Percival Everett – Erschütterung

Percival Everett – Erschütterung

Zach Wells arbeitet als Paläontologe an einem kalifornischen College und kann völlig in der Welt der Gesteine versinken. Ähnlich faszinierend ist für ihn nur seine 12-jährige Tochter Sarah, die ihn regelmäßig im Schach spielen schlägt. Als Sarah Sehschwierigkeiten äußert, denken sich die Eltern nicht viel, eine Brille und das Problem ist aus der Welt. Doch dann müssen sie erfahren, dass das Mädchen an einem neurodegenerativen Syndrom leidet. Zach und seine Frau Meg können nicht gut mit der raschen Verschlimmerung umgehen, statt bei seiner Frau zu sein, flüchtet sich Zack nach New Mexico. Wenn er seiner Tochter nicht helfen kann, dann vielleicht wem anders.

Der amerikanische Autor und Professor für Englische Literatur Percival Everett veröffentlicht seit fast 40 Jahren Romane und Kurzgeschichten, für die er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde. „Erschütterung“ stand 2021 auf der Finalliste des Pulitzer Prize in der Kategorie Fiction. Bei meiner Recherche zu dem mir bis dato unbekannten Autor bin ich auf ein Kuriosum zu diesem Buch gestoßen: es wurde in den USA mit drei verschiedenen Enden der Geschichte veröffentlicht, auch die drei Cover sind dezent unterschiedlich. Man kann seine Haltung exzentrisch nennen, wenn er sagt, dass er denkt, der Leser solle die Autorität darüber haben, was ein Buch zum ihm sagt, nicht der Autor, denn jeder Leser liest etwas Anderes in einer Geschichte. Warum also nicht gleich drei verschiedene Versionen anbieten?

Im Zentrum der Handlung steht Zach und die Erschütterung, die er und seine Frau durch die Diagnose erhalten. Sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen, sind sich nicht einige, ob sie Sarah überhaupt davon berichten sollen, immerhin scheint das Mädchen die Anfälle gar nicht selbst zu bemerken. Dem eigenen Kind beim zunehmenden Verlust von Geist und Körper zuzusehen, geht an ihre Substanz und so entfernen sich Zach und Meg immer weiter voneinander und jeder sucht seinen eigenen Umgang mit etwas, mit dem es keinen guten Umgang geben kann.

Währenddessen geht das Leben außerhalb des Nukleus der Familie jedoch weiter und Zach sieht sich mit unterschiedlichen Herausforderungen der Campus-Politik konfrontiert, mit denen er sich auch sonst schon nicht beschäftigen will. Auch die mysteriöse Nachricht, die er in einer gekauften Jacke findet, beschäftigt ihn, obwohl er den Zettel mit dem vermeintlichen Hilferuf auch einfach hätte entsorgen und vergessen können.

Ein Aspekt des Romans fand ich ungewöhnlich und doch sehr clever integriert. Nebenbei wird an einer Stelle erwähnt, dass Zach Schwarzer sei, was mich zunächst irritierte, da dies für die Handlung zu diesem Zeitpunkt gänzlich irrelevant war und ich daran keinen Gedanken verschwendet hatte. Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass diese Information in den Erlebnissen und Erfahrungen Zachs durchaus eine Rolle spielt, der Autor macht es aber nicht zu einem Problem, das gelöst werden muss, oder lässt Zach aufgrund dieser Tatsache in Selbstmitleid versinken oder sich gar radikalisieren. Völlig geräuschlos steht dieses Faktum im Raum, bis sich die Blicke zum ihm hinwenden und dann auch wieder wegrichten. Ein sehr interessanter Umgang mit einem Thema, dass literarisch in den letzten Jahren durchaus relevant und vielfach bespielt wurde, aber nicht auf diese Weise.

Ein vielschichtiger Roman, der in der Tat sehr unterschiedlichen Lesern sehr viel bietet, worauf man fokussieren kann. Sein amerikanischer Verleger sagte in einem Interview über Percival Everett, dass er ein Autor sei, der immer wieder entdeckt und jedes Mal aufs Neue die Frage gestellt werde, weshalb er nicht bekannter sei. Das frage ich mich allerdings auch.

