Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

In ihrem tschechischen Dorf ist Adina die letzte Jugendliche, außer den russischen Touristen kommt auch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs kein wirkliches Leben mehr in die abgelegene Region im Riesengebirge. Nach der Schule fährt sie nach Berlin mit dem Ziel, dort erst die Sprache zu lernen und dann zu studieren. Mit der Fotografin Rickie lernt sie eine Frau kennen, die ganz anders ist als sie, offen, gewandt, die einfach tut, was sie tun möchte. Sie ist es auch, die ihr weiterhilft und ein bezahltes Praktikum mit freier Kost und Logis vermittelt, das jedoch im Desaster und einer neuerlichen Flucht endet. Nun versteckt sie sich in Helsinki, schuftet in einem Hotel, wo sie in einer Dachkammer hausen kann. Als sie dort den estnischen Professor Leonides Siilmann kennenlernt, könnte sich die Chance auf einen Neubeginn ergeben. Doch davor liegen noch Abgründe, die es zu überwinden gilt und Schluchten, die sich unerwartet auftun.

„Ich schlage deshalb vor, wie gehabt zu verfahren. Jeder von uns hat seine Schwachstellen, jeder macht Fehler. Wenn der jungen Frau etwas Schlimmes widerfahren ist, in Deutschland wohlgemerkt, muss sie sich an die entsprechenden Behörden wenden. Lasst uns aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.“

Antje Rávik Strubels Roman eröffnet mit Fragezeichen. Man weiß, dass sich die junge Protagonistin versteckt, warum bleibt jedoch lange unklar. Sie ist offenkundig in einem fremden Land, sie benötigt einen Anwalt, was sie erlebt hat, muss schlimm gewesen sein. Sie will für Gerechtigkeit kämpfen und ahnt, dass dies ein ungleicher, unfairer und kaum zu gewinnender Kampf werden wird. Immer wieder taucht die blaue Frau auf, ein Geist, ein Gedanke offenbar, der Adina begleitet und leitet und Mut macht, auf dem Weg, der nicht steinig ist, sondern auf dem Felsen stehen.

Das Bild lichtet sich bald und nach und nach wird klar, dass es sich bei „Blaue Frau“ um die Geschichte einer missbrauchten, traumatisierten Frau handelt, die sich mächtigen älteren Männern gegenübersieht. Sie findet Unterstützer, doch auch diese erleben Hilflosigkeit ob der Machtstrukturen. Im großen Getriebe ist Adina nur ein Rädchen, ein ganz kleines, das keine Rolle spielt für die Maschinerie der Wirtschaft und Kultur und das doch bitte einfach funktionieren und den Betrieb nicht stören soll.

Es ist jedoch nicht nur das Einzelschicksal, das die Autorin schildert, sie setzt es in einen größeren Kontext, denn es ist Adinas spezifische Herkunft als Osteuropäerin, die jenen, die sie missbrauchen, zusätzliche Macht verleiht. Sie ist nicht Mensch zweiter Klasse – Frau – sondern dritter oder vierter Klasse, Mensch, dem keine Rechte und keine Würde zugesprochen werden. Dass sie einmal Träume hatte und ein Leben vor sich, darauf kann leider keine Rücksicht genommen werden.

Inhaltlich greift Strubel sowohl das Private wie auch europäische Fragen auf, offene Grenzen reißen nicht Mauern in Köpfen ein, ebenso wenig wie rechtliche Gleichberechtigung selbige auch in den Köpfen herstellt. Nicht chronologisch erzählt transferiert sie literarisch das Gedankenmäandern, das ganz typisch ist für Opfer von Gewalt, die sich in einem Strudel befinden und wo sich bisweilen Realitäten überlagern. Folglich ist die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 keine wirkliche Überraschung, sondern notwendige Konsequenz.

