Karine Tuil – Menschliche Dinge

Karine Tuil Menschliche DInge
Karine Tuil – Menschliche Dinge

Einfluss und Macht, darum geht es im Paris 2016. Jean Farel ist seit Jahrzehnten angesehener Journalist und Moderator der wichtigsten politischen Diskussionssendung im Land. Alle Präsidenten kennt er, alle wichtigen Franzosen hat er interviewt. Seine Frau Claire ist ebenfalls gefragt als Journalistin und Essayistin, dass ihre Ehe schon lange nur noch Show für die Öffentlichkeit ist, ist für beide mit ihren jeweiligen Partnern in Ordnung. Ihr gemeinsamer Sohn Alexandre ist ebenfalls mehr als wohlgeraten: mit besten Noten die Schule abgeschlossen, an der besten Universität Frankreichs angenommen und nun Student in Stanford. Doch der Abend, an dem Jean Farel eine der höchsten Ehren des Landes zuteilwird, wird ihr Leben durcheinanderwirbeln. Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür mit einem Durchsuchungsbeschluss, es liegt eine Anzeige vor: Alexandre soll die Tochter von Claires Lebensgefährten brutal vergewaltigt haben.

Karine Tuil greift in ihrem Roman eine reale Begebenheit auf, den sogenannten „Fall Stanford“, der die allseits bekannte Verbindungskultur an den amerikanischen Universitäten mit ihren alkoholreichen Partys und den zahlreichen, meist verschwiegenen, Übergriffen auf oft noch minderjährige Studentinnen über die Landesgrenzen hinaus in den Fokus der Öffentlichkeit brachte. Tuil nähert sich dem eigentlichen Geschehen auf höchst interessante Weise, stehen zunächst Alexandres Eltern im Zentrum der Handlung, immer jedoch auch schon mit Bezug zu dem, was heute unter dem Hashtag #metoo-Debatte subsumiert wird. Facettenreich wird das Thema beleuchtet und der Komplexität dadurch auch im Rahmen von Fiktion durchaus gerecht, weshalb der Roman erwartungsgemäß 2019 gleich für mehrere angesehene französische Literaturpreise nominiert war.

„Menschliche Dinge“ ist ein vielschichtiger Roman, der zahlreiche Diskussionspunkte liefert. Obwohl die Vergewaltigung im Mittelpunkt steht, ist für mich aber die Figur Jean Farel fast noch zentraler. Er ist als Inbegriff des alten, mächtigen Mannes, der in seinem Narzissmus hervorragend skizziert ist. Es vergeht kaum eine Seite, auf der man nicht über ihn den Kopf schütteln muss, sein verächtlicher Umgang mit Frauen, die Paranoia bezüglich seines Aussehens und Ansehens, exzentrisch plant er die Ordensverleihung, sein Parallelleben mit Françoise, seine rücksichtslose Kindererziehung – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Eine hochinteressante Persönlichkeit hat die Autorin geschaffen, wobei es zahlreiche reale Vorlagen gegeben haben dürfte, man denke nur an Dominique Strauss-Kahn, den Farel an einer Stelle bewundert. Aber es gibt auch einen Bruch, der sich in seiner Langzeit-Geliebten zeigt: als Françoises Demenz immer weiter voranschreitet, verlässt er sie nicht, sondern behandelt sie liebevoll und zärtlich, fast besser als zuvor.

Auch Claire ist als Gegenpart spannend geraten, beginnt ihre Geschichte mit dem Monica Lewinsky Skandal und wird sie später durchaus als Vertreterin des Feminismus präsentiert. Sie gerät in das ganz persönliche Dilemma zwischen ihren Ansichten als öffentliche Frau und ihrem Sohn als Beschuldigtem. Dieses lässt sich nicht auflösen und sie ist es letztlich, die die ganz große Verliererin ist. Immer wieder hat sie wie viele erfolgreiche Frauen Sexismus und übergriffiges Verhalten schweigend ertragen, um ihre Karriere nicht zu gefährden und weil sie wusste, dass dies nun einmal der Preis ist, den sie als Frau dafür zu zahlen hat. Am Ende hat sie alles verloren, während ihr Mann immer noch in die Kameras lächelt.

