Peter Mohlin/Peter Nyström – Der andere Sohn

Peter Mohlin/Peter Nyström – Der andere Sohn

Nach einem gefährlichen Einsatz gegen ein Drogenkartell muss John Adderley durch das FBI-Zeugenschutzprogramm eine neue Identität erhalten. Er bittet darum, nach Schweden versetzt zu werden, das Land, in dem er die ersten 12 Jahre seines Lebens verbracht hat. Widerstrebend stimmen seine Vorgesetzten zu, da sonst der Prozess platzen würde. Es ist jedoch keine Nostalgie, die ihn zurücktreibt, seine Mutter bittet um seine Hilfe. 10 Jahre zuvor wurde sein Halbbruder des Mordes an der Erbin eines Klamottenimperiums beschuldigt, aus Mangel an Beweisen jedoch wieder freigelassen. Nun wird der Fall erneut aufgerollt und die Mutter fürchtet, dass es wieder keine fairen Ermittlungen gibt. John wird in das Ermittlungsteam eingeschleust und kann bald nicht nur die Leiche finden, sondern auch nachweisen, dass es Manipulationen bei den Ermittlungen gab. Offenbar sitzt der Täter in den Reihen der Polizisten.

Das Autorenteam Mohlin/Nyström kennt sich bereits seit Kindheitstagen und hat mit „Der andere Sohn“ nun zum ersten Mal gemeinsam einen Kriminalroman verfasst, den Auftakt einer Reihe, die in der schwedischen Stadt Karlstad angesiedelt ist. Die Geschichte liefert genau das, was man von skandinavischer Spannungsliteratur gewohnt ist: eine sauber gestrickte, komplexe Handlung, die jedoch auch Raum lässt, um einen Blick in die Gesellschaft und kulturellen Eigenheiten zu gewähren.  Der Protagonist John nimmt dabei eine interessante Zwischenposition ein: weitgehend in den USA sozialisiert und beruflich durch die Arbeit beim FBI geprägt, spricht er zwar die Sprache seiner neuen Kollegen, hadert jedoch mit so mancher Eigentümlichkeit, an die er sich nur schwer gewöhnen kann.

Was geschah mit Emelie in der Nacht vor 10 Jahren? Und wo ist die Leiche der jungen Frau? Nach einer Party wollte sie noch einen mysteriösen Mann treffen, doch ihre Spur verliert sich, das letzte Lebenszeichen ist eine große Menge Blut an einem Felsen, ganz in der Nähe finden sich Spermaspuren, die zu Johns Halbbruder führen. Doch dieser leugnet die Tat und auch die junge Frau gekannt zu haben. Sobald John sich näher mit ihr befasst, zeigt sich, dass die Studentin zwei ganz unterschiedliche Seiten hatte, die offenbar zu ihrem Verhängnis wurden. Als John die Manipulationen am Beweismaterial entdeckt, nimmt die Handlung nicht nur eine Wende, sondern auch das Tempo ordentlich Fahrt auf. Und immer muss der Ermittler auch damit rechnen, dass seine wahre Identität entdeckt wird, was ihn das Leben kosten könnte.

Ein überzeugender Auftakt, auch wenn der Anfang mit John Vorgeschichte in Baltimore etwas ausführlich war und nicht in unmittelbarem Zusammenhang zum Cold Case steht. Jedoch scheint dies in den Folgebänden wieder relevant zu werden. Der Fall bietet einige überraschende Wendungen, die durch akribische Polizeiarbeit und nicht durch bloßen Zufall ausgelöst werden. Die Spannung wird gelegentlich durch kleine interkulturelle Missverständnisse – Gott bewahre: Küchendienst für den ehemaligen FBI–Ermittler und viel zu kleine Autos mit Gangschaltung– unterbrochen, die zur Abwechslung auch zum Schmunzeln einladen.