Jean-Luc Seigle – Ich schreibe Ihnen im Dunkeln

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Jean-Luc-Seigle – Ich schreibe Ihnen im Dunkeln

Pauline Dubuisson, einer der bekanntesten Kriminalfälle im Frankreich der 1950er Jahre. Jeder kennt ihre Geschichte, denn sie wurde unter dem Titel „La Vérité“ von Henri-Georges Clouzot mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle verfilmt. Doch ist das wirklich die Geschichte der Pauline Dubuisson? Jean-Luc Seigle hat sich des Stoffes noch einmal angenommen und lässt Pauline nun selbst erzählen. Das Mädchen, in das die Eltern so hohe Erwartungen setzten, da sie überdurchschnittlich intelligent war und das Medizinstudium immer vor Augen hatte. Nach dem Tod ihrer älteren beiden Brüder im Zweiten Weltkrieg zieht sich die Mutter immer mehr zurück. Die Not ist groß im besetzten Frankreich und Paulines Vater, den sie abgöttisch verehrt und dessen Aufmerksamkeit alles für sie bedeutet, kann für das Mädchen eine Stelle als Krankenschwester bei einem deutschen Arzt finden, was der Familie Zugang zu Lebensmitteln verschafft. Nach dem Krieg fällt das Urteil hart über das Mädchen aus. Eine Deutschenhure wurde sie genannt, mehrfach vergewaltigt als Strafe dafür, dass sie mit dem Feind kollaboriert hat, und letztlich zum Tode verurteilt. Doch dieses Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt. Hart kämpft sie sich zurück ins Leben und lernt im Studium zum ersten Mal die richtige Liebe kennen. Doch sie möchte nicht, dass ihre Vergangenheit zwischen ihnen steht und offenbart sich ihrem zukünftigen Mann. Dessen Ablehnung und Demütigung kann sie nicht ertragen. Sie will sich das Leben nehmen, doch ihre letzte Begegnung verläuft anders als geplant und am Ende ist sie eine Mörderin.

Es ist unglaublich wie sehr sich Seigle in diese Figur eindenken konnte und wie glaubwürdig dieser Bericht erscheint. Er ist fiktiv, nur die Eckdaten sind belegt, und dennoch kann man sich nur vorstellen, dass dies die Gedanken und Gefühle waren, die Pauline durch den Kopf gingen, sondern entwickelt auch ein gänzlich anderes Bild der Frau als das, das in der Öffentlichkeit von ihr gezeichnet wurde. Vor allem durch die Verfilmung wurde die Vorstellung von ihr geprägt und das, wo weder sie noch ihr Umfeld daran mitgearbeitet haben. Seigle fasst dies so zusammen:

„Ein Drehbuch über meine Geschichte kam mir umso unwahrscheinlicher vor, als ich bisher überhaupt nichts von der Wahrheit gesagt hatte, nicht einmal bei meinem Prozess; niemand außer mir wusste, was in der Nacht des Verbrechens vorgegangen war.“

Symptomatisch für ihr Leben wird folgender Satz:

„Ich glaube, man kann nur daran sterben, dass man nicht mehr geliebt wird. Und das bedeutet nicht, aus Liebe zu sterben, sondern eher das Gegenteil.“

Als Kind und Jugendliche liebt sie ihren Vater und befolgt seine Befehle unhinterfragt, was ihr zum Verhängnis wird. Als Erwachsene wird sie wiederum von zwei Männern, die sie liebt, zurückgewiesen und als Konsequenz wünscht sie sich den Tod. Nur dieser kann sie erretten. Mehrfach misslingen ihre Suizide, Pauline ist zum Leben verdammt scheint es:

„am Tag vor der Eröffnung meines Prozesses, als ich zum dritten Mal versucht habe, mir das Leben zu nehmen. Alle sagten, ich sei abermals «gerettet» worden, während ich dachte, ich sei abermals am Sterben «gehindert» worden.“

