zur selben Zeit klingeln bei den Geheimdiensten alle Alarmglocken, eine undichte Stelle weist auf den kleinen Küstenort und setzt eine Maschinerie von Agenten in Gang.

„Silverview“ ist der letzte Roman des großen britischen Krimiautors, der selbst für die Geheimdienste gearbeitet hat und immer wieder sein Insiderwissen geschickt für seine Romane einsetzte. John le Carré bleibt auch in diesem Krimi dem Stil treu, den man von seinen letzten Geschichten kennt. Es ist nicht mehr der Agent in Action, der zwischen die Fronten gerät und selbst den eigenen Leuten nicht trauen kann, sondern eine komplexe Hintergrundgeschichte, die sich erst langsam enthüllt und vor allem von dem erzählerischen Geschickt des Autors lebt.

Julian ist offenkundig ein unschuldiger Zivilist, der die Bitten des älteren Herren nicht wirklich abschlagen kann und so in die Handlungen verstrickt wird, die er nicht mehr abschätzen oder gar stoppen kann. Dass er sich in Edwards Tochter verliebt, ist geradezu klassisch und geschieht dezent nebenbei. Man hat es mit distinguierten und höchst zivilisierten Menschen zu tun, deren kriminelles Potenzial woanders liegt.

Als geübter le Carré Leser weiß man, dass man den harmlosen Figuren genauso wenig trauen darf wie den offenkundig verdächtigen. Mit feinem Humor präsentiert der Brite dann auch eine Spionagegeschichte in Reinform, die sich vor aller Augen und doch im Verborgenen abspielt und aus dem netten, freundlichen Nachbarn plötzlich einen ganz großen Player im globalen Spiel der Mächte macht. All das geschieht ohne moderne Technik auf herrlich klassische Weise mit Briefen, die heimlich überbracht werden, und konspirativen Verabredungen an öffentlichen Orten.

Mit dem Roman taucht man ein wenig ab in eine längst vergangene Zeit und kann noch einmal einen großen Autor erleben. Und wieder einmal reißt dieser die großen Fragen auf, nämlich danach, wo letztlich die Loyalitäten liegen, wie weit Integrität geht und wo schlicht Menschlichkeit über strategische Überlegungen siegt. Vielleicht nicht der größte Roman le Carrés, aber auf jeden Fall ein würdiger Abschied.

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Nach dem Tod seines älteren Bruders zieht Marc zu seiner Schwägerin Diana, die bereits wiederholt versucht hatte sich das Leben zu nehmen. Sie haben sich einigermaßen eingerichtet, als Marc unerwartet eines Morgens am Strand mehrere Kokainpäckchen findet, ausgerechnet jetzt, wo er den harten Drogen entsagt und sich ganz auf Alkohol eingestellt hat. Er wittert jedoch ein gutes Geschäft und wendet sich an Joël, Dianas Bruder, mit dem sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr spricht, der jedoch für Marc einen Abnehmer wird finden können. Keiner der drei ist psychisch stabil, alle haben sie mit ihren ganz eigenen Dämonen zu kämpfen und das fragile Gleichgewicht, das sie in Sicherheit wähnt, gerät bald ins Schwanken und droht sie in den Abgrund zu reißen.

„Das ist, wie wenn. man Aspirin mit auf eine Reise nimmt, erklärte er und hielt ihm die Waffe hin, nur für den Fall dass.“

Philippe Dijan zeichnet in seinem Roman Figuren am Rande des Wahnsinns. Die Schicksalsschläge, die sie erleben, bringen sie an die Grenzen dessen, was sie aushalten können. Neigungen zu Suizid, Betäubungsmitteln aller Art und vor allem Aggressionen sind eine schlechte Grundlage, um den nächsten Schlag auch noch aushalten zu können. Und so geschieht das, was zwangsweise geschehen muss: die Lage eskaliert und man kann nur zusehen, wie sie sich immer weiter ins Nichts stürzen und völlig blind agieren.

Es ist das Psychogramm des verzweifelten Deliriums. Diana hat den Verlust Patricks nicht verarbeitet, im Leben und der Arbeit als Zahnärztin sieht sie keinen Sinn mehr. Auch ihre Affäre mit Serge, Sohn des Bürgermeisters und notorischer Fremdgeher, bleibt eher emotionslos und nur physisch befriedigend, wobei auch das nicht immer. Gleichmütig betrachtet sie, was mit um sie herum geschieht, ohne dies wirklich wahrzunehmen.

Joël hat ebenfalls jede Kontrolle verloren und geht im Rausch weit über das hinaus, was mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar ist, nur um dann zutiefst zu bereuen. Für Serge sind die Frauen, die er exzessiv sammelt, die Drogen der Wahl und das, obwohl er seine Ehefrau und Kinder eigentlich liebt.

Marc steht zwischen den Stühlen, auch er oft unkontrolliert und zu schnell Hochprozentigem zusagend bleibt letztlich doch noch die Figur mit der meisten Kontrolle und auch derjenige, der als einziger erkennt, wie sich alle um ihn herum völlig verloren haben.

