Sophie Jai – Wild Fires

Sophie Jai – Wild Fires

It is the death of her cousin Chevy that brings Cassandra from London back to Toronto where her family is based after having left Trinidad. But she not only returns to the funeral but to a whole history of her family that suddenly pops up again. Stories she had forgotten but now remembers, things which have always been unsaid despite that fact that everybody knew them and secrets that now surface in the big house in Florence Street where the tension is growing day by day. The sisters and aunts find themselves in an exceptional emotional state that cracks open unhealed wounds which add to the ones that have come with the death of Chevy.

Sophie Jai was herself born in Trinidad just like her protagonist and grew up in Toronto, “Wild Fires” is her first novel and was published in 2021. It centres around a family in grief, but also a family between two countries and also between the past and the present and things that have never been addressed between the members. Having been away for some time allows Cassandra a role a bit of an outsider and she sees things of her family she has never understood.

The author wonderfully interweaves the present story of the family gathering at the Toronto home to mourn the loss and Cassandra’s childhood recollections and well-known family stories. Thus, we get to know the deceased and his role in the family web. Like Chevy’s story, also the aspects that link but also separate the generations of sisters are uncovered thus exposing long avoided conflicts.

The novel raises the questions if you can ever flee from the family bonds and how to deal with what happened in the past and has never openly be spoken out loud and discussed. Sophie Jai finds the perfect words to express the nuances in the atmosphere and paces the plot according to the characters’ increasingly conflicting mood.

I liked how the characters and their story unfolds, yet, I would have preferred a more accelerated pace and at the beginning, I struggled to understand the connection between them which was a bit confusing.

Anar Ali – Nacht der Bestimmung

Anar Ali – Nacht der Bestimmung

1998 in Calgary. Es ist Lailat al-Qadr, die Nacht der Bestimmung, die wichtigste Nacht im Ramadan, welche Layla selbstverständlich in ihrer ismailitischen Gemeinde feiern möchte. Ihr Mann Mansoor wird sie wie immer nicht begleiten, Religion ist für ihn nur Aberglaube und außerdem muss er sich um das Geschäft kümmern. Auch ihr Sohn Ashif wird nicht mitkommen, obwohl er just an diesem Tag aus Toronto gekommen ist. Es ist – wieder einmal – die entscheidende Nacht, die ihr Leben grundlegend verändern wird. Wie auch bereits in der Vergangenheit. Aber dieses Mal sind die Konflikte zwischen Vater und Sohn auf dem Höhepunkt und die Entscheidung, ob sich Ashif endlich wird befreien können oder ob Mansoor ihn, wie es sich für einen ordentlichen Sohn gehört, an das gemeinsame Geschäft wird binden können, steht unmittelbar bevor.

„Nacht der Bestimmung“ ist der erste Roman der kanadischen Autorin Anar Ali, die für ihre Kurzgeschichtensammlung bereits auf der Shortlist für mehrere renommierte Literaturpreise stand. Es ist die Geschichte einer Familie, die quer über den Globus immer wieder in der Ferne – mal freiwillig, mal unfreiwillig – das Glück sucht. Egal wie viele Kilometer jedoch zwischen altem und neuem Wohnort liegen, die Geister der Vergangenheit können sie nicht loswerden.

Layla und Mansoor sind, von indischen und kenianischen Familien abstammend, aus Uganda nach Europa geflüchtet, bevor sie Anfang der 1970er in Kanada landen. Auch wenn Mansoor sich als fortschrittlich ansieht, ist er doch so stark durch die gnadenlose und harte Erziehung seines eigenen Vaters geprägt, dass er dessen Stimme immer noch drohend im Hinterkopf hat. Egal wie sehr er sich auch bemüht, beruflich Fuß zu fassen ist schwierig, vor allem, da er das Dasein als Angestellter verachtet und nur Unternehmertum als angemessen ansieht. Dafür muss dann eben auch die ganze Familie Einschnitte in Kauf nehmen.

