Don DeLillo – Weißes Rauschen

Don-DeLillo-weißes-Rauschen
Don DeLillo – Weißes Rauschen

Jack Gladney ist Professor an einem kleinen College im Mittleren Westen, wo er den Lehrstuhl für Hitler-Forschung innehat. Mit seiner aktuellen Frau und vier seiner Kinder führt er ein völlig durchschnittliches Leben zwischen Arbeit, Haushalt und gemeinsamen Fernsehabenden. Ein Störfall in einer nahegelegenen Chemiefabrik bringt das sorgfältig austarierte Gleichgewicht der Familie zum Wanken, denn fluchtartig müssen sie ihr Zuhause verlassen und sich vor einer unheilbringenden Wolke schützen. Nach zehn Tagen ist der Spuk vorbei und sie kehren in ihr Heim zurück. Doch der Zwischenfall hat Spuren hinterlassen und die sowohl bei Jack wie auch bei Babette vorhandene latente Todesangst wird immer manifester. Während Babette mit Tabletten versucht ihr Herr zu werden, versucht Jack aktiv zu werden, erst durch unzählige Untersuchungen, dann durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Tod.

Das lange erste Kapitel fokussiert auf das Familien- und Campusleben in der amerikanischen Kleinstadt. Die Welt ist überschaubar – auch wenn Jack Gladneys Frauen und zahlreiche Kinder nicht ganz leicht zu überblicken sind – man begegnet seinen Kollegen auf der Arbeit und im Supermarkt und die Wahrheit über die Welt kommt per Übertragung aus dem heimischen Fernsehgerät. DeLillos Roman erschien erstmals 1985 und er ironisiert an dieser Stelle sehr offenkundig den Werte- und Bildungsverfall: die Universität hat nicht einmal einen ordentlichen Namen, sondern ist schlicht das College-on-the-Hill, was nicht für ihren akademischen Ruhm spricht. Auch wenn Gladney selbst ein ernstes und relevantes Forschungsfeld beackert, die Tatsache, dass er kein Deutsch spricht als Hitlerexperte und dass sein Kollege über Popkultur und Themen wie Autounfälle in Kinofilmen doziert, verdeutlicht die pseudowissenschaftliche Degenerierung. Dass Jacks 14-jähriger Sohn Heinrich noch mit dem größten Fach- und Sachwissen aufzuwarten vermag, ist hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Auch die Kritik an der Konsumorientierung wird bei Jacks regelmäßigen Einkäufen mehr als deutlich. Der Supermarkt wandelt sich vom Ort der notwendigen Versorgung zum Ereignistempel und das Umstellen der Regale führt zu ernstzunehmenden psychischen Störungen. Der Störfall reißt alle Bewohner aus dem üblichen Trott und stellt den bis dato unbändigen Technikglaube in Frage und konfrontiert die Figuren nicht nur mit einer extremen Ausnahmesituation, sondern auch damit, dass es manchmal keine eindeutigen oder eben gar keine Antworten auf ihre Fragen gibt.

„Weißes Rauschen“ tritt in vielen Wissenschaften auf, eine Anwendung ist die Behandlung von Tinnitus, wo man das störende Ohrgeräusch durch das weiße Rauschen versucht zu überlagern. Für Jack und Babette ist die Todesangst der Tinnitus, allgegenwärtig und aus dem Inneren heraus von beiden nicht bekämpfbar. Babette löst das Problem durch Medikamente, Jack sucht Erlösung dadurch, dass er zum Mörder wird und so die Oberhand über den Tod gewinnt.

Wie immer bei Don DeLillo ein Buch voller Referenzen, kultureller Bezüge und ausufernder Gesellschaftskritik. Man merkt dem Roman sein Alter in keiner Weise an und würde man den Fernseher durch Handys und das Internet ersetzen, wäre die Aussage heute ebenso aktuell wie Mitte der 1980er Jahre.

Lilian Loke – Auster und Klinge

lilian-loke-auster-und-klinge
Lilian Loke – Auster und Klinge

Endlich wieder in Freiheit nachdem er wegen wiederholter Einbrüche im Gefängnis saß. Ein eigenes Restaurant ist der Traum von Victor, doch dafür benötigt er Geld und erst einmal muss er wieder auf die Füße kommen. Immerhin hat er bereits einen Job als Pizzafahrer. Bei einer Auslieferung in einem Bürokomplex lernt er zufällig Georg kennen, bei dem er auch vorläufig unterkommen kann. Georg ist Künstler – oder so etwas Ähnliches. An Geld scheint es ihm nicht zu mangeln, von den paar Stunden an der Volkshochschule kann er kaum leben. Es dauert bis Victor herausfindet, dass Georg Erbe eines großen Schlachtkonzerns ist, wo tagtäglich Tausende von Tieren getötet und weiterverarbeitet werden. Zu seiner Familie hat er nur selten Kontakt, zu sehr weichen seine Vorstellungen von jenen der Eltern und Geschwister ab. Georg finanziert Victors Traum vom eigenen Restaurant, doch dafür erwartet er auch eine Gegenleistung: Victor soll ihm beibringen, wie man in Häuser einsteigt. Nach dem Grund gefragt, antwortet er ausweichend, eine Art Kunstprojekt oder Installation. Bald schon wird die ganze Stadt davon wissen.