Besonders bestürzend waren die Lynchjustiz und Racheakte der vorgeblichen Résistance. Erbarmungslos schildert der Autor, was man dem jungen Mädchen antut. Die Zeilen sind drastisch, kaum zu ertragen vor Brutalität und man fragt sich, ob der Krieg wirklich alles Menschliche in der Bevölkerung ausgelöscht hat und dass sie vorgefertigte Wahrheiten der tatsächlichen Realität vorziehen. Vieles im Leben von Pauline ist durch die Umstände und vor allem den Krieg bestimmt. Ihr Leben wäre ein gänzlich anderes gewesen, wäre sie in anderen Zeiten großgeworden. Aber so funktioniert nun einmal das Schicksal, es sind die Umstände, die die Menschen zu dem werden lassen, was sie letztlich sind. Und es sind die Worte, die wir gebrauchen, um sie zu beschreiben, die sie zu dem werden lassen, was wir in ihnen sehen wollen. Doch manchmal ist auch die Sprache nicht ausreichend:

„Die Vorsätzlichkeit qualifiziert das Verbrechen als Mord, als assassinat. Doch das Substantiv assassine, mit dem eine Frau zu bezeichnen wäre, die vorsätzlich gemordet hat, existiert in der französischen Sprache nicht; die Form ist nur als Adjektiv gebräuchlich. Maître Floriot und die anderen arrangierten sich mit dieser Unzulänglichkeit des Französischen.“

Aber man findet Wege, sich zu arrangieren.

Ein beeindruckend und nachhaltig wirkendes Buch über eine Frau, die so viel Hoffnung hatte und die in ihrem Leben einfach kein Glück finden konnte. Wie es wirklich war, wird sich nie herausfinden lassen. Ihr Abschiedsbrief, in dem sie sich offenbar erklärte, ist verschollen und so bleiben nur die Prozessakten, ein Film und das, was wir uns über sie zusammenreimen. Aber das ist nicht wichtig, Jen-Luc Seigle hat ihr eine Stimme gegeben, endlich ihre Version der Wahrheit zu erzählen.

Interessanterweise habe ich gestern ein Feature über „Erfundene Wahrheiten“ in der Fiktion gehört. Es scheint seit einiger Zeit einen Trend auf dem Buchmarkt zu geben, dass sich Bücher, die auf realen Begebenheit beruhen, besonders gut verkaufen. Welche Gefahren darin liegen, wird dabei sehr schön auch aufgezeigt. Letztlich ist aber doch Realität eine Konstruktion, die sich jeder selbst macht. Wir kreieren unsere Welt und darin ist glücklicherweise auch Platz für lesenswerte Geschichten.

Petra Morsbach – Justizpalast

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Petra Morsbach – Justizpalast

Thirza Zornigers Start ins Leben war schon nicht besonders glücklich. Ihr Mutter träumte von der Karriere in der Justiz, genau wie ihr Vater, aber als sie den Schauspieler Carlos Zorniger trifft, gibt sie die beruflichen Ambitionen zugunsten der Ehe auf. Diese ist kurz und schmerzvoll und der Rest des Lebens wird nicht besser. Die Tochter verbringt die meiste Zeit bei Großvater und den alten Tanten, wo sie zur cleveren und ambitionierten jungen Frau heranwächst. Es folgen Stationen in der Justiz, ihr Fleiß und Scharfsinn werden geschätzt und der Aufstieg geht stetig voran. Umgänglich mit den Kollegen und bedacht in der Arbeit vergehen die Jahre. Nur in der Liebe wollen die Dinge nicht so richtig klappen. Spät erst trifft sie mit Max auf einen Mann, mit dem sie ihr Leben und ihre Erlebnisse im Justizpalast teilen möchte, auch wenn sie lange dem Glück nicht trauen will. Und langsam neigt sich auch schon ihr Leben dem Ende entgegen, ein Leben, das maßgeblich von den Verfahren und ihren Urteilen bestimmt wurde, für sie als Person, bisweilen aber auch für große Firmen und das Land relevant.