Sein Sohn soll es besser haben, weshalb er ihn ebenfalls streng erzieht und auf eine gute Bildung Wert legt. Irgendwann werden sie gemeinsam die Wäscherei führen und dies auf hübschen Visitenkarten sichtbar machen. Doch Ashif hat andere Träume, die schönen Künste und Literatur faszinieren ihn schon als Teenager. Vor allem jedoch will er nicht wie der Vater werden, der nicht aus seiner Haut kann und in seiner Verzweiflung auch die eigene Ehefrau verprügelt – ein Verhalten, was über Generationen weitergegeben und von den Söhnen beobachtet wurde und sie als Erwachsene gleichermaßen handelt lässt. Ashif will den Fluch brechen, doch auch er trägt in sich, was Jahrhunderte zuvor in die Gene geschrieben wurde.

Layla ist eine tüchtige und clevere Frau. Sie kennt ihren Platz in der Welt ihres Mannes und hat sich arrangiert; er muss nicht alles wissen, nach Jahrzehnten der Ehe haben sie sich ohnehin auseinandergelebt, kaum mehr etwas zueinander zu sagen und leben nur noch nebeneinander. Stumm und stoisch erträgt sie das Schicksal, denn sie lässt sich von ihrem Glauben leiten, der ihre Rolle als Gattin klar definiert. Ein Ausbruch ist nicht vorgesehen, nur das Schicksal kann ihre Gebete erhören und sie befreien.

Alle Mitglieder der Familie sind gefangen in ihren Vorstellungen und den engen Mauern, die sie selbst gezogen haben. Sie glauben von größeren Kräften bestimmt zu sein und versuchen gar nicht erst, die Mauern einzureißen und sich zu befreien. So warten sie, bis der Tag kommt, an dem ihnen den Ausweg ermöglicht, denn selbst sind sie dazu nicht in der Lage.

Die Autorin erzählt von einem schicksalhaften Tag im Leben der Familie, die Rückblenden erlauben ihre Zuspitzung hin zu diesem Moment nachzuvollziehen und die Charakterentwicklung zu verfolgen. Intergenerationale Konflikte, die Suche nach der eigenen Identität in einem neuen Land mit dem Gepäck der Vergangenheit, aber auch die Angst vor dem eigenen Mut – elegant verpackt Anar Ali diese in eine dramatische Geschichte.

Felicity Ward – Sag mir, wer ich bin

Felicity Ward – Sag mir, wer ich bin

Es war nicht einfach für die 16-jährige Sally ihre Eltern davon zu überzeugen, sie statt in die Schweiz nach Paris zu schicken. Kaum angekommen wird sie übel zugerichtet an der Gare Lazare gefunden und kämpft im Krankenhaus ums Überleben. Sie wurde von einem Mann entführt, misshandelt und beinahe vergewaltigt. Aber das kann sie ihren Eltern nicht erzählen, auch ihre Erinnerungen an ihren Peiniger und das, was genau geschehen ist, sind eher diffus, weshalb sie schweigt. Viele Jahre lang, doch die Angst begleitet sie, auch wieder zu Hause in Montreal. Auf der Straße, in Aufzügen, überall fürchtet sie sich. Eine Beziehung mit einem Mann – unvorstellbar. Ihr Job bei einer Hilfsorganisation für Frauen in Not verstärkt ihre Überzeugung, dass alle Männer gewalttätig sind zudem. Erst ihrem Patenonkel gelingt es Jahre später, dass sie über das Erlebte sprechen kann, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie ihre Angst auch loswird, denn die Gefahr bleibt: will der Mann das zu Ende bringen, was er Jahre zuvor begonnen hatte?