Ayad Akhtar – Homeland Elegien

Ayad Akhtar – Homeland Elegien

Elegie, die – ein sehnsuchtsvolles Klagelied, das ist es, was Ayad Akhtar auf sein Heimatland USA schreibt. Als Kind pakistanischer Eltern in Amerika geboren und aufgewachsen, sieht er sich zunehmend damit konfrontiert, als Ausländer wahrgenommen zu werden und als ungläubiger Muslim für radikale Islamisten sprechen zu sollen. Die gesellschaftliche Spaltung erlebt er auch in seiner Familie, das einst mit offenen Armen empfangende Einwandererland grenzt immer mehr aus und selbst diejenigen, die schon Jahrzehnte im Land sind und sich eine Existenz aufgebaut haben, beginnen zu zweifeln. Das Land ist tief gespalten, wie auch die Familie des Erzählers, deren Geschichte er erzählt, wobei sich offenbar Fakt und Fiktion locker vermischen, eine eindeutige Antwort auf diese Frage, was wahr und was erdacht ist, bleibt der Autor nämlich schuldig.

Ayad Akhtar ist kein Unbekannter, 2013 erhielt er den Pulitzer Preis für sein Bühnenstück „Disgraced“, in welchem er ebenfalls einen innerlich zerrissenen Charakter in den Mittelpunkt stellt. Sein aktuelles Buch, irgendwo zwischen Memoiren und Roman anzusiedeln, greift die Thematik wieder auf und gibt einen Einblick in die Gedanken- und Erlebniswelt der zweiten Generation von Einwanderern, deren Welt durch die globalen Ereignisse in nachhaltiger Weise erschüttert wird.

Vielfach verläuft der Riss, den der Autor im Land wahrnimmt, auch zwischen ihm selbst und seinem Vater. Jener erfolgreiche Arzt, der den amerikanischen Traum verwirklicht hat und dessen Sohn sich den schönen, aber brotlosen Künsten verschrieben hat. Der Vater 2016 als glühender Anhänger Donald Trumps, seinem einstigen Patienten, der Sohn, der sich derweil um die väterliche mentale Gesundheit sorgt. Aber auch die Entwicklungen mit Mittleren Osten bleiben nicht unbemerkt: die Radikalisierung der Verwandten, deren Abwendung von den USA, die sie nach ihrem Empfinden im Stich gelassen und das Land im Chaos zurückgelassen haben, fordert den Familienfrieden heraus und führen schließlich zur Erkenntnis:

„Wir Muslime lebten in einem christlichen Land, so sahen wir es, jedenfalls in den Familien, die ich kannte. Wir lebten in einem christlichen Land, aber wir verstanden das Christentum nicht. Wir verstanden und respektierten es nicht.“

Viele Jahre des Zusammenlebens haben zu immer mehr Entfremdung geführt, zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen, aber auch in den Betroffenen selbst. Der ansteigende Rassismus und offene Ablehnung tragen ihren Teil bei.

Ganz unterschiedliche Aspekte greift Akhtar auf, mal persönlicher, mal essayistischer. Sein Denken ist uramerikanisch, leicht kann er sich mit den großen Denkern identifizieren, gehört damit aber immer mehr einer intellektuellen Minderheit an. Seit 9/11 allerdings ist für ihn der Traum ein Stück weit ausgeträumt, er wird nie ankommen in seinem Heimatland, das sich von ihm entfremdet und dessen großer Verheißung er nachtrauert.

Kurz vor den Wahlen eine schmerzhafte Analyse des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten, was jedoch immer auch die Möglichkeit des grandiosen Scheiterns eingeschlossen hat.

Teju Cole – Every Day is for the Thief [Jeder Tag gehört dem Dieb]

Teju Cole – Every Day is for the Thief

Nach 15 Jahren in den USA kehrt ein namenloser Erzähler zurück in seine nigerianische Heimat. Zwischen Familientreffen und Kindheitserinnerungen erkundet er das Land, das er einst verlassen hat, da es ihm keine Zukunft zu bieten schien. Doch was er sieht, ist ernüchternd. Korruption allerorts, die Lebensverhältnisse kritisch wie eh und je, Gefahren lauern auf den Straßen ebenso wie Zuhause, Aberglaube und Vorurteile zwischen den unterschiedlichen Stämmen sind ebenso präsent wie religiöse Beteuerungen, die die Bewohner davon abhalten, ernsthafte Veränderungen anzustoßen. Schon bald hat er für sich eine eindeutige Antwort auf die Frage, ob er sich eine Rückkehr vorstellen kann, gefunden.

