Frédéric Valin – In kleinen Städten

frederic-valin-in-kleinen-städten
Frédéric Valin – In kleinen Städten

In den deutschen Kleinstädten ist die Welt noch in Ordnung – sollte man denken. Jeder kennt jeden, jeder hilft jedem in der Not. Doch ist das wirklich so? Frédéric Valin berichtet aus der Provinz, aus dem künstlich geschaffenen Dorf für diejenigen, die niemand sehen möchte, weil sie alt oder behindert sind. Von dem kleinen Urlaubsort, der eigentlich gar nichts zu bieten hat, außer Bettenburgen und Alkohol. Vom Heimatort, den der Erzähler nur noch besucht, wenn wieder einmal eine Beerdigung ansteht. Von der Oberbürgermeisterwahl, die die Lokalzeitung als Event aufziehen will und damit beinahe die sorgsam gepflegte Kleinstadtordnung durcheinanderwirbelt. Und von den hippen Städtern, die in die Provinz flüchten, wo sie sich Erfüllung vom eigenen Gärtchen erhoffen.

Frédéric Valin hat in seinem kurzen Sammelband ziemlich genau porträtiert, was die deutsche Provinz ausmacht und so ist es nicht schwer, vieles darin wiederzuerkennen. Auch wenn der Blick auf das gelenkt wird, was nicht so ansprechend und attraktiv ist, ist es doch keine Abrechnung mit dem pseudo-idyllischen Landleben und den Menschen, die diesen Ort der hektischen Großstadt vorziehen. Es ist auch weniger die Generalisierung als das Individuum, das er in jeder Geschichte erschafft, das überzeugen kann.

Mir haben drei der Geschichten besonders imponiert. Schon die erste, die aus der Sicht eines Pflegers einer Einrichtung für Hilfsbedürftige und Behinderte geschrieben ist, hinterlässt ihre Spuren:

„Als ich das erste Mal hier herausfuhr, zu meinem Bewerbungsgespräch, dachte ich noch, was es für eine mittelalterliche Idee ist, tausend Alten und geistig Behinderten ein Dorf mitten im Nirgendwo zu bauen, als könne man sie der normalen Welt nicht zumuten. Heute weiß ich, dass es andersrum ist: Die normale Welt ist unzumutbar.”

Hier geht es weniger um die Kleinstadt als um die Zustände in unserer Gesellschaft und wie wir mit Alten und Kranken umgehen. Wenn er von den „FLW-Gruppen: Füttern, lagern, windeln“ spricht, muss man sich eigentlich empören – oder man verschließt die Augen, weil man es ja eigentlich weiß´, aber nicht wahrhaben will, wie die Zustände insbesondere in der Pflege sind.

Der Sohn, der anlässlich einer Beerdigung nach Hause fährt und seine Mutter nicht wiedererkennt, die offenbar die Rolle der nur-Mutter abgelegt hat und wieder ein eigenständiges Wesen mit Interessen und Talenten wurde, fand ich ebenfalls interessant. Insbesondere, weil diese Feststellung so unverhofft und unerwartet kam und die Geschichte nicht in der trüben Stimmung endet, in der sie mit der Todesnachricht eingeläutet wurde.

Mein Favorit ist jedoch eindeutig „Der Oberbürgermeister“. Der Kleinstadtfilz – nicht, dass es diesen in größeren Städten nicht auch geben würde – wird auf den Punkt literarisch umgesetzt und könnte authentischer kaum sein. Herrlich, was Valin dem noch amtierenden OB als Ratschlag an seinen designierten Nachfolger in den Mund legt:

»Schau, es ist so: Du kannst doch nicht Bürgermeister sein und gleichzeitig in wilder Ehe leben! Wie sähe das denn aus. Der Pfarrer war ja schon gestern kaum zu beruhigen. Der wollte sogar eine Predigt zu dem Thema halten. Eine Predigt! Wie sähe das denn aus, frag ich dich.«

Natürlich gibt es die Kleingeister und so manches, was man belächeln kann. Aber darum geht es nicht. Valin hat das Leben eingefangen und in überzeugenden Dialogen und mit pointiert charakterisierten Figuren aufs Papier gebracht.