Wenn ein Roman von einem Vorwort begleitet werden, frage ich mich meist, ob es dem Autor oder der Autorin nicht gelungen ist, das, was er oder sie sagen wollte, in der Geschichte zu verarbeiten, so dass zusätzliche Erklärungen erforderlich werden. Im Falle von Felicity Wards Roman sieht dies jedoch anders aus. Bevor man sich auf Sallys schreckliche Erlebnisse einlässt, wird das Trauma psychologisch eingeordnet und auch das schwierige Verhältnis der französisch- und englischsprachigen Kanadier miteinander historisch eingeordnet. Beides ist zum Verständnis unterstützend hilfreich, vor allem Sallys Zustand, der ihre Mitmenschen schier verzweifeln lässt, ist nicht einfach nachzuvollziehen, wenn man sich mit posttraumatischen Belastungsstörungen nicht auseinandergesetzt hat. Dies ist das zentrale Element der Geschichte: der Körper heilt, die Spuren des Überfalls sind bald schon nicht mehr zu sehen, aber die Wunden auf der Seele schließen sich nicht.

Man wünscht sich nichts mehr, als dass die junge Frau sich von den Dämonen, die sie immer wieder heimsuchen, befreien kann. Es sind die kleinen Details, die die Autorin überzeugend eingefangen hat, die Hinweise darauf geben, dass Sally nichts überwunden, nichts verarbeitet hat. Ihr ganzes Leben wird akribisch um das Trauma eingerichtet. Nie als erste im Restaurant sein, nie alleine mit einem Mann in einem Auto sitzen. Sie versucht zwar hin und wieder eine Konfrontation, aber professionelle Hilfe lehnt sie ab und so verfestigt sich ihr schlechter Zustand zusehends, den sie –  für die Außenwelt etwas beschönigt – versucht zu verstecken. Die Geduld, die ihr Patenonkel aufbringt, ist unglaublich, und auch er verfällt der Illusion, irgendetwas dauerhaft zum Besseren verändern zu können.

Das Verhältnis der sich wenig positiv gesinnten Bevölkerungsgruppen Kanadas, die sich durch Sprache und Religion unterscheiden, wird immer wieder gestreift. Tief verwurzelte Vorurteile, absurdeste Zuschreibungen – man kann kaum glauben, wie borniert die Menschen sein konnten – und auch vielfach heute, fast 50 Jahre nach dem Zeitpunkt der Handlung – noch sind.

Ein eindrücklicher Roman, der sicherlich nicht für jedermann eine passende Lektüre ist. Hervorragend gelingt es Felicity Ward, die Folgen – und auch Ursachen, die sich erst viel später erklären – eines traumatischen Erlebnisses zu schildern und nachvollziehbar zu verdeutlichen, weshalb eine Rückkehr in das normale Leben bisweilen eben nicht möglich ist. Trotz, oder gerade wegen, der Schwere der Thematik eine uneingeschränkte Leseempfehlung.

Martin Michaud – Aus dem Schatten des Vergessens

Martin Michaud – Aus dem Schatten des Vergessens

Nur wenige Tage vor Weihnachten wird Judith Harper, angesehene Psychologin Montreals, auf brutale Weise ermordet. Zeitgleich verschwindet der Anwalt Nathan Lawson, jedoch nicht ohne noch eine alte Akte aus den Archiven holen und diese ebenfalls verschwinden zu lassen. Der Selbstmord eines Obdachlosen, der die Brieftaschen der beiden bei sich trug, wirft weitere Fragen auf. Sergent-Détective Victor Lessard und seiner Kollegin Jacinthe Taillon stehen keine ruhigen Feiertage bevor, denn der Fall liefert viele Spuren, die jedoch nicht zu einem stimmigen Bild führen. Bald schon werden auch scheinbar abstruse Ideen wie eine Verbindung zur Ermordung Kennedys verfolgt, das einzige, dessen sich die Ermittler sicher sind, ist, dass da draußen jemand Rache nimmt und es immer weitere Opfer zu beklagen gibt, die grausam hingerichtet werden.

