Raffaella Romagnolo – Das Flirren der Dinge

Raffaella Romagnolo – Das Flirren der Dinge

Antonio Casagrande wächst in einem Genueser Waisenhaus auf. Bald schon wird er zwölf, womit er das Heim wird verlassen müssen. Doch dann geschieht noch das unerwartete: der Fotograf Alessandro Pavia wählt ihn als seinen Assistenten aus und das, obwohl der Junge auf einem Auge nichts sehen kann. Es liegen Jahre des Lernens vor ihm und kaum erwachsen, muss er wieder auf eigenen Beinen stehen in einem Italien, dessen Zukunft Ende des 19. Jahrhunderts ungewiss ist. Doch Antonio weiß aus der Not eine Tugend zu machen und erkennt bald auch, dass sein Auge mit einer Gabe kam, die Segen und Fluch zugleich ist.

Schon mit „Dieses ganze Leben“ konnte mich die italienische Autorin Raffaella Romagnolo begeistern. In „Das Flirren der Dinge“ macht sie wieder einen Außenseiter zum Helden ihrer Geschichte und lässt diesen trotz aller Widrigkeiten und Gegen jede Vorhersehung zu einem erfüllten Leben kommen. Daneben rückt sie die Fotokunst in den Fokus und beschreibt geradezu poetisch das, was Antonio durch die Linse sieht, wie er die Welt komprimiert und geschärft wahrnimmt und ihr so eine eigene Perspektive verleiht.

Es ist natürlich das ungewöhnliche Leben ihres Protagonisten, der clever und mit Blick für das Wesentliche sein Leben zu gestalten weiß, das den essenziellen Teil der Handlung ausmacht. Seine Geschichte jedoch wird überzeugend verwoben mit den politischen Entwicklungen Norditaliens der Zeit. Antonio wird Zeuge und dokumentiert die Ereignisse als Fotojournalist der ersten Stunde. Die Bilder und wie sie Welt festhalten sind entsprechend immer wieder auch Thema. Die Autorin beleuchtet nicht nur die Möglichkeiten, die Realität abzubilden, sondern bringt auch zum Ausdruck, welche Macht sie haben und welche Wirkung sie beim Betrachter auslösen.

Der historische Roman verfängt durch die bildhafte Sprache, die, gerade weil Bilder zentral für die Handlung sind, ganz hervorragend das transportiert, was die Figuren erleben und empfinden.

Alena Schröder – Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Alena Schröder – Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Hannah hat nur noch ihre Oma Evelyn, die mit 95 Jahren ihre letzten Tage im Seniorenheim erlebt. Als sie dort eines Tages einen Brief findet, ist sie mehr als erstaunt: eine Kanzlei will sich um die Restitution des in der Nazi-Zeit gestohlenen Kunstschatzes der Familie kümmern. Hannah wusste gar nicht, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Hatte sie auch nicht, Evelyns Mutter hatte ihre Tochter einst bei der Schwägerin zurückgelassen, um in Berlin ein neues Leben zu beginnen und dort in die jüdische Kunsthändler-Familie Goldmann eingeheiratet. Zwischen Mutter und Tochter war der Riss nie mehr zu kitten und Evelyn wollte für immer alle Bände zerschnitten wissen, weshalb Hannah sich nun alleine auf die Suche nach der unbekannten Familiengeschichte macht.

Alena Schröder hat lange Zeit als Journalistin gearbeitet und nebenbei bereits eine Reihe von Sachbüchern und die Reihe der „Benni-Mama“ veröffentlicht. In ihrem Roman mit dem sperrigen Titel „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ greift sie ein bekanntes Sujet auf, das auch recht klassisch erzählt wird: die unbekannte Familiengeschichte aus der Nazi-Zeit, die im Wechsel mit der Gegenwartshandlung und der Enkelgeneration geschildert wird, wo man sich dem Mysterium der eigenen Vergangenheit annähert. Die Autorin setzt dies sehr ansprechend und routiniert um, ein Roman, den man gerne liest und der auch durchaus spannende Momente zu bieten hat.