So wie die beiden Begriffe im Titel des Buchs – Auster und Klinge – schon nicht zusammen zu passen scheinen, so muten auch die beiden Protagonisten wie ein unmögliches Paar an: einerseits der wohlhabende und kunstaffine Georg, der es sich dank der finanziellen Rücklagen leisten kann, keinen Job wirklich machen zu müssen und sich um größere Dinge als die eigene Existenz Sorgen machen zu können. Auf der anderen Seite Victor, der als ehemaliger Häftling ganz am unteren Ende der Nahrungskette steht, dessen Frau ihn nicht mehr sehen möchte und der auf jeden Cent angewiesen ist, was eine gewisse Flexibilität bei der Jobwahl erzwingt.

So wie die Auster ein Luxusgut darstellt, das höchsten Genuss verspricht, ist die Klinge eher das zerstörerische Werkzeug oder eine Waffe. Der Titel erklärt sich durch das Buch nicht, weist aber durchaus durch seine surreale Verbindung der beiden Begriffe den Weg zur anarchistischen Kunst- und Weltauffassung Georgs, der die vorherrschenden Werte in Frage stellt.

Lilian Loke reißt gleich mehrere gesellschaftskritische Fragen in ihrem Roman an, obwohl dieser keineswegs so dramatisch ernsthaft daherkommt, wie es die Thematik nahelegen könnte. Ganz im Gegenteil, er ist voller Leben, bisweilen gar komisch und von einem überzeugend leichten Erzählton geprägt. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, inwieweit unsere Gesellschaft bereit ist, Straftäter wieder in ihrer Mitte aufzunehmen, ihnen eine Chance zu geben und die Fähigkeiten über die Straftat hinaus sehen zu wollen. Zum anderen die Massentierhaltung und die Ausbeutung asiatischer Arbeiter, die für kaum einen Dollar am Tag unsere Kleidung zusammennähen, was von Georg drastisch angeprangert wird. Wir wissen alle um diese Dinge, verschließen nur zu gerne die Augen und es benötigt solche Aktionen oder tragische Unglücke, um uns tatsächlich damit auseinanderzusetzen – was jedoch noch lange keine Verhaltensänderung bewirkt.

Ein bemerkenswerter Roman, der nicht nur durch seine inhaltliche Relevanz überzeugt, sondern vor allem das schriftstellerische Potenzial der Autorin unter Beweis stellt. „Auster und Klinge“ ist erst ihr zweiter Roman, man darf auf die folgenden gespannt sein.

Virginie Despentes – Vernon Subutex

virginie-despentes-vernon-subutex
Virginie Despentes – Vernon Subutex

QUI EST VERNON SUBUTEX ?

Une légende urbaine.

Un ange déchu.

Un disparu qui ne cesse de ressurgir.

Le détenteur d’un secret.

Le dernier témoin d’un monde disparu.

L’ultime visage de notre comédie inhumaine.

Notre fantôme à tous.

Besser als die Internetseite von Grasset kann man die Frage danach, wer Vernon Subutex, Namensgeber von Virginie Despentes achtem Roman und erstem Band einer Trilogie, nicht zusammenfassen. Eine Legende, gefallener Engel, ein Verschollener, der immer wieder auftaucht, Geheimnisträger und letzter Zeuge, das Gesicht der unmenschlichen Komödie und unser aller Phantom.

Einst war Vernon erfolgreicher DJ und Plattenladenbesitzer in Paris, jeder konnte ihn alles Mögliche zur Musik befragen, doch die Zeiten haben sich geändert und was sich seit einiger Zeit bereits abzeichnete, wird nun Realität: schon länger Sozialhilfebezieher und weitgehend passiv in seiner Wohnung verharrend, fliegt er nun aus selbiger und findet sich plötzlich als Obdachloser auf der Straße wieder. Erster Plan: seine Freunde. Nach und nach sucht er sie auf und kann für wenige Tage jeweils bei ihnen unterkommen. So lernt man auch deren Leben und Schicksal kennen.

Alex Bleach hat ihm immer aus der Patsche geholfen und Geld geliehen, doch der bekannte und erfolgreiche Sänger ist gerade verstorben und kann seinen Freund nicht mehr unterstützen. Die anderen Freunde könnten verschiedener kaum sein: ein gutbürgerlicher Familienvater, eine ehemalige Pornodarstellerin, ein prügelnder Gatte – das ganze Leben und keim Platz für Vernon.

Virginie Despentes fängt das pralle Leben ein. Nicht nur Vernon und seine Freunde, sondern auch die zahlreichen Nebenfiguren– ein Rechtsextremer, eine verschleierte Muslimin, ein Kokaindealer, ein Transsexueller – bieten die ganze Bandbreite der französischen Gesellschaft, wobei sich viele an deren Rand befinden und ausgeschlossen werden von der christlichen, in geordneten klassischen Familienverhältnissen lebenden Mehrheit. Die Autorin ist bekannt für ihre pointierten und direkten Angriffe auf genau diese Masse, die die Augen verschließt vor dem Leid um sie herum und die andere Lebensentwürfe ablehnt und aburteilt.