In Deutschland als Band 1 der Serie um Victor Lessard geführt, ist „Aus dem Schatten des Vergessens“ von Martin Michaud tatsächlich schon der dritte Teil um den kanadischen Ermittler, es wird auch immer wieder auf vorausgegangene Ereignisse Bezug genommen, der Roman lässt sich jedoch auch ohne Kenntnis dieser problemlos lesen. Das Ermittlerduo bietet einen interessanten Kontrast, so richtig gut harmonieren der etwas sucht-geneigte Lessard, der permanent gegen seine inneren Dämonen ankämpfen muss, und die ruppige, scheinbar wenig empathische Taillon nicht miteinander. Gerade die beiden sehr verschiedenen Haltungsweisen und Perspektiven machen sie jedoch zu einem erfolgreichen Team.

Viele Opfer, eine grausame Mordmethode und unzählige Spuren und Hinweise lassen den Fall schnell zu einer hochkomplexen Angelegenheit werden. So manches Mal strauchelte ich auch dabei, alles im Blick zu behalten und die Querverbindungen zu überschauen. Eingeschobene Ereignisse aus der Vergangenheit werfen zusätzliche Fragen auf und sind lange Zeit nicht wirklich deutbar. Trotz der Länge von fast 650 Seiten bleibt der Thriller durchgängig spannend und wird am Ende überzeugend gelöst. Das Privatleben Lessards nimmt durchaus einen relevanten Teil der Handlung ein, was jedoch gut gelungen ist, da der Protagonist so authentisch und vielschichtig wirkt.

Mich hat der Roman neugierig auf die anderen Bände gemacht, Michauds Schreibweise und Konstruktion sind überzeugend. Weitere Bände sind auf Deutsch angekündigt, jedoch nicht die mit zahlreichen Preisen ausgezeichneten Vorgänger, die man dann wohl auf Französisch lesen muss.

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Sie finden ihn schwerverletzt unter seinem Auto liegend, die Beine eingeklemmt. Obwohl die Situation schwierig ist, will man dem Besucher helfen. Die Veterinärin kümmert sich um die Wunden und der alte Matthias, dem etwas abseits des Dorfes eine Hütte zugewiesen wurde, soll sich um seine Pflege kümmern. Schon länger haben sie keinen Strom mehr, der Winter naht und der Schnee steigt täglich höher. Es herrscht Endzeitstimmung, abgeschieden von der Außenwelt, mit langsam zur Neige gehenden Lebensmittelvorräten, sieht sich die kleine Gemeinschaft den Naturgewalten ausgeliefert. Die beiden ungleichen Männer ertragen derweil ihr Schicksal tapfer. Beide wortkarg beäugen sie sich zunächst stumm, bis sie langsam Vertrauen fassen auf den wenigen Quadratmetern, die sie miteinander teilen.

Christian Guay-Poliquin schildert zwar ein gänzlich anders geartetes Szenario in der kanadischen Provinz, es könnte aber kaum besser in die Welt passen, die man im Jahr 2020 erlebt. Zwar sind die Menschen nicht von der Außenwelt abgeschnitten und haben auch Strom und zahlreiche Kommunikationsmittel, aber das gemeinsam ans Haus gefesselt sein, die Schwierigkeit, einander aushalten zu müssen und nicht zu wissen, wann und ob sich die Situation entspannen wird, teilt die Fiktion mit der Realität. Mit dem steigenden Gewicht des Schnees, der anfangs nur kniehoch liegt, dann aber dramatische und bedrohliche Dimensionen annimmt, steigt auch der Druck auf die Menschen, die einerseits in der Krise voneinander abhängig sind, gleichzeitig aber auch feindseliger und egoistischer werden.

Dem Autor gelingt es mit einer einerseits sehr klaren und präzisen, andererseits aber auch hochpoetischen Sprache die Emotionen, die selten offenkundig gezeigt werden, einzufangen. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Langsamkeit der Zeit, Langeweile durch das Eingesperrt sein und im Falle des Erzählers zudem der Immobilität werden immer wieder deutlich spürbar. Einzig das Feuer im Kamin versprüht bisweilen eine gewisse Wärme, ansonsten herrschen Kälte und unbarmherzige Natur. Aber auch die Menschen offenbaren ihre grausamen Seiten.

