
Die Ich-Erzählerin leidet und Angststörungen, die sie zunehmend lähmen und an die Wohnung fesseln. Auch schreiben kann die Autorin kaum mehr. Als sie in einer Zeitung auf die Todesanzeige Wjatscheslaw Lypynskyjs stößt, einen vergessenen ukrainischen Volkshelden, mit dem sie kaum etwas gemein hat, ist sie auf unerklärliche Weise fasziniert und ihr wird Interesse geweckt. Sie beginnt zu forschen und zeichnet das Leben des Adelsspross nach, der von der Gründung eines ukrainischen Staates träumte und der dafür bereit war, sehr viel zu opfern.
Es gibt Romane, deren Erscheinung man wahrnimmt, sie unter „merken zum irgendwann lesen“ abspeichert und dann doch langsam vergisst. „Blauwal der Erinnerung“ war so ein Buch für mich. Im Zuge der aktuellen politischen Entwicklungen und einem Interview mit Tanja Maljartschuk bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden und war von Wjatscheslaw Lypynskyj ebenso beeindruckt wie die Erzählerin. Der ukrainischen Autorin und Journalistin gelingt es, einem sofort für den idealistischen Mann zu begeistern und mit ihm auf den steinigen Weg zu seinem großen Ziel zu gehen. Nicht nur als Roman unterhaltsam, sondern auch gerade vor dem Hintergrund der Kriegshandlungen und der Diskussion um das Existenzrecht des Staates ein sehr erhellendes Buch, das ich nur unbedingt empfehlen kann.
Lypynskyj wird 1882 als Sohn einer polnischen Adelsfamilie in der heutigen Ukraine geboren. Das Land, dessen Sprache und Existenz er sein Leben verschreibt, existiert damals noch nicht. Polen und das russische Zarenreich teilen sich das Gebiet, die Sprache wird als bäuerlicher Dialekt angesehen, keineswegs den beiden Hochsprachen gleichgestellt und bald sogar in Russland verboten. Eigentlich will er in Krakau Argrawissenschaften studieren, doch Geschichte und Literatur interessieren den jungen Mann mit schwacher Gesundheit viel mehr. Er wird zum politischen Aktivisten, findet in Polen und später auch in Wien mutige Mitstreiter, während seine Familie sich von seinen absurden Hirngespinsten abwendet, auch seine Frau hält es nur wenige Jahre an seiner Seite aus.
„Folklore und die Liebe zu Alltagsantiquitäten waren das Einzige, dessen sich das Ukrainertum des Jahres 1903 rühmen konnte. Aufgeteilt zwischen zwei Großmächten erinnerte es immer mehr an eine mit Staub überzogene Dekoration, die keiner brauchte.“
Eng verwoben mit der Lebensgeschichte des Idealisten ist die Entstehung der Ukraine. Zunächst der Ukrainischen Volksrepublik, die für wenige Monate nach dem Ersten Weltkrieg ausgerufen und doch bald schon in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken eingegliedert wird. Erst mit dem Mauerfall konnte die seit dem 19. Jahrhundert bestehende Nationalbewegung einen eigenen Staat und Anerkennung ihrer Identität als Nation realisieren. Es lässt sich einiges an historischen Begründungen, die aktuell als vermeintliche Argumente für die Invasion angeführt werden, nicht unbedingt nachvollziehen, aber einordnen. Der Gedanke an den unabhängigen Staat, der Lypynskyj trotz schwerer Tuberkulose am Leben hielt und dazu brachte, weit über seine Kräfte hinauszuwachsen, glaubt man aktuell bei ganz vielen seiner Nachfahren gleichermaßen erkennen zu können.
„Man muss kein Hellseher sein, um offensichtliche Dinge vorauszusagen, die seit Langem durch die Geschichte vorherbestimmt sind. Die Ukrainer – zerrissen zwischen Kaiser und Zar – befinden sich in einer Situation, in der sie sich entweder aufgeben und als Volk verschwinden oder sich erheben müssen.“
Unabhängig von der Aktualität und Relevanz besticht der Roman durch eine geschickte Verwebung der beiden Handlungsstränge und vor allem durch die Figurenzeichnung und die pointierte Darstellung der gesellschaftlichen sowie politischen Strömungen, denen sich der vergessene Volksheld gegenüber sah.