Dijans Figuren sind oft jenseits des Spektrums des Erträglichen, auch „Die Ruchlosen“ überschreiten alle Grenzen, wobei man jedoch tatsächlich nachvollziehen kann, weshalb dies geschieht und es einen nicht wirklich wundert, wie ihnen alles entgleitet. Kein leichter Sommerroman, sondern harte Realität verzweifelter Menschen, denen jeder Lebenssinn abhandengekommen ist.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Roman finden sich auf der Verlagsseite.

Karin Kalisa – Radio Activity

karin kalisa radio activity
Karin Kalisa – Radio Activity

Nachdem sie fluchtartig die USA und ihre Tanzcompagnie verlassen hat, kehrt Nora in ihre Heimatstadt und die Wohnung ihrer Mutter zurück. Neben dem Talent fürs Tanzen hat sie auch eine außergewöhnliche Stimme, geradezu perfekt fürs Radio und so plant sie mit zwei Freunden einen eigenen Sender. Auf 100,7 werden sie als Tee und Teer – Meer Radio der Ostfriedenküste einen neuen Sound einflößen. Aber Nora hat noch eine zweite, heimliche Agenda, die sie mit dem Sender verfolgt. Jahrzehntelang hatte ihre Mutter geschwiegen, erst auf dem Sterbebett hat sie ihr ein schreckliches Vergehen anvertraut, das zu berichten sie als Kind nicht in der Lage war: der Missbrauch durch ihren Nachhilfelehrer, einen angesehenen Bewohner der Stadt. Da das Recht nicht auf Noras Seite ist, hat sie einen nachhaltigen Plan der Rache entwickelt und dieses Mal soll nicht verschwiegen, sondern öffentlich bekannt gemacht werden.

Karin Kalisas Roman beginnt eigentlich eher heiter mit der zunächst nur gealberten Idee eines Senders, die dann aber zunehmend konkreter wird und den Figuren, genau wie dem Leser, unheimlichen Spaß bereitet. Ganz heimlich schleicht sich jedoch ein zweiter Plot ein, der um den nicht gesühnten Missbrauch und mit diesem wandelt sich auch die Stimmung von heiter-locker zu trüb-melancholisch. Man begleitet Noras Mutter in den letzten Stunden, in denen sie endlich bereit ist, über das zu sprechen, was man ihr angetan hat. Der Autorin gelingt es trotz dieser doppelt schweren Thematik, den Leser emotional nicht in ein Loch fallen zu lassen, denn die Protagonistin selbst wird nun aktiv und vor allem kreativ, um diese Tat nicht einfach mit dem Sarg der Mutter für immer zu begraben. Ein Thema, über das nicht leicht zu schreiben oder sprechen ist, das in diesem Roman aber von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und auch informativ in die Handlung eingebaut wird, ohne diese zu erdrücken.

«Natürlich haben wir miteinander gesprochen – wie man eben miteinander spricht, wenn man zusammen in einer Schule, aber nicht befreundet ist. Über Noten und Lehrer. Aber darüber, nein, darüber haben wir nicht gesprochen.»  «Wenn ihr euch zusammengetan hättet, hättet ihr ihn fertigmachen können», sagte Nora. Ihre Mutter schwieg. «Wenn wir uns nicht so geschämt hätten, es auszusprechen», sagte sie dann. Voreinander. Jede eine Zeugin der anderen.

Noras Mutter teilt ein Erlebnis, wie es leider vielfach vorkommt und verschwiegen wird, durch Druck und Scham bleiben Täter oft unentdeckt und ganz häufig passiert es quasi vor den Augen der Eltern und Lehrer. Nein, das ist eigentlich keine Thematik, über die man an einem heißen Sommernachmittag lesen möchte. Doch, es ist eine Thematik, über die geschrieben und gesprochen werden muss, um den Opfern eine Stimme zu geben und den Danebenstehenden die Augen für das zu öffnen, was sie sehen können, wenn es schon nichts zu hören gibt. Gerade unter diesem Gesichtspunkt finde ich es hilfreich, wenn Literatur sich solcher Themen annimmt; sie erlaubt es, sie als Fiktion ein Stück weit von einem zu schieben, über die Empathie, die man mit den Figuren empfindet, aber auch ein Verständnis für die Not und die Dringlichkeit zu entwickeln – und vielleicht auch dem einen oder anderen Betroffenen Mut zu schenken.

Wunderbare, eigensinnige Figuren bringen die Handlung voran. Es sind die Introvertierten und oft Unscheinbaren, die hier Großes bewegen. Dabei begleitet einem die Autorin auf einer emotional hohen Welle, die einem jedoch gemächlich wieder in sichere Gewässer leitet. Vielschichtig und tiefgründig, dabei sprachlich auf den Punkt und federleicht. Und was bleibt am Ende: die Hoffnung, dass es immer genügend Menschen mit (vielleicht nicht ganz so viel krimineller) Energie, Kreativität und vor allem Mut gibt.