Die Kapitel – zunächst irritierend, da der Roman mit „Neununddreissig“ beginnt, was sich aber rasch erklärt – werden von der Ikarus-Sage eingerahmt, die in sieben Teilen untergliedert ist. Es beginnt im Labyrinth und der Leser ist gewarnt, dass zu viel Übermut das Leben kosten kann.

Eine sehr dichte Erzählung, deren reduzierte Handlung und Schauplatz beinahe zu erdrücken drohen, der jedoch zugleich wie eine Hommage an die Natur und den kanadischen Winter wirkt.

Margaret Atwood – Die Zeuginnen

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Margaret Atwood – Die Zeuginnen

Fünfzehn Jahre nach dem ungewissen Ende von Desfred ist in Gilead wieder Ordnung eingekehrt. Doch immer noch wirkt das Ereignis nach, denn die Suche nach der Tochter Desfreds ist aktiv wie eh und je. Man vermutet sie in Kanada, wo sie bei Mitgliedern der Geheimorganisation Mayday untergekommen sein könnte. In Gilead folgen die Dinge derweil dem regulären Gang, junge Mädchen werden zu Ehefrauen oder Mägden, einige, wie Agnes und Becka stellen die nächste Generation der Tanten. Die Richterinnen, Ärztinnen und andere Frauen, die einst glaubten, sich ihrer natürlichen Pflicht entziehen zu können und dann erkennen mussten, dass die göttliche Ordnung Gileads nur zu ihrem Vorteil ist und dass sie es sind, die dafür sorgen müssen, dass der weibliche Teil der Bevölkerung dies auch versteht, führen die Mädchen und Frauen mit eiserner Hand. Doch es gibt einen Maulwurf, das System wird von innen heraus bedroht und wird dieses Mal einen herben Schlag erleben.

Fast 35 Jahre sind vergangen seit Margaret Atwood ihre feministische Dystopie „Der Report der Magd“/„The Handmaid’s Tale“ veröffentlichte und damit DAS Werk des Genres geschaffen hat. Vor allem das offene Ende hat viele Leser*innen etwas unzufrieden das Buch zuklappen lassen. Mit „Die Zeuginnen“/ „The Testaments“ wird diese Lücke nun geschlossen. Erzählt wird im Wechsel aus drei Perspektiven: Desfreds Tochter Agnes, die in Gilead adoptiert wurde und nun auf die Ehe vorbereitet werden soll; Daisy, die aus Gilead geschmuggelt wurde und in Kanada aufwuchs und Tante Lydia, die einst eine unabhängige Richterin war, sich dann aber ergeben hat und Gilead in seinen Grundzügen mit aufbaute.

Ist die Atmosphäre im Report der Magd geprägt von düsterner Aussichtslosigkeit, hat man bei den Zeuginnen viel mehr den Eindruck, dass es den Frauen gelingt, sich zu emanzipieren und das System für ihre Zwecke zu nutzen und zu unterwandern. Auch wenn es Figuren gibt, die den Glauben an die schlechte Natur der Frau verinnerlicht haben und sich durch und durch als Sünderinnen begreifen, wird nun ein Gegenpol aufgebaut, der Hoffnung gibt.

Die Stärke des ersten Bandes lag unter anderem darin, dass man die enge Perspektive Desfreds einnehmen musste als Leser, dass man unmittelbar ihre Erfahrungen teilte und keinen Überblick über das große Ganze hatte. Dies trug maßgeblich zu dem unbehaglichen Gefühl bei, das einem bei der Lektüre begleitete. Dieser Faktor fehlt nun, zwar wird vieles etwas klarer, aber dafür opfert Atwood ein Stück der Empathie, die man für die Figuren empfinden könnte. Durch die Aufteilung auf drei verschiedene Sichtweisen wird auch die Bindung nicht in dem Maße aufgebaut, wie es bei Desfred war und vieles an Gilead verliert seinen Schrecken. Es gibt zwar wieder furchtbare Vorkommnisse – Vergewaltigung, Missbrauch, Mord und deren Bestrafung ist nicht minder grausam – aber alles wird mit einem Schritt mehr Abstand betrachtet.