Dashka Slater – The 57 Bus

Dashka Slater – The 57 Bus

Oakland, Kalifornien, ist die Heimatstadt zweier sehr verschiedener Jugendlicher. Richard wächst als African-American unter schwierigen Verhältnissen auf und besucht eine Schule, die für Gewalt und geringe Abschlussquoten bekannt ist. Früh schon kommt er in Konflikt mit dem Gesetz, erlebt wie Freunde getötet werden und muss selbst in Jugendarrest. Sasha hingegen besucht eine tolerante Privatschule, wo man seine Identität als transqueer oder agender genauso problemlos akzeptiert wie sein Faible für Röcke und das präferierte Personalpronomen „they“ anstatt die binären „he“/“she“. Eigentlich haben die beiden kaum eine Chance sich zu begegnen, nur kurz teilen die Kinder der beiden Schule den Schulbus und dort geschieht es: Richard und seine Freunde albern rum während Sasha schläft. Was als Spaß beginnt, endet in einer Tragödie: das Spiel mit dem Feuer wird ernst, als Sashas Rock in Flammen aufgeht und der Teenager mit ihm.

Dashak Slaters Buch basiert auf einer wahren Begebenheit, die sie ursprünglich nur für einen Artikel der New York Times niedergeschrieben hatte. Es ist die Geschichte eines schrecklichen Verbrechens, ein Drama, aber auch einer Stadt, in der Chancen ungleich verteilt sind, wo das Leben diesen oder jenen Weg nehmen kann, je nachdem, in welchem Stadtteil man lebt und welche Schule man besucht. Auch wenn der zentrale Aspekt des Buchs der Anschlag auf Sasha ist, werden doch viel mehr Fragen aufgerissen, allen voran die Geschlechtsidentität und das Hadern mit den gängigen Definitionen und Erwartungen, die Gang-Kultur und der Umgang mit kriminellen Jugendlichen, nicht zuletzt die Frage, ob man Vergeben kann und über genügen Empathie verfügt, auch die andere Seite zu verstehen.

Der Roman passt nicht so richtig in ein Genre, basierend auf Tatsachen merkt man den journalistischen Hintergrund, der mit zahlreichen Daten und Fakten immer wieder die Ereignisse untermauert. Es wird nicht die große Emotionalität geweckt, was bei der Thematik sicherlich auch denkbar gewesen wäre, stattdessen wählt die Autorin den Weg beiden Seiten gleichermaßen eine Stimme zu verleihen, was ihr hervorragend gelingt und womit sie zeigt, dass auch der Dualismus von gut/böse oftmals der Realität nicht gerecht wird.

Es ist ein Jugendbuch – die Übersetzung ist für den diesjährigen Jugendliteraturbuchpreis nominiert –bietet aber auch für Erwachsene nicht nur Unterhaltung, sondern mit der Elternperspektive, die immer wieder auch präsentiert wird, ebenso interessante Aspekte, vor allem im Umgang mit einem autistischen Kind, das sich zudem als genderfluid sieht. Ein großartiger Roman, der vielschichtig eine komplexe Situation in Literatur umsetzt.

Chris Cander – Das Gewicht eines Pianos

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Chris Cander – Das Gewicht eines Pianos

Es ist das Klavier des deutschen Nachbarn, das die kleine Katya in ihrer russischen Heimat jede Nacht fasziniert. Sie lauscht den Sonaten und Préludes und der unendlichen Traurigkeit, die von der Musik ausgeht. Der Besitzer spürt die Verbindung des Mädchens zu dem Instrument und so erbt sie es nach seinem Tod. Die Musik wird ihre Leidenschaft, eine, die sogar größer ist als die Liebe zu ihrem Mann Mihail, für den sie ihre Heimat verlässt, um in den USA ein besseres Leben zu finden. Doch dort erwartet sie nichts. Das Piano musste sie zurücklassen und ohne Musik ist ihr Leben leer und kalt. Auch ihr Sohn Grisha kann das nicht ändern. Claras Leben ist ebenfalls von Traurigkeit bestimmt, früh schon hat sie ihre Eltern verloren, das einzige, was ihr als Erinnerung geblieben ist, ist ein Piano, das offenbar nicht nur die Töne, sondern die auch die Gefühle vieler Jahrzehnte und unzähliger Pianisten in sich trägt.