Auch meine vierte literarische Reise nach Nigeria in diesem Jahr ist eine Mischung aus Faszination und Schrecken. Auch wenn Teju Coles Roman bereits 13 Jahre alt ist, bleibt doch anzunehmen, dass vieles, von dem er schreibt, auch heute noch genauso Gültigkeit besitzt. Auch wenn der Text als Fiktion klassifiziert ist, erinnert er doch mehr an ein Tagebuch und ist vermutlich auch als solches entstanden. Was es jedoch ganz sicher ist, ist das Porträt einer Stadt, eines Landes in einem deplorablen Zustand, egal wie amüsant so manche geschilderte Begebenheit ist, führt man sich vor Augen, dass die der reale Alltag vieler Menschen ist, bleibt einem das Lachen im Hals stecken.

Jeder kennt die E-Mails, in denen ein Nigerianer einem um eine finanzielle Unterstützung bittet für welche im Umkehrschluss eine große Summe überwiesen wird. Man denkt ja immer, dass irgendein Computerbod sie schreibt, nein, der Erzähler sieht in einem Internetcafé genau jene Menschen, die hinter diesem Betrug stecken und tausende Mails pro Tag verfassen – wobei sie unter einem Schild sitzen, das genau jenes deutlich verbietet. Bei Flugzeugabstürzen vermutet man eher Gottes Wille als fehlende Überwachung und ordentliche Wartung – dies befreit nicht nur von notwendigen Taten, sondern stellt auch die Bevölkerung gleich wieder ruhig. Eine Busfahrt ist eine Hochrisikounternehmung, von der jeder mit einem Funken Verstand und Minimum an Geld absieht.

Ein neuer Ausweis: ein Beamter hält die Hand auf. Ein Verkehrsvergehen: ein Polizist hält die Hand auf. Dazu Jugendbanden, die ebenfalls einfach dafür, dass sie einem nicht umbringen, Geld erpressen. In Musikläden sind CDs nicht verkäuflich, gegen eine überschaubare Summe kann man dort jedoch Raubkopien erwerben. Es ist keine Welt, die er mehr kennt und besonders schmerzt ihn, dass er auch in den Museen kaum etwas über die Geschichte und Kultur des Landes sehen kann, sondern in quasi allen Ausstellungen weltweit mehr nigerianisches Kulturgut präsentiert bekommt als in Lagos.

„Religion, corruption, happiness.“ Mit diesen drei Begriffen fasst Cole schließlich seine Erfahrung zusammen, die das Land jedoch genau dahin bringen, wo es steht. Übermächtige Prediger, die die Wahrheit verblenden; Korruption in allen Bereichen des Lebens wird als quasi Gott gegeben akzeptiert und eine Kultur, in der jeder zwanghaft glücklich sein muss, was jede Chance auf Konfrontation mit dem wahren Zustand verhindert.

Ein sehr empfehlenswerter Bericht, der nicht nur inhaltlich interessant, sondern auch noch in angenehmen Plauderton verfasst ist und Einblick in die Gedankenwelt des Erzählers gibt, der sowohl Teil dieser Welt ist, aber diese auch mit einem gewissen Abstand einordnen und kommentieren kann.

Helena Adler – Die Infantin trägt den Scheitel links

Helena Adler – Die Infantin trägt den Scheitel links

Sie ist das jüngste Kind auf dem Bauernhof, was jedoch nicht bedeutet, dass sie alles hinnimmt, was die Zwillingsschwestern und Eltern von ihr erwarten. Sie hat ihren eigenen Kopf und widersetzt sich schon als Kleinkind. Im Dorf hat sie schnell ihren Ruf weg und auch die Großmutter warnte eindringlich davor, sie aus dem Auge zu lassen. Brutal und bösartig ist das Leben am Rande eines Berges, wo statt Idyll viel mehr mit Bigotterie und Aufrechterhaltung des schönen Scheins versucht wird, die Wahrheit zu verschleiern.