„Die Zeuginnen“ punktet auf einer anderen Ebene: man hat mehr Einblick in die Strukturen Gileads und auch wie diese unterwandert werden. Und trotz aller Fiktion sind wiederum auch Parallelen zu unserer Realität auszumachen. Wenn es für mich auch nicht an das große Werk Atwoods heranreicht, dennoch ein überzeugender und lesenswerter Roman, der keineswegs zu spät kam, sondern im Gegenteil heute bitter nötig war denn je.

Ann Lambert – The Birds That Stay

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Ann Lambert – The Birds That Stay

In a small place north of Montreal, an old lady is found dead, strangled and frozen outside. Who would ever do such a thing to a woman of more than eighty years? Not far from the scene of crime Marie cares about her mother Claire who is suffering from Alzheimer’s. It’s time to move her to a home where better care can be taken of her. When her mother sees the report of the murder in the newspaper, she refers to old Mrs Newman as Mrs Kovak and is convinced that the victim is her former neighbour. Just the talk of a demented woman or a memory that will reveal a lot about the case and the motive of the murderer?

Ann Lambert’s novel takes quite an interesting turn that I didn’t expect at all. To a murder case she adds a bit of Canadian history that is not often heard of, one of those things people prefer to forget about because it is embarrassing. What I appreciated most was how the author managed in her debut to intertwine different plot lines that at first seem to be totally independent without any connection.

It is mainly two aspects that made me ponder while reading the novel. First of all, I had never heard of the Canadian position towards European refugees after WW II and most certainly didn’t I ever connect the country with the idea of being a refuge for Nazi collaborators. Second, the novel provides an interesting study of human nature, Tomas/Ennis is seemingly lacking any kind of compassion and willing to do everything to get what he deserves in his opinion. Both of them linked inevitably lead to the question if there is something “running in the blood” – the father part of the most atrocious crimes of the 20th century and the son likewise ruthless? Apart from the plot, I liked Lambert’s style of writing a lot and I am looking forward to reading more from her.

Margaret Atwood – The Robber Bride

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Margaret Atwood – The Robber Bride

Die Freundinnen Roz, Charis und Tony trauen ihren Augen nicht: die Frau, die gerade das Restaurant betritt, in dem sie ihr monatliches gemeinsames Essen haben, ist doch tot. Sie waren sogar bei ihrer Beerdigung! Aber Zenia, ihre ehemalige Kommilitonin, ist quicklebendig, was nichts Gutes bedeuten kann. Alle drei haben sie ihre Erfahrungen mit der charismatischen Frau gemacht, sind von ihr belogen und betrogen worden und haben alles, was ihnen wertvoll und wichtig war, verloren. Doch wer ist Zenia überhaupt und wo hat sie in den vergangenen Jahren gesteckt?

Margaret Atwoods Roman „The Robber Bride“ wurde bereits 1993 zum ersten Mal veröffentlicht. Es ist eine Geschichte von Verrat, Vertrauensmissbrauch und Hinterlist – aber diese Eigenschaften können nur wirken, wenn ein anderer gutgläubig, vertrauensselig und naiv ist. Die drei Freundinnen werden erst zum Trio durch die gemeinsamen Erlebnisse. Die Erkenntnis, dass sie alle drei auf Zenia hereingefallen sind und ihre Leichtgläubigkeit gnadenlos ausgenutzt wurde, eint sie im finalen Kampf gegen die hinterlistige und gefährliche Frau.