Die amerikanische Autorin Christ Cander, deren vorherige Werke bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden, hat viel Lob für ihren Roman erhalten, immer wieder wird die Intensität hervorgehoben, mit der sie die Rolle der Musik für ihre Figuren beschreibt. Dies war es auch, was mich am meisten begeistern konnte, obwohl mir jede Musikalität fehlt.

Die Geschichten von Katya und Clara laufen lange Zeit parallel. Es ist schnell klar, dass das Piano das verbindende Element zwischen den beiden ist, wie genau die Beziehung jedoch aussieht, löst sich erst spät auf. Unabhängig von der bildstarken Beschreibung des Klavierspiels und den Melodien vor allem der russischen Komponisten wie Alexander Skrjabin oder Peter Tschaikowksi, hat mich die Autorin mit ihren beiden Frauenfiguren gepackt. Einerseits das russische Mädchen, das ganz in der Musik aufgeht und später zur erwachsenen Frau heranreift, die nur wenig ihrem herrischen und brutalen Ehemann entgegenzusetzen hat. Metaphorisch lässt Cander ihren Sohn über sie sagen, dass Katya in Kalifornien zu Eis wurde, trotz der andauernden Hitze. Innerlich erstarrt ist die mächtige Naturgewalt im Death Valley und dem Coffin Peak die Nachaußenkehrung ihres Daseins.  Auf der anderen Seite Clara, die nicht nur keine Familie mehr hat, sondern auch ansonsten allein und planlos im Leben umherirrt. Für sie ist die Begegnung mit Greg der Moment des Loslösens von den Erinnerungen an die Zeit vor dem Tod ihrer Eltern und das Loslassen, das ihr letztlich erlaubt, ihr Leben zu beginnen.

Sicherlich sind weite Teile der Handlung vorhersehbar und die Figuren recht reduziert auf wenige Charakterzüge. Aber dies wird durch die poetische Beschreibung, mit der Cander der Musik Leben einhaucht, locker aufgewogen.

Ein herzlicher Dank geht an HarperCollinsGermany für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Verlagsseite.

Maya Angelou – I Know Why the Caged Bird Sings

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Maya Angelou – I Know Why the Caged Bird Sings

Marguerite und ihr älterer Bruder Bailey werden schon als kleine Kinder von den Eltern weggeschickt und wachsen bei der Großmutter und dem behinderten Onkel in Arkansas auf. Die ländliche Gegend ist geprägt vom Rassismus gegenüber den Schwarzen, davor schützt auch der relative Reichtum der Großmutter nicht und schon in jungen Jahren müssen die beiden Geschwister lernen, dass sie in diesem Land nur Menschen zweiter Klasse sind. Unerwartet können sie die lieblose Zuflucht bei der Großmutter beenden und wieder zu ihrer Mutter, die Marguerite wegen ihrer Schönheit immer bewundert, ziehen. Dort jedoch wird das Mädchen vom Freund der Mutter vergewaltigt und soll vor Gericht aussagen. Zu sehr eingeschüchtert kommt es so nur zu einer geringen Strafe des Mannes, der jedoch unmittelbar nach dem Urteil der Selbstjustiz zum Opfer fällt. Auch als Jugendliche wird das Leben nicht einfacher, zwar entwickelt sich Marguerite nach einer Phase des Verstummens ob der grausamen Erlebnisse zu einer belesenen und intelligenten jungen Frau, aber weiterhin begleiten Rassismus und offener Hass auch innerhalb der Familie ihren Weg. Verwirrt von ihren Gefühlen glaubt sie schließlich lesbisch zu werden; um dieses abzuwenden, bittet sie einen Nachbarsjungen sie zu entjungfern, was prompt in der Schwangerschaft des Teenagers endet.