Die Frauen der Familie sind ohne Frage alle auf ihre Weise eigenwillig. Zunächst Senta, die von dem schillernden Leben in Berlin träumt, dafür Sicherheit und Tochter aufgibt, aber in den schwersten Stunden pragmatisch und beherzt handelt. Leider ist es ihr nie gelungen, sich der Tochter zu vermitteln, nicht nur, weil Evelyn quasi keine Erinnerung an sie hat, viel mehr noch weil das schwere Zepter der bösartigen Tante sie zu sehr geprägt hat als dass sie als erwachsene Frau großzügig vergeben könnte. Die Erfahrungen als Kind haben sie hart gegen sich und andere werden lassen. Dass dies keine guten Voraussetzungen sind, um selbst eine zugewandte, liebende Mutter zu werden, war absehbar und so bleibt auch die Beziehung zwischen ihr und Silvia immer etwas unterkühlt, wenn sie auch zur Stelle ist, wenn sie gebraucht wird. Hannah hat ihre Mutter früh verloren, zu der Großmutter jedoch eine enge Verbindung, wenn diese auch an ihrem Lebensabend störrisch und unkooperativ bleibt. Der jungen Frau fehlt jedoch noch das Ziel im Leben, die Promotion plätschert vor sich hin, die Affäre mit ihrem Doktorvater ist auch eher einseitig und wenig zukunftsträchtig.

Der Handlungsstrang um die jüdische Familie Goldmann erzählt die Geschichte, wie es sie hundertfach gab. Zunehmende Restriktionen unter den Nazis, Publikationsverbot für Senta und ihren Mann in ihrem Verlag und letztlich die Enteignung und Deportation. Ein leider recht typisches Schicksal, das die nachfolgenden Generationen, sofern es sie denn gibt, mühsam aufarbeiten müssen.

Ein Roman über die unergründlichen Wege, die das Leben manchmal nimmt und die Gabelungen, die zu Entscheidungen mit ungewissem Ausgang zwingen.

Benjamin Monferat – Der Turm der Welt

Rezension, historischer Roman, Paris, Weltausstellung
Paris will sein Ansehen zurück und mit der großen Weltausstellung 1889 wird dies auch gelingen. Nur noch wenige Tage sind die Tore der großen Exposition geöffnet, zu deren Ehren Gustav Eiffel seinen Stahlturm konstruierte. Albertine de Rocquefort wird mit ihrer Tochter Mélanie in die Stadt zurückkehren, das Mädchen soll zwar Stress meiden, ist aber inzwischen alt genug, um in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Nummer zwei der britischen Thronfolge, der etwas unstete Eddie, muss ebenfalls die Reise in die französische Metropole antreten, um in der Heimat einen Skandal zu verhindern, sehr zum Leidwesen seiner Bewacher ändert der Ortswechsel jedoch nichts an seinem Verhalten. Auch das Deutsche Reich hat eine Gesandtschaft geschickt, unter ihnen der junge und noch unerfahrene Friedrich von Straten, der jedoch auch in ganz persönlicher Mission unterwegs ist. Während die Welt auf den krönenden Abschluss wartet, sind allerdings Mächte am Werk, die den Zauber des Moments für ihre Zwecke nutzen möchten, um Rache zu nehmen und sich ein Denkmal zu setzen.
700 Seiten komplexe Handlung in wenigen Sätze zusammenzufassen ist schlichtweg unmöglich. Benjamin Monferat hat unzählige Handlungsstränge, die sich in rascher Abfolge abwechseln, geschickt miteinander verwoben und einen nicht ganz typischen historischen Roman geschaffen. Das historische Ereignis der Pariser Weltausstellung bietet den Rahmen und wird immer wieder Schauplatz der Handlung, deren Figuren jedoch weitgehend fiktiv sind und sich so frei von historischem Ballast entfalten können. Die einzelnen Erzählstränge bieten alles, was man als Leser von historischen Romanen, aber auch Krimis, erwarten könnte: geheime Schwärmereien, Intrigen, Komplotte, Vertuschung, lange gehütete Familiengeheimnisse – und dazu die wundersamen Erfindungen, die das 20. Jahrhundert eingeläutet haben.
Die Anzahl der Seiten könnten abschrecken, doch durch die kurzen Kapitel und das dadurch entstehende hohe Tempo fliegen sie nur so dahin. Die zunächst nur lose verbundenen Handlungsstränge werden zunehmend miteinander verwoben und am Ende sauber und logisch aufgelöst – Chapeau! Bei der Menge an Figuren, Schauplätzen und Nebenerzählungen zu einem überzeugenden Abschluss zu kommen, gelingt nicht jedem Autor. Auch die einzelnen Charaktere mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Motiven bieten viel Abwechslung und sie sind allesamt überzeugend konstruiert.
Fazit: ich fühlte mich bestens unterhalten im Paris des Jahre 1889.