So absurd der Titel und kurios das Cover, so grotesk ist auch die Geschichte des Heranwachsens, die Helena Adler erzählt. Es ist die Umkehrung des seit Jahren anhaltenden Trends zum Idyllisieren des Landlebens, wie es in Zeitschriften wie „Landlust“ und unzähligen DIY und Koch- bzw. Gemüse-Anbau-Sendungen angepriesen wird. Es ist die realisierte Hölle auf Erden mit einem starken Mädchen als Hausherrin.

Der Roman, der auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, versetzt einem im steten Wechsel mal in puren Zorn, um sogleich wieder in abstruse Komik überzugehen. Bei der jungen Erzählerin steht zunächst noch das ewig dauernde Kampf mit den Schwestern im Vordergrund:

„Ein anderes Mal erzählen sie mir davon, dass ich als Baby wochenlang von der Muttersau gestillt wurde, weil man ohne Muttermilch nicht überlebt und die Mutter auf Kur war, um sich von meiner Höllengeburt zu erholen.“

Familie ist alles, egal wie sehr man einander verabscheut. Und zu den entsprechenden Gelegenheiten wird getan, was getan werden muss. Glücklich scheint niemand zu sein, das wurde aber auch nie versprochen. Mit herrlich pointierter Sprache setzt die Autorin dies in Szene:

„Als ich den Leichnam der Urgroßmutter noch einmal sehe, ist sie schon aufgebahrt und der gesamte genetische Rattenschwanz hat sich um ihr Totenbett versammelt.“

Mit zunehmendem Alter löst sie sich mehr und mehr von der Familie, nur um in ein fragwürdiges Milieu, in dem Diebstähle und Drogenkonsum angesagt sind, überzusiedeln. Sie versucht zu ergründen, weshalb ihre Familie so werden konnte, wie sie nun einmal ist, stößt aber auch da an die Grenzen dessen, was der gute Ton erlaubt:

„Die Tante hat mir unlängst anvertraut, die Mutter habe ihrem Vater vom Missbrauch durch einen Verwandten erzählt, da war sie noch jünger als ich. »Der Klassiker«, sage ich und frage: »Wer?« Doch die Tante will es nicht verraten. Nur so viel: Die Mutter bekam eine Tracht für dieses Geständnis, eine Tracht Prügel für ihre Milchmädchenrechnung, für ihre Fehleinschätzung von dem, was wirklich war.“

Es ist weniger die Handlung als mehr die Art des Erzählens, die diesen Roman aus der Masse der jährlichen Veröffentlichungen hervorhebt. Zwischen Skurrilität und bitterböser Abrechnung schafft sie einen Gegenentwurf zu dem harmlos beschönigenden Heimatroman, der selbst im Krimigenre kaum etwas von seiner kitschigen heilen Welt einbüßt. Ein köstlicher Spaß nicht nur für all jene, die der Dorfwelt den Rücken gekehrt und sich in die Anonymität der Großstadt geflüchtet haben.  

Julia Fellinger – Ein Jahr in Norwegen

julia fellinger ein jahr in norwegen
Julia Fellinger – Ein Jahr in Norwegen

Nachdem der geplante Sommerurlaub 2020 in Norwegen nun definitiv ausfallen muss, da die Einreise nicht möglich ist – frühestens Ende Juli kommt eine neue Entscheidung bezüglich deutscher Touristen – bleibt nicht viel Anderes als sich literarisch in das Land zu begeben. Seit Jahren ist dafür die Reihe „Ein Jahr in …“ aus dem Herder-Verlag mein Favorit. Nachdem ich mir so schon Kopenhagen, Paris, Tel Aviv und die Provence angeschaut habe, nun also Norwegen. Es ist kein Reiseführer im klassischen Sinn, sondern ein Bericht über die ersten zwölf Monate im neuen Land, das vorher Sehnsuchtsort war und dann doch so seine Tücken aufweist. Dadurch, dass nicht die touristischen Ziele im Vordergrund stehen, sondern der neue Alltag und Begegnungen mit Bewohnern des Landes, erhält man einen gänzlich anderen Blick auf das Land, als mit den Hochglanzbildern und kurzen kulturgeschichtlichen Abrissen, die man sonst so nachlesen kann.