Der Roman beginnt am Ende mit der unerwarteten Begegnung, bevor er in Flashbacks erzählt, was zum Teil Jahrzehnte zuvor geschah. Vieles ist eigentlich recht vorhersehbar, die Manipulationen sind nicht besonders raffiniert, dennoch wirken sie, weil sie im richtigen Moment die richtige Stelle treffen. Menschen können noch so intelligent sein, sie haben ihre verletzlichen Momente und verletzlichen Seiten, die sie anfällig für Betrüger macht.

Margaret Atwood greift einmal mehr auf die urmenschliche Blindheit zurück in ihrer Erzählung. Man sieht nur, was man sehen möchte und verschließt die Augen vor dem Offenkundigen, auch wenn es sich direkt vor einem abspielt. Die drei Frauen lassen sich manipulieren und rennen offenen Augens in ihr Verderben. Man hat nur begrenzt Mitleid mit ihnen, dabei sind sie Zenias Opfer – diese ist durch und durch böse und bietet eigentlich keinen Raum für Sympathien.

Nachdem ich aktuelle Werke von Atwood gelesen hatte, die mich schnell überzeugen konnten, nun etwas älteres und die Erkenntnis, dass es sich lohnt, auch diese näher zu betrachten.

Anaïs Barbeau-Lavalette – Suzanne

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Anaïs Barbeau-Lavalette – Suzanne

Anaïs sieht ihre Großmutter nur einmal als Kind, als diese sie heimlich besuchen kommt und wieder davonschleicht. Jahre später wird sie sie mit ihrer Mutter nochmals aufsuchen, doch die Ablehnung der alten Frau ist deutlich und grausam. Sie will Tochter und Enkelin nie mehr sehen. Erst als Suzanne stirbt, wird Anaïs wieder ihre Wohnung betreten, dieses Mal entschlossen herauszufinden, wer diese Frau war. Suzanne Meloche wird 1926 in eine französischsprachige Familie im englischsprachigen Ottawa als eines von unzähligen Kindern geboren. Das Geld ist knapp, ebenso die Zuneigung der Eltern. Früh schon flieht sie aus dem Haus und schließt sich einer Gruppe von Malern, Bildhauern, Dichtern und Schauspielern an, entschlossen, die Welt zu verändern. Doch auch dort bleibt sie Außenseiterin und so wird sie ihr Leben lang auf der Flucht und der Suche sein, nach ihrem Platz.

Anaïs Barbeau-Lavalette zeichnet das Bild einer nicht nur einsamen, sondern auch immer gehetzten Frau nach. Niemand scheint Suzanne das geben zu können, was sie braucht. Die Mutter verwehrt ihr die Zuneigung, nach der sie sich sehnt. Das Klavier im elterlichen Haus, das eine magische Anziehung auf sie ausübt und das sie so gerne zum Erklingen gebracht hätte, bleibt für sie ein Tabu. Die Faszination, die die Freigeister und Künstler auf sie ausüben, ist leicht nachvollziehbar, jetzt scheint das Leben möglich, von dem sie so lange geträumt hat. Doch der Alltag holt sie ein, der Lebensunterhalt muss finanziert werden, bald auch schon die erste Tochter und die Zeit ist noch nicht reif für fortschrittliche Gedanken.

Suzanne irrt durch die Welt, nachdem sie ihre Kinder und den Mann verlassen hat. Doch weder in Europa noch bei den Rassekämpfen in den USA kann sie das finden, was sie sucht. Sie bleibt ihr Leben lang eine Frau auf der Flucht. Erst 1980 werden ihre Gedichte unter dem Titel Aurores fulminantes veröffentlicht, nachdem die Künstlergruppe Automatistes sich schon längst aufgelöst hat und ihr jedes Interesse an öffentlichem Ruhm fehlt. Der Originaltitel der Biographie „La femme qui fuit“ ist deutlich aussagekräftiger als nur der Vorname wie in der deutschen Ausgabe. Insgesamt ein lesenswerter Bericht über das Leben einer von der Geschichte vergessenen Frau.