Emanuel Bergmann – Der Trick

Ein bei einem Zirkusbesuch verzauberter Junge im Prag der 30er Jahre. Ein von der Scheidung seiner Eltern niedergeschlagener Junge in Los Angeles des Jahres 2007. Zwei hoffnungsvolle, junge Menschen, die auf das Gute in der Welt warten und ihr Schicksal in die Hand nehmen. Mosche Goldhirsch schließt sich dem Zirkus an und avanciert trotz jüdischer Herkunft zum erfolgreichen Metalisten, dem „Großen Zabbatini“. Max Cohn stößt viele Jahre später auf eine Schallplatte des Zauberers, auf der er einen Liebeszauber erklärt. Da die Platte kaputt ist, muss Max den alten Mann, der inzwischen in den USA lebt, wohl oder übel aufsuchen, um zu erfahren, wie er die Ehe seiner Eltern wieder retten kann.

Emanuel Bergmann hat eine wundervolle Geschichte vor der historischen Kulisse des Nationalsozialismus geschrieben. Das Leben und Zaubern des jungen Mosche entsteht vor dem inneren Auge und beschönigt nicht, wie sich die Realität der Schausteller in den 30er Jahren darstellte. Auch Mosches Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben wird geschickt und doch schicksalsschaffend verwoben. Genauso interessant ist die Perspektive des jungen Max, der ebenfalls unerschrocken dem Leben gegenübertritt und aktiv wird, um den Lauf der Dinge zu ändern. Das alles mit einer überzeugenden Ausdruckskraft und herrlichen Dialogen erzählt, wurde die Lektüre zu einem einzigen Genuss und der etwas kitschige Schluss kann verziehen werden.

Kate Mosse – Die Achte Karte (Hörbuch)

Ende des 19. Jahrhunderts in Paris. Der junge Anatole genießt das Leben und die Liebe, doch tritt er damit Victor Constant auf die Füße, der Rache schwört. Mit seiner Schwester Léonie flüchtet er ins Languedoc zu einer verwitweten Tante. Dort gerät Léonie in den Bann des von ihrem Onkel ausgelösten Tarot-Dämons. Hundert Jahre später ist die Amerikanerin Meredith auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren und auch sie wird durch die Tarotkarten in ein Spiel um Leben und Tod gezogen.

Kate Mosse verbindet auch hier – ähnlich wie in „Das verlorene Labyrinth“ – eine gegenwärtige Handlung mit einer sagenumwobenen historischen Geschichte, wieder in Südfrankreich. Da fängt für mich auch schon das Problem an: es ist alles irgendwie bekannt und der Reiz war etwas weg. Hinzukommt, dass die Geschichte um Léonie deutliche Längen hat und Meredith jetzt auch nicht gerade Sympathieträgerin war, so dass spätestens ab Stunde 7 das Hörbuch mehr zur Qual als zu Genuss wurde. Besonders nervig auch die Sprecherin, immer wieder kommen französische Einwürfe in einer dermaßen grottigen Aussprache, dass es einem als Hörer physische Schmerzen bereitet. Leider insgesamt eher enttäuschend.
**/5 Sterne 

Rose Tremain – Adieu, Sir Merivel

In ihrem historischen Roman begleitet Rose Tremain die letzten  Jahre von Sir Merivel. Als erfolgreicher Arzt in der Gunst des englischen Königs stehend bewohnt er mit seiner Tochter Bidnold Manor. Als die junge Frau einer Einladung von Freundinnen folgend nach Cornwall aufbricht, beschließt Sir Merivel, auf Auslandsreise nach Frankreich zu gehen. Mit einem Empfehlungsschreiben von König Charles ausgestattet erwartet er ein schönes Leben in Versailles und wird schwer enttäuscht. Der einzige Lichtblick seiner Zeit bei den Franzosen ist die Bekanntschaft mit der Schweizerin Louise, deren eifersüchtiger Ehemann Merivel jedoch beim Leben bedroht und dessen Rückkehr nach England beschleunigt. Dort findet er seine Tochter dem Tod nahe und auch der König ist in schlechtem Zustand. Über diese Unglücke vergisst er Louise beinahe und erst Monate später, nachdem seine Lieben ins Leben zurückgekehrt sind, macht er sich auf die Reise in die Schweiz, wo er auf ein spätes Liebesglück hoffen kann. Doch das Leben erspart ihm keine Sorge und bald schon muss er wieder in Königreich heimkehren – der König liegt im Sterben.

Rose Tremain gelingt es, das 17. Jahrhundert zum Leben zu erwecken. Sir Merivel ist facettenreich gezeichnet mit all seinen Sorgen, Bedenken, aber auch naturwissenschaftlichen Interessen und somit ein gelungener Protagonist, dem das Leben nicht immer Wohl gesonnen ist. Auch eine gewisse Spannung bleibt durch die Schicksalsschläge nicht aus. Ein leichter Roman, der leider ein wenig Tiefe vermissen lässt, dies jedoch in angenehm überzeugendem Tom wettmachen kann.

****/5