Maya Angelou, geboren 1928 und eines der Gesichter des Civil Rights Movements, verarbeitet in dem Roman ihre Erlebnisse als Kind und Jugendliche. „I Know Why the Caged Bird Sings“ ist der erste von sieben Bänden ihrer Autobiographie und steht repräsentativ für das Leben vieler Schwarzer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie war mit Martin Luther King ebenso befreundet wie mit Malcolm X und wurde Anfang der 1980er Jahre zu einer der ersten schwarzen Frauen mit einer Professur.

Der Titel ist einem Gedicht von Paul Laurence Dunbar entnommen, das beschreibt, wie der verletzte Vogel sich dennoch in seinem Käfig auflehnt und nach Freiheit begehrt; sein Schrei ist nicht einer der Freude, sondern ein Gebet an den Himmel geschickt und aus tiefstem Herzen kommend. So wie der Vogel ist auch die junge Marguerite gefangen in einer Gesellschaft, die ihr nicht die Möglichkeiten gibt, von denen sie träumt, sondern brutal immer wieder vorführt, welche Rolle man für sie vorgesehen hat. Angelou lässt nichts aus an Hass und Gewalt, die das Mädchen miterleben muss. Auch die Folgen dieser Erlebnisse, wie etwa das Verstummen des Mädchens für mehrere Jahre, werden sehr deutlich nachgezeichnet. So wie sie im wahrsten Sinne des Wortes ihre Stimme wiedererlangt, wird sie auch zu einer Stimme für die Unterdrückten werden und ein Leben lang ihren Kampf für Gerechtigkeit kämpfen.

Leider steht Maya Angelou meist im Schatten Harper Lees und Toni Morrisons, wenn es um weibliche Stimmen im Kampf gegen den Rassismus in den USA geht. Völlig zu Unrecht, denn die Tatsache, dass ihre Romane autobiographischer Natur sind verleihen ihnen noch mehr Aussagekraft. Auch sprachlich kann sie mit ihrem direkten und in diesem Roman noch etwas naiven Stil überzeugen, trifft sie doch genau den Ton der jungen Marguerite, die ihren Platz im Leben erst noch finden muss.

Jean-Philippe Blondel – Zweiundzwanzig

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Jean-Philippe Blondel – Zweiundzwanzig

1986. Mit gerade einmal zweiundzwanzig hat der Erzähler schon den Glauben ans Leben verloren. Vier Jahre zuvor sind seine Mutter und sein Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen und nun ereilt dieses Schicksal auch seinen Vater. Was kann man da noch erwarten? Eine kleine Erbschaft ermöglicht es ihm, Frankreich hinter sich zu lassen und sein einziges Ziel im Leben anzusteuern: Morro Bay in Kalifornien, besungen in einem Lied von Lloyd Cole. Seine Ex-Freundin Laure und sein bester Freund Samuel begleiten ihn auf dem Roadtrip durch den Westen der USA. Von San Francisco aus über die Wüste und Las Vegas bis nach Mexico und schließlich zum Zielort nördlich von Los Angeles. Doch was soll er an diesem Ort?

Jean-Philippe Blondel hat sich das Schicksal seines Erzählers nicht ausgedacht, es ist seine eigene Geschichte, die er erst mit über 20 Jahren Abstand zu Papier bringen kann. Es ist aber nicht nur ein Reisebericht eines ungewöhnlichen Trips, sondern auch die Verarbeitung seiner Erinnerungen an die Kindheit, an Episoden mit Mutter und Bruder und die Trauer nach deren Unfall. Erinnerungen an seinen Vater, den das Ereignis völlig gebrochen hat. Auch die Freundschaft und Liebe zu Laure und Samuel muss neu geordnet werden und findet auf dieser Reise sowohl Ende wie auch Neuanfang. Es ist keine erleuchtende Tour, die durch eine göttliche oder sonstwie geartete Eingebung plötzlich den Lebensmut zurückbringt und alles gut macht. Viel mehr bringt sie die Erkenntnis, dass Flucht ebenfalls keine Lösung ist und dass er selbst sein Leben gestalten muss.

Ein Coming-of-Age Roman, der gar kein echter Roman ist. Auch wenn ich den Bericht und die Gedanken interessant fand und es leicht ist, dem Autor Blondel zu folgen, so ist er für mich in seinen echten Romanen doch sprachlich stärker und eindrucksvoller als hier.