Julia Fellinger begleitet ihren Partner nach Høyanger, einer kleinen Gemeinde am Sognefjord, dem längste und tiefsten Fjord Europas und Unesco-Welterbe. Während Hermann dort als Landarzt tätig ist, muss die Journalistin sich beruflich neuorientieren. Die erste harte Erkenntnis besteht darin, dass es zwei Standardvarietäten des Norwegischen gibt, Bokmål und Nynorsk. Ersteres hat sie in ihrem Kurs in Deutschland gelernt, letzteres wird in ihrer neuen Heimat gesprochen und unterscheidet sich doch deutlich, was die Kontaktaufnahme zusätzlich erschwert und berufliche Optionen zunächst völlig schwinden lässt.

Das seit Jahren auch in Deutschland bekannte dänische Konzept von Hygge findet im norwegischen koselig sein Pendant. Die langen, dunklen Winter erfordern aber auch, dass man es sich zu Hause gemütlich macht, denn nicht selten ist man von der Außenwelt abgeschlossen. Die Tatsache, dass sie nicht mehr in der Stadt, sondern auf dem Land lebt, macht schon den größten Unterschied aus, denn auch in Norwegen sind Oslo oder Bergen nicht mit den kleinen Kommunen vergleichbar und es herrscht wie vielerorts eine gewisse Hass-Liebe zwischen den Bewohnern. Anders als in Deutschland zeigen alle Norweger jedoch scheinbar gerne und stolz ihre Nationalflagge, die die gerade mal 100 Jahre andauernde Unabhängigkeit symbolisiert. Ebenfalls ungewohnt für deutsche Einwanderer sind der streng limitierte Umgang mit Alkohol und die horrenden Gebühren für zu schnelles Fahren. Bei ihren neuen Nachbarn stößt sie jedoch auf breite Zustimmung zu beidem. Sehr sympathisch auch die Tatsache, dass 93% der Norweger mindestens ein Buch pro Jahr lesen und damit international Spitzenreiter sind.

Eine Erfahrung, die viele Auswanderer teilen, egal in welches Land es sie verschlägt, ist die Schwierigkeit Anschluss an die lokale Bevölkerung zu finden. Der Autorin geht es auch nicht anders. Wird sie freundlich empfangen und sofort bei allen Angelegenheiten unterstützt, bleibt doch immer eine Distanz und nur mit anderen Einwanderern entwickeln sich wirklich neue Freundschaften. Die gewaltige und beeindruckende Natur und der entschleunigte Lebensstil können jedoch letztlich nicht über die Hürden hinwegtäuschen, die sich in der neuen Heimat stellen. So viel man glaubt über das Land zu wissen und so ähnlich die Skandinavier uns zu sein scheinen, liegt der Haken dann doch im Detail und im Alltag tut sich so manche unerwartete Klippe und Verwunderung auf.

Viel erfährt man über Land und Leute, natürlich aus einem subjektiven Blick, aber dafür aus erster Hand und ungeschönt. Für mich interessant und erhellend zu lesen – z.B. kleine Details wie die Tatsache, dass Bergen mit 360 Regentagen/Jahr die regenreichste Stadt Europas ist, was sie für Urlaub schlagartig mit großem Fragezeichen versehen hat – und damit zwar kein wirklicher Ersatz für Urlaub, aber doch ein wenig gedankliches Reisen.

Cihan Acar – Hawaii

cihan acar hawaii
Cihan Acar – Hawaii

Eine brütende Hitze, die die Menschen langsam zermürbt, liegt über Heilbronn. Auch Kemal Arslan leidet unter den unerträglichen Temperaturen, doch nicht nur diese machen ihm zu schaffen. Einst stand ihm die große weite Welt offen, das junge Fußball-Talent, dass es zu den renommierten Vereinen schaffen würde, doch ein Unfall hat all diese Hoffnungen zunichtegemacht und nun streift er durch seine Heimatstadt ohne zu wissen, was er sucht oder wohin er will. Er trifft ehemalige Freunde, verabschiedet sich von seinen Eltern, die auf dem Weg in die Türkei sind, landet in einem Striplokal und einem Spielcasino. Er sucht seine Ex-Freundin Sina auf, doch die will auch nichts mehr von ihm wissen. Während Kemal den Sinn im eigenen Dasein sucht, bricht derweil in dem Problemstadtteil Hawaii der Krieg aus. Neonazi wollen ihren Lebensraum zurück und Kemal sieht sich zwischen allen Fronten.

