Deniz Ohde – Streulicht

Deniz Ohde – Streulicht

Am Rande des Industrieparks, der Säure in die Luft pustet und klebrigen Schnee produziert, wächst die Ich-Erzählerin auf. Mit ihren Freunden Pikka und Sophie besucht sie das Gymnasium, glaubt dort so sein zu können wie diese, doch hinter der Tür der elterlichen Wohnung ist vieles anders. Vater wie Großvater trinken zu viel, wollen keine Veränderung und herrschen ruppig über den Haushalt. Die Mutter, die einst aus der Türkei in ein vermeintlich besseres Leben geflüchtet war, akzeptiert dies stumm, bis es nicht mehr geht. Kein Umfeld für eine vielversprechende Zukunft und so kommt es auch: die Versetzung gescheitert, das Gymnasium Vergangenheit. Warum noch kämpfen, wenn der Ausgang doch ohnehin schon gewiss ist?

In Deniz Ohdes Debütroman verarbeitet die Autorin gleich zwei Erfahrungen, die sowohl unsere Gesellschaft wie auch das Bildungswesen prägen: Als Arbeiterkind fehlt ihr der Zugang zum notwendigen Habitus, der Voraussetzung für den Bildungserfolg ist, als Tochter einer türkisch-stämmigen Mutter verleugnet sie zunächst den offenkundigen ausländischen Namen, der sie ebenfalls stigmatisiert und in eine Schublade steckt, auf der sicher nicht Bildungsaufsteiger steht. Sie hat nie gelernt, für sich zu sprechen, Widerstand gegen erfahrenes Unrecht zu leisten und muss so den schweren Weg nehmen.

Gewalt kennt viele Formen. Die Erzählerin erlebt sie auf vielfältige Weise: verbal, psychisch, physisch. Angst und Sprachlosigkeit sind die Folgen, die sie über viele Jahre lähmen und ihr jedes Selbstvertrauen rauben. So trist die Umgebung in der Nähe des grauen und lärmenden Industrieparks, der nur noch von den unzähligen Flugzeugen übertrumpft wird, so traurig auch das Elternhaus in jeder Hinsicht. Sie lernt früh, unsichtbar und unhörbar zu werden, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Mutter keine Verbündete, kämpft diese noch mit der eigenen Befreiung, die ihr mit der Flucht aus der Heimat vermeintlich schon gelungen war, nur um sie in eine neue, andere Gefangenschaft zu bringen.

Symbolisch zwei Szenen für einerseits die Leere, in der sie schwebt, und andererseits die vermeintlichen Freunde, die an ihrer Seite stehen. Bei einem Aufsatz zum Thema Identität fällt ihr nichts ein. Sie weiß nicht, wer sie eigentlich ist, was sie ausmacht, ebenso wenig wo sie hin will. Trotz hervorragender Zensuren traut ihr die Freundin Sophie, mit bildungsbürgerlichem Hintergrund, reit- und Ballettstunden gesegnet, nicht zu, das Abitur zu schaffen. Obwohl sie ihr Wissen unter Beweis stellt, bleiben immer Zweifel, wird dies als nur zufällig oder vorläufig anerkannt. Sie passt nicht in das Bild und immer wieder finden sich fadenscheinige Gründe, sie wieder beiseite zu schieben.

Es ist kein Roman von Emanzipierung; bei der Rückkehr in die elterliche Wohnung wird sie trotz inzwischen vorhandenem Studienabschluss wieder zu dem unscheinbaren Mädchen, das nichts kann und nichts zählt. Tief haben sich die Erfahrungen aus dem Kindesalter eingeschnitten und Narben verursacht, die sich nicht kaschieren lassen. Ein atmosphärisch düsterer Roman, der ohne plakative Gewaltexzesse doch verdeutlicht, wie grausam ein Leben in Deutschland verlaufen kann. Inhaltlich sicherlich ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Deutschen Buchpreis.

Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Zwei Männer begegnen sich im 18. Jahrhundert in der Fremde auf einer einsamen Insel, von der sie beide schnellstmöglich wieder wegwollen. Carsten Niebuhr reist aus Deutschland nach Elephanta / Gharapuri, eigentlich wollte er nach Arabien, Meister Musa indes kommt aus Jaipur, will eigentlich nach Mekka und strandet ebenfalls auf dem mysteriösen Eiland mit zwei Namen, je nachdem aus welcher Himmelsrichtung man auf sie blickt. Ein Berg bildet den Mittelpunkt, dessen Besteigung aufgrund des Gestrüpps und der wilden Tiere einiges von den Besuchern fordert, die jedoch am Ende mit einer alten Tempelanlage belohnt werden – auch wenn diese inzwischen im Besitz von Affen ist. Es beginnt das Beschnuppern und Missverstehen, der Wettkampf zwischen östlicher und westlicher Sicht auf die Welt und die Gestirne und die Konfrontation zweier sehr verschiedener Individuen.

„Gharapuri lag in der Mitte zwischen zwei Schrecken, Arabien und Jaipur. Völlig sinnlos lag es im Meer. So drückte der Meister das aus. Malik hätte lieber anders gesagt, ›unsichtbar‹ oder ›bescheiden‹. Gott der Allsehende, falls er jemals etwas verpasste, verpasste vielleicht Gharapuri.“

Christine Wunnicke konnte mich bereits 2017 mit ihrem Roman „Katie“ überraschen und begeistern. Für diesen war sie bereits auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis nominiert, im aktuellen Jahr hat sie es mit ihrem Werk auf die Shortlist geschafft und meiner Einschätzung nach hat der Roman auch das Potenzial zum Sieger. Nicht nur besticht er durch einen versierten Sprachwitz, der alle Feinheiten der interkulturellen Verständigungsbemühung vollends ausreizt, daneben bekommt auch die vermeintlich aufgeklärte und erhabene Wissenschaft gehörigen Gegenwind, dem man mit einem Schmunzeln folgt.

Ustad Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri, so der vollständige Name des indischen Astronoms, der es inzwischen aufgegeben hat, den Menschen seine Erkenntnisse näherzubringen, sind diese doch tatsächlich nur daran interessiert, seine Astrolabien in Szene gesetzt auszustellen statt deren Funktionsweise zu begreifen. Auf dem gottverlassenen Berg trifft er auf den ziemlich mitgenommenen Europäer, der sichtlich unter Sumpffieber und Wahnschüben leidet und sich inzwischen über seine Professoren ärgert, die bequem zu Hause sitzen und ihm die beschwerliche Reise aufzwingen. Ein Austausch unter Gelehrten entspinnt sich und keiner spart an guten Ratschlägen und Weisheiten:

„»Was in einer indischen Wand sitzt und schnaubt«, sagte al-Lahuri, »ist erfahrungsgemäß indisch. Mit dieser Regel kommst du recht weit.« Damit wandte er sich ab und ließ den Europäer mit seinen Fragen allein.“

In gleich mehrerlei Hinsicht schildert der Roman Figuren lost in translation. Nicht nur die Sprachbarrieren verhindern gelingende Kommunikation, auch der egozentrische Blick, die narzisstische Überzeugung der eigenen Überlegenheit lässt den Austausch nicht gelingen. Rein menschlich begegnen sich Niebuhr und Meister Musa, hilft letzterer dem Deutschen sein Fieber zu überstehen, in der Deutung der Welt und des Firmaments jedoch liegt einzig Potenzial zum Streit und nicht zur Erkenntniserweiterung.

Die Zweideutigkeit der Sprache und der beginnende Kolonialismus durch die Briten, die als zufällige trottelige Retter ihren Auftritt haben, zerstören letztlich alle Hoffnung auf gegenseitige Bereicherung, obwohl diese auf der individuellen Ebene sogar gelingen könnte. Der Rest ist Geschichte und leider nicht nur Fiebertraum.

