Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. Zwischen Kunstgalerien und Nachtclubs verwischen Arbeit und Privatleben und alles scheint für die 20 bis 30-Jährigen möglich. Nur gelegentlich kommt der Gedanke an die Heimat, die man zurückgelassen hat. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist in Dauerbewegung, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Doch langsam verändert sich die Stadt und irgendwann beginnen auch Anna und Tom darüber nachzudenken, ob das noch das Leben ist, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der Italiener Vincenzo Latronico ist Autor und Übersetzer und lebt selbst in Berlin. „Die Perfektionen“ ist sein zweiter Roman und eine Hommage an seine Wahlheimat. In starken Bildern fängt er eine inzwischen schon wieder vergangene Zeit und ein Lebensgefühl einer ganzen Generation ein.

„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen.“

Mit hübschen Bildern zeichnen sie online ein Bild von ihrem Leben, das mehr Fassade als Realität ist. Ein Scheinleben online wie offline in einer Stadt, deren Sprache sie kaum sprechen und in der sie nie wirklich ankommen, geschweige denn in das Leben der Deutschen eindringen. Alle, die sie kennen, sind Expats wie sie selbst, die denselben Lebensstil pflegen, jung und mobil sind, die globalen englischsprachigen Nachrichten verfolgen, aber nichts von den Vorfällen oder Sorgen um die Ecke wissen.

Es braucht ein extremes Ereignis wie die Ankunft tausender Geflüchteter im Jahr 2015, damit sie etwas von dem Leben in der Stadt mitbekommen und ihre Blase kurzzeitig verlassen. Doch auch das bleibt eine kurze Momentaufnahme und ist schnell schon wieder vergessen.

Es sind vor allem die präzisen Beschreibungen, die den kurzen Roman zu einem herausragenden Leseerlebnis machen. Poetisch und doch präzise lässt Vincenzo Latronico konkrete Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen und den Leser darin versinken.

Nora Bossong – Schutzzone

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Nora Bossong – Schutzzone

Im Büro der Vereinten Nationen in Genf hat Mira viel zu tun, aktuell laufen die Vorverhandlungen für den Friedensprozess auf Zypern. Auf einem Empfang trifft sie Milan wieder, bei dessen Familie sie als Kind einige Monate lebte und dessen Vater von einem Krisenherd zum nächsten flog und dessen Familie ihr die Welt der großen Politik öffnete. Auch Mira verfällt dem Glauben, etwas in der Welt bewegen, Frieden stiften und Unrecht ahnden zu können. Doch je mehr Katastrophen sie in Augenschein nimmt, desto mehr schwindet dieser Glaube und ihr Wirken und das der NGOs wird hinterfragt. Dient sie nur einem Selbstzweck, dem Erhalt der Organisation? Zugleich muss sie sich dann der Frage stellen, welchen Sinn sie in ihrer Lebensführung sieht und vor allem: was Milan ihr eigentlich bedeutet.

„und manchmal, nur manchmal, überkommt mich die Angst, das falsche Leben zu leben, als würde es das richtige irgendwo geben, aber man berührt immer nur den Ersatz, die Fälschung“

Nora Bossongs Roman, nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2019, verknüpft geschickt unterschiedliche Themen, die ihre Protagonistin beschäftigen: die große Frage nach dem Sinn des Lebens, als junge Frau der Widerspruch zwischen Karriere und Familie und vor allem die große Politik und die Sinnhaftigkeit oder Sinnfreiheit der Friedensmissionen und wie diese vor Ort an den Plätzen unglaublicher Grausamkeiten wahrgenommen werden. Hinter allem lauert aber noch die ganz große Frage, was denn eigentlich wahr ist, wer darüber die Deutungshoheit besitzt und ob es nicht zugleich mehrere Wahrheiten geben kann. Das ist eine ganze Menge und keiner dieser Einzelaspekte ist literarisch einfach und überzeugend umzusetzen. Der Autorin gelingt es aber, diese in einer einzigen Geschichte glaubwürdig motiviert und sprachlich wie dramaturgisch überzeugend zusammenzuführen.

Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll, so viel Bemerkenswertes und Erwähnenswertes bietet der Roman. Die Erzählung auf zwei Zeitebenen – Miras Erfahrungen in den unterschiedlichen Krisenregionen einerseits, das Wiedersehen mit Milan während der Genfer Zypernverhandlungen andererseits – erlaubt die zwei großen Handlungsstränge parallel entwickeln zu lassen. Die junge Frau, die mit großen Erwartungen an die Arbeit bei der UNO geht und im Laufe der Zeit einen kritischen Blick für ihr Wirken entwickelt und am Ende sogar fast kapituliert, entwickelt sich parallel zu jener Frau, die in dem Kindheitsfreund plötzlich mehr zu sehen scheint als nur einen alten Vertrauten. Unsicherheit zu Beginn, wohin soll das führen, dann scheint es Möglichkeiten zu geben, Hoffnungen erwachsen, aber die Rechnung war zu einfach, hat wesentliche Faktoren übersehen.

Auch wenn es ein ernüchterndes Fazit ist, das die Protagonistin zieht, so waren doch die Kapitel um den Genozid in Ruanda und die Verantwortung der Weltöffentlichkeit für mich die mit Abstand stärksten. Der Kolonialherrenhabitus, der nie wirklich abgelegt wird, das systematische Wegschauen, weil’s bequemer ist, die Lebenswelt der Lokalbevölkerung, die den Helfern nie wirklich zugänglich ist und überhaupt die Blase, die diese um sich herum bauen und die die Illusion trägt, dass ihre Arbeit richtig und wichtig wäre und einen Beitrag zur Gerechtigkeit leisten könnte, werden plausibel und überzeugend durch die Handlung verdeutlicht ohne so eine mahnende oder gar besserwisserische Stimme zu benötigen.

Nora Bossong entlarvt geschickt Ambivalenzen sowohl auf moralischer wie politischer Ebene und hinterfragt große Begriffe, mit denen sie Ihre Kapitel überschreibt: Frieden, Wahrheit, Gerechtigkeit, Versöhnung. Ein Roman, der bisweilen unter die Haut geht und sich nachdrücklich einbrennt. Für mich der heißeste Kandidat auf den Gewinn des Buchpreises in diesem Jahr.