Cihan Acars reflektiert die Frage nach dem Dazugehören gleich auf mehreren Ebenen. Er lässt seinen Protagonisten drei Tage und einen Morgen durch die schwäbische Stadt streifen und in unterschiedlichsten Begegnungen wird diesem immer klarer, dass er weder weiß, wer er ist, noch wohin er gehört. Je mehr Menschen ihn vereinnahmen wollen, desto stärker wehrt er sich gegen eine Zuordnung und muss letztlich feststellen, dass er nirgendwo so richtig hineinpasst. Er muss seine Heimat vermutlich ganz woanders suchen. Die Grenzen verlaufen auf ganz unterschiedlichen Ebenen, es gibt Türken, Deutsche und Deutschtürken, es gibt Reiche, Arme und die Dazwischen, man spricht Deutsch und Schwäbisch und Türkisch und irgendwas aus allem. Jedes kleine Merkmal kann die Gemeinschaft definieren oder zur Abgrenzung dienen, ein andauernder Tanz auf dem Vulkan, der jederzeit auszubrechen droht.

„Manche meinen, die Amis hätten den Namen eingeführt, also die Soldaten, die hier früher stationiert waren. Andere sagen, dass es ironisch gemeint ist, nach dem Motto: Was für eine miese Gegend, sind wir doch mal witzig und benennen sie nach einem Paradies.“

Hawaii, Heilbronn. Nicht die Inseln mit den Traumstränden, sondern das Problemviertel, das der Autor selbst gut kennt, stammt er doch aus Heilbronn. Eine Zukunft ist dort nicht zu erwarten, dies teilt der noch junge Protagonist mit der Stadt. Wo sich einst große Träume hinter den Augen abspielten – die zugewanderten Arbeiter, die in Deutschland gutes Geld für ein besseres Leben verdienen wollten, und Kemal Arslan, der davon träumte Fußballstar zu werden – ist nun nur noch Verfall. Am Ende ist die Hälfte niedergebrannt und lediglich Ruinen lassen erahnen, dass es einmal hoffnungsvolle Zeiten gab. Der Trümmerhaufen der Stadt spiegelt den Trümmerhaufen wieder, den Kemal empfindet. Doch um sich selbst wieder aufzubauen, müsste er wissen, nach welchem Plan er vorgehen muss.

Die Identitätsfrage wird das leitende Motiv in der Suche. Er ist nicht mehr der Fußballstar, der bei einem türkischen Club spielt und echte Fans hat. Doch er kann auch nicht mehr nur der Sohn eines türkischen Gastarbeiters sein, der in einer Reinigungsfirma sein bescheidenes Geld verdient. Um von der türkischen Community anerkannt zu werden, muss er deren Codes und Sichtweisen übernehmen, doch diese sind ihm fremd geworden. Von der Exfreundin und deren Familie und Freunden wird er als Sportler und damit Leistungsträger akzeptiert, sobald jedoch aus dem Star nur noch der verletzte Türke wird, sieht es mit der Akzeptanz dünn aus. In der ultimativen Konfrontation mit den Nazis und der Frage, zu welcher Seite er mit seinem untypischen, nicht unmittelbar zu identifizierenden Aussehen gehört, erkennt er, dass genau da der Knackpunkt liegt: er gehört nirgendwohin.

Bisweilen komisch, manchmal bizarr schildert Acar die Rastlosigkeit Kemals und erlaubt in seinen Konfrontationen einen Einblick in das komplexe Innenleben des Protagonisten, das man zu Beginn nicht erwartet hätte.

Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

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Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

Josua Brenner wird Ende der 1970er Jahre in eine schwierige Lage Berlins hineingeboren. Seine alleinerziehende Mutter weiß kaum die Kinder zu ernähren und so muss der aufgeweckte Junge schon früh mithelfen, Geld zu verdienen. An eine langjährige Schulbildung ist in der Neuen Preußischen Republik auch nicht zu denken, es geht um das Überleben. Aber mit Cleverness und Mut schafft er es als junger Vater für sich und seine kleine Familie ein verhältnismäßig ordentliches Leben aufzubauen, trotz aller Widrigkeiten. Immer wieder hört er von Bekannten, die dem Land den Rücken kehren und ihr Glück im Süden versuchen, in Afrika, wo stabile politische Verhältnisse herrschen, die Staaten nicht von korrupten Politikern geführt werden, die sich und ihren Familien die Taschen vollstopfen und zugleich das Volk ausbluten lassen. Doch der Weg dorthin ist weit und gefährlich. Nach zwei harten Schicksalsschlagen beschließt auch Josua, dass er nicht mehr zu verlieren hat und es das aktuelle Leben auch nicht wert ist, gelebt zu werden. Also bricht er auf.

Christian Torkler verkehrt die Welt in seinem Roman „Der Platz an der Sonne“: Europa hat sich vom Zweiten Weltkrieg nicht erholt, ist politisch und wirtschaftlich instabil und in unzählige Kleinstaaten zersplittert. Afrika ist der reiche Kontinent, der zum Sehnsuchtsort wird, wo sich die Träume vom guten Leben realisieren lassen. Doch die Grenzen sind dicht, scharfe Kontrollen überall verhindern den unkontrollierten Exodus gen Süden, was jedoch viele Lebensmüde und Mutige nicht davon abhält, die weite und riskante Reise zu wagen.

Im ersten Teil des Buchs erleben wir die schwierige Lage in Berlin. Dass es auch so hätte kommen können, ist durchaus vorstellbar. Das Leid der Leute, die korrupten Beamten, die Verschwendung und Veruntreuung von Aufbaugeldern reicher Staaten, die wiederholten Rückschläge, die Josua auf dem Weg zu seiner eigenen Kneipe erlebt – Torkler zeichnet ein glaubwürdiges Bild, das durchaus angelehnt an das ist, was für viele Menschen heute Alltag ist, wenn auch nicht in Mitteleuropa. Es braucht diese lange Vorgeschichte, um nachvollziehen zu können, weshalb Josua nichts mehr zu verlieren hat und die Flucht ergreift.

Der Weg ist geprägt von allerlei Beschwerlichkeiten durch Witterung, Grenzzäune oder auch Polizisten, schnell schon lassen die ersten Weggefährten ihr Leben. Die Brutalität und Sinnlosigkeit, mit der auf die Geflüchteten eingeschlagen wird, lässt einem manchmal an der Menschheit zweifeln. Umgekehrt schildert Torkler aber auch Episoden von Hilfsbereitschaft und Unterstützung, subversivem Unterwandern der Gesetze und dem gemeinsamen Bewältigen der unmöglichen Situation. Es gab und gibt eben immer beides auf der Welt. Die finale Überquerung des Mittelmeers wird zum Höhepunkt, ein unberechenbares Glücksspiel, das man überlebt oder nicht und das selbst im ersten Fall kein Garant für eine glückliche Zukunft ist.

Eine ungewöhnliche Geschichte von Flucht und Hoffnung auf ein besseres Leben. Das Buch ist ohne Frage politisch, stärker wiegt jedoch der menschliche Appel an das Verständnis für die Lage derjenigen, die ihre Heimat verlassen, weil es dort nichts mehr gibt, das sie hält. Niemand wird Zweifel daran hegen, weshalb Josua Brenner Berlin den Rücken kehrt. Warum kann man dieses Verständnis nicht auch in der Wirklichkeit aufbringen? Der ungehinderte Zugang zu wirtschaftlich und politisch stabilen Ländern kann nicht die Lösung sein, das geht auch aus „Der Platz an der Sonne“ hervor, denn eigentlich will niemand seine Heimat verlassen, sondern nur ein bescheidenes, aber sicheres Leben führen.