Anne Weber – Annette, ein Heldinnenepos

Anne Weber – Annette, ein Heldinnenepos

Ärztin, Kämpferin in der Résistance, militante Unterstützerin des Untergrunds. Geboren 1923 in einfachen Verhältnissen in der Bretagne wird Anne Beaumanoir zu einer der interessantesten Frauen Frankreichs des 20. Jahrhunderts. Noch als Studentin hilft sie während des 2. Weltkriegs zahlreiche Juden zu verstecken und zu retten, riskiert dafür nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch ihre Liebe, denn immer sind ihre Ideale wichtiger als sie selbst. So ist es auch nur natürlich, dass der Algerien-Krieg nach den wenigen Jahren der Ruhe in ihr die Wut und Abenteuerlust aufs Neue entfacht und sie sich für die Freiheit der Kolonialisierten einsetzt. Obwohl sie inzwischen Mutter ist, bleibt das übergeordnete Ziel Orientierungspunkt und wichtiger als persönliche Empfindsamkeiten. Als auch diese Schlacht geschlagen ist, widmet sie sich einem neuen Betätigungsfeld, als Ärztin ist sie prädestiniert am Aufbau des nun vermeintlich befreiten Landes mitzuwirken.

„Gott oder wer auch immer hats gemacht, dass sie hier lebt, alleine, klein und krumm. Krumm nur ein bisschen und auch nur von außen; im Innern ist sie gerade. So gerade wie ein Mensch in dieser Welt nur sein und leben kann.“

Die kleine Grande Dame lebt noch immer, fast 100-jährig berichtet sie nach wie vor in Schulen von ihrem zivilen Ungehorsam für das, was sie für richtig hielt. Anne Weber hat ihr ein Denkmal gesetzt, das nicht nur den bemerkenswerten Lebensweg einer unbeirrbaren, aufrechten und mutigen Frau nachzeichnet, sondern auch mit einem lakonisch-amüsanten Ton überzeugt. Ob dies für den diesjährigen Deutschen Buchpreis reicht, wird man sehen. Für mich auf jeden Fall eine unbedingte Leseempfehlung in jeder Hinsicht.

Ein Leben gewidmet dem Widerstand gegen totalitäre, ungerechte Staatsmacht. Nie zweifelt sie an ihren Idealen, auch wenn diese keinen Platz in der Wirklichkeit finden, ein kommunistischer Staat ohne Repression, dafür mit gleicher Freiheit für alle, muss wohl wirklich eine Utopie bleiben. Das heißt jedoch nicht, dass man Unrecht nicht bekämpfen sollte, wenn man es sieht. Rückschläge und immer wieder die Erkenntnis, dass die neuen Herrscher im Grunde auch nicht besser sind als die alten, können sie nicht abschrecken oder gar aufhalten. Die Männer an ihrer Seite müssen entweder ihren Kampf mitkämpfen oder sich verabschieden, ein klassisches Familienidyll gibt es für sie nicht, zu viel ist sie in geheimen Missionen oder auf der Flucht unterwegs. Sie droht sich selbst dazwischen immer wieder zu verlieren, doch sie treibt sich selbst immer wieder an weiterzukämpfen.

„Die Lage ist nicht grade ideal, um zwei jüdische Kinder zu verstecken. Sie tun es trotzdem. Denken womöglich: In idealen Lagen würde man keinen zu verstecken haben.“

Man kennt viele Geschichten von mutigen Helfern, die sich den Nazis und anderen fast übermächtigen Verbrechern couragiert entgegenstellten. Die Rolle der Frau wird dabei oft verschwiegen oder kleingeredet. Reden schwingen, das erlebt auch Anne Beaumanoir in der Partei, das ist es, was die Männer wollen, Reden schwingen und Macht, trotz Medizinstudium und Doktortitel bleibt für sie als Frau nur die Handlangertätigkeit, dabei ist sie es, die beherzt tut, was getan werden muss und das Machen immer vor das Reden stellt.

„Annette weiß: Was sie tat, ist richtig, vielleicht hat sie nicht das Recht, aber sie hat die Gerechtigkeit auf ihrer Seite, daran hat sie nicht die geringsten Zweifel.“

Sie trägt heute den von Yad Vashem verliehenen Titel „Gerechter unter den Völkern“ als Anerkennung für ihre Rettungsaktionen und das Risiko, das sie damit eingegangen ist. Auch wenn nicht alles legal und vielleicht im Nachhinein nicht die beste Entscheidung war, sie kann sicherlich als ein Vorbild für einen altruistischen Kampf für das höhere Gut gelten. Allein dafür, dass sie diese Frau ins öffentliche Bewusstsein außerhalb Frankreichs bringt, gehört der Autorin eine Auszeichnung.