„Vernon Subutex 1“ wurde unter anderem mit den Prix Anaïs-Nin ausgezeichnet, der Werke für ihre außergewöhnliche Stimme und Originalität sowie der Infragestellung der moralischen Ordnung ehrt. Das ist Virginie Despentes ganz sicher gelungen. Der Roman hat erwartungsgemäß polarisiert, er will gar nicht erst irgendetwas beschönigen und so steht die grausame Realität, vor der man gerne die Augen verschließen möchte, plötzlich vor dem inneren Auge auf. Nicht immer schön zu lesen, manchmal brutal und abstoßend, aber: so ist das Leben nun einmal.

Isabella Straub – Wer hier schlief

isabella-straub-wer-hier-schlief
Isabella Straub – Wer hier schlief

Philipp Kuhn hat eigentlich ein wunderbares Leben mit Vera in der Villa und der Job als Assistent der Geschäftsführung in Veras Firma ist genaugenommen auch nur Vorwand fürs Nichtstun. Als er Myriam kennenlernt, ist es um ihn geschehen und nach Monaten der Affäre wird er sich nun endlich von Vera trennen und ein neues Leben beginnen. Erfolgreich den Plan umgesetzt, findet er sich erwartungsvoll ob der Zukunft vor Myriams Wohnung wieder. Doch von der ist nichts zu sehen, die Wohnung ausgeräumt, alle Spuren verwischt, als wenn es sie nie gegeben hätte. Wie kann das sein? Philipp geht zu dem Hotel, wo sie gearbeitet hat; auch dort sucht man sie, wegen Betrugs und Unterschlagung. An was für eine Frau war er da geraten? Schnell wird klar, dass sie auch bei ihm einen Plan verfolgte: sie hat seinen Laptop mit wichtigen Firmendaten mitgenommen. Doch das interessiert ihn schon nicht mehr, denn den Job ist er mit der Trennung von Vera eh losgeworden. Und was hat er jetzt? Nichts. Keine Arbeit. Keine Bleibe. Keine Zukunft. In seiner Not schließt er sich den alternativen SUHOS an – den Suddenly Homeless.

Der dritte Roman der österreichischen Autorin Isabella Straub ist eine kuriose Mischung aus Tragik und Komik. Einerseits erlebt man, wie sich innerhalb kürzester Zeit das ganze geregelte Leben eines Menschen schier auflöst, alle Grundpfeiler zusammenbrechen und nichts mehr Halt bietet. Natürlich hat der Protagonist einiges selbst dazu beigetragen, letztlich wurde er jedoch Opfer einer recht perfiden Masche und gnadenlos ausgenutzt. Nun steht er obdachlos und hilflos auf der Straße. Philipp Kuhn hat schon etwas von einem tragischen Helden, der einem durchaus ein wenig Leid tut. Und seine Naivität hat durchaus etwas Bestechendes:

„Lange dachte er auch, er könne sie beide behalten, Vera und Myriam. Es war ihm doch auch möglich, einen guten Rotwein und einen exzellenten Weißwein zugleich im Schrank zu haben.“ (Pos. 238)

Andererseits sprüht der Text voller Situationskomik und Absurditäten, die beim Lesen schlichtweg unheimlichen Spaß machen. Kuhns Notunterkunft im Fitnessstudio, das alle Klischees vollends bedient, die man über eine solche Einrichtung nur haben kann. Die Gruppe der alternativen SOHOs ist zunächst völlig überzeichnet in ihrer Antikapitalismuskritik, so dass sie schon wieder charmant wirken. Ihre Ideen sind auch nicht ganz unclever und kritisieren zum Teil auch berechtigterweise. Doch gerade als man beginnt mit ihnen zu sympathisieren, kippt die Beschreibung durch den einen Schritt, den sie zu weit gehen. Diese Spannung und die schnellen Wechsel zwischen den Extremen machen den Reiz des Buches aus. Man kann sich nie zu sicher sein.

Besonders gelungen sind ihre Figuren, nicht so sehr der Protagonist Philipp Kuhn, der eigentlich eher passiv sein Schicksal erträgt und mehr getrieben wird, bis er irgendwo landet, dafür aber die vermeintlichen Randfiguren, die man dank ihrer liebevoll gezeichneten Marotten gerne immer wieder trifft. Philipps Mutter, seine Schwester, mehr aber noch Friedrich Solkar, der schrullige alte Mann, der Stunden im Hotel im Sessel sitzt und Philipp Kuhn so manche Weisheit mit auf den Lebensweg geben kann.

Insgesamt ein unterhaltsamer Roman, der zweifelsohne an vielen Punkten aktuelle gesellschaftliche Tendenzen kritisch präsentiert, darüber hinaus aber auch einfach dank der pointierten Formulierungen der Autorin Spaß macht zu lesen.