Petra Morsbachs Roman schafft eine geschickte Verbindung von der Geschichte einer Frau der Nachkriegszeit, die beharrlich auch gegen Widerstände ihren Weg geht und einem Blick auf die deutsche Justiz, der mal hoffnungsvoll, mal desaströs ausfällt. Immer begleitet wird die Handlung von einem Erzähler, der sich weitgehen dezent im Hintergrund hält, aber ab und an aber mit ironischen Spitzen („Lästern ist ein Laster, aber entlastend“, S. 83) oder gar zynischen Anmerkungen für ein Schmunzeln beim Leser sorgt.

Schon früh realisiert Thirza, dass sie Kinderlos bleiben und somit im Alter allein sein wird. Ein Umstand, der sich nun einmal nicht ändern lässt und durch ihren beruflichen Erfolg noch verstärkt wird. Ohne einen konkreten Weg gezielt zu verfolgen, gelingt ihr doch der Weg durch die Kammern an immer höhere Positionen, ein wenig Glück gehört auch dazu, das Thirza in dieser Hinsicht hold stets ist. Da Liebe nicht in den Grundrechtekatalog gehört, wie der Erzähler feststellt, muss sie sich auf diesem Gebiet verwirklichen. Aber wie auch Max fragt sich Thirza, ob das das richtige Leben war und sie es sinnvoll und glücklich machend genutzt hat und nachdem sie selbst mit Krankheit konfrontiert wird, muss sie erkennen:

„Hier beginnt der Übergang in ein anderes Spiel. Eines mit härteren Regeln, ohne Berufungsmöglichkeit, mildernde Umstände und rechtliches Gehör. Und ohne Gnade.“ (S. 472)

Die Justiz hat ihr viel gegeben im Leben und immer war sie auf der Suche nach Gerechtigkeit und Ausgleich. Leiden verhindern, Recht zuerkennen, maßvoll auch gerecht urteilen – aber wird das Schicksal sich ihr gegenüber genauso verhalten? Sie ist das Sinnbild der erfolgreichen und stark verkopften Frau, die sich keinen intensiven Emotionen hingibt. Sie erkennt früh, dass sie beruflich den Männern in nichts nachsteht, gerät jedoch immer wieder an Herren, die in klassischen Klischees verhaftet sind und sie nicht als ebenbürtig anerkennen.

Neben diesen privaten Aspekten Thirzas steht jedoch vor allem die Justiz im Vordergrund des Romans. Immer wieder werden Fälle skizziert und der Alltag der Richter aufgezeigt. Sehr deutlich wird hier deren Überlastung. Sie können das vorgegebene Pensum niemals bewältigen und suchen entsprechende Ausweichstrategien: wegducken, beschleunigen, weniger sorgfältig arbeiten. Man hat Verständnis für sie und hofft, dass man selbst nie der Fall ist, der gerade so abgehandelt wird. Auch die bisweilen auftretende Situation, dass die Gesetze schlichtweg für einen Fall nicht passen und dass diese Zwickmühle nur mit dem sogenannten „Sauhundprinzip“ – der schlichten Frage danach, wer gut und wer böse ist –  beantwortet werden kann, ist nachvollziehbar, wenn auch bedenklich.

Auch ein weiterer Missstand wird deutlich bekannt: „Tja, die Staatsanwaltschaft ist immer dann besonders überlastet, wenn es um höhere Kreise geht. Wir haben eine Zweiklassen-Justiz“ (S. 54) stellt der Erzähler schon früh fest. Am Beispiel der Familie Strauß wird dies später noch viel detaillierter erläutert und lässt einem als Leser schon stirnrunzelnd zurück, wenn man sonst keinen tieferen Einblick in die Vorgänge der Gerichtsbarkeit hat.

Ein großer Roman über eine starke Frau in einem männerdominierten und hart umkämpften Umfeld. Erzählt in unterhaltsamen Ton, der nie – trotz vieler juristischer Details – tröge oder gar langweilig wird, sondern im Gegenteil die spannenden Seiten der Richterarbeit aufzeigt.

Ein Dank geht an das Bloggerportal für Das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Titel und Autorin finden sich auf der Internet Seite des Verlagsgruppe Random House.