„Ihr ganzes Leben lang hatte ihr Handeln im Widerspruch zu den Werten gestanden, zu denen sie sich öffentlich bekannte. Auch das war Gewalt: die Lüge, das verfälschte Bild des eigenen Lebens. Die Verleugnung. Der Weg, den sie abseits der Realität eingeschlagen hatte, um diese ertragen zu können.“

Den Großteil der Handlung nehmen die Ermittlungen und der Prozess ein. Zwei sich widersprechende Aussagen, die beide wahr und falsch sein können. Gewinner gibt es hier keine, Alexandre ist seelisch gebrochen hat sein Studium und seine Berufsaussichten aufgeben müssen. Mila ist psychisch gezeichnet von den Erlebnissen und fern davon, in so etwas wie Normalität zurückkehren zu können. Es bleiben Zweifel an beiden Darstellungen, was ich von Karine Tuil sehr gelungen finde, denn genau hier liegt oftmals die Krux: Selbst- und Fremdwahrnehmung können voneinander abweichen, die gleiche Situation unterschiedlich beurteilt werden. Das darf kein Freibrief für Gewalt sein, aber ebenso wenig für spätere Anklagen aus Scham vor dem eigenen Handeln. Die Nicht-Auflösung wird dem Konflikt daher mehr als gerecht.

Noch viel mehr ließe sich sagen zu diesem herausragenden Roman, der neben den Figuren und komplexen Problematik auch durch eine pointierte Sprache überzeugt. Für mich ein Lesehighlight in jeder Hinsicht.

Daniel Zipfel – Die Wahrheit der anderen

daniel zipfel die wahrheit der anderen
Daniel Zipfel – Die Wahrheit der anderen

Nach dem Tod eines asylsuchenden Pakistaners ist die Stimmung in Wien aufgeheizt. Auf einem zentralen Platz demonstrieren Freunde des Toten und Sympathisanten gegen Polizeigewalt und Asylpolitik. Der Journalist Uwe Tinnermans, der für das Boulevardblatt Metro schreibt, wittert seine Chance auf einen Scoop und tatsächlich gelingt ihm ein aufsehenerregendes Foto mit der jungen Pakistanerin Veena Shahida und einem Polizisten. Dass die Situation sich real ganz anders darstellte als das, was man beim ersten Blick auf dem Bild zu erkennen glaubt – geschenkt. Zunächst ist die junge Frau verärgert darüber, ohne Zustimmung überall ihr Gesicht zu sehen, doch dann glaubt sie in dem Reporter jemanden gefunden zu haben, der für sie kämpft und ihr zu einem Aufenthaltstitel verhelfen kann. Ganz im Gegensatz zu ihrer Anwältin, zu der sie das Vertrauen verloren hat. Ein Journalist voller Sensationsgier und bereit für den großen Sprung auf der Karriereleiter und eine Gruppe von wütenden Asylbewerbern – eine brisante Mischung, die die österreichische Hauptstadt aufzumischen droht.

Daniel Zipfel ist studierter Jurist und im Bereich der Flüchtlingsarbeit gearbeitet, weiß also, worüber er schreibt. Mich hat der Roman aufgrund der immer noch aktuellen Thematik gereizt, vor allem die Spannung zwischen realen Geschehnissen und deren Darstellung in und Instrumentalisierung durch die Medien finde ich ein problematisches, wenn auch ausgesprochen interessantes Motiv. Die Umsetzung gelingt dem Autor hervorragend und noch viel mehr als erwartet zeigt er auf, an welchen Stellen Wahrheit und Erzählung auseinanderfallen können und wie ganz individuelle Motivationen nachhaltig den Verlauf der Dinge beeinflussen können.

„Wir sind Welterzähler. Wir vereinfachen eine Welt, die zu kompliziert geworden ist.“ (S. 170)

Die Rolle der Medien ist eine ganz wesentliche in unserer Welt. Es ist völlig unstrittig, dass viele Konflikte und Sachverhalte für den Durchschnittsmenschen nicht mehr über- oder durchschaubar sind und dass Zeitung, Fernsehen und zunehmend auch Internet hier eine Vermittlerrolle übernehmen müssen, um Aufklärung und Information zu betreiben. Als sogenannte vierte Gewalt kommt den Medien zudem ein Kontrollauftrag zu, der in einer Demokratie auch nicht zu unterschätzen ist.

„Seit wann stört es dich, wenn man da und dort ein wenig nachhilft?“ (S. 122)

Wer jedoch kontrolliert die Medien? Sie selektieren, viele Ereignisse kommen gar nicht erst durch oder müssen sich mit einer kleinen Randnotiz begnügen. Im Roman gehen die beiden Journalisten Tinnermans und sein Mentor Brandt jedoch noch weiter: sie berichten ohne Faktenlage, reimen sich Dinge zusammen und schreiben gnadenlos ab. Sie schaffen neue Kontexte und damit Wahrheiten, die es vorher nicht gab. Wo Brandt durch seinen Alkoholgenuss gelegentlich einen Ausfall versucht zu kaschieren, geht Tinnermans noch weiter. Ihm fehlt jeder ethische Grundsatz und rücksichtslos bedient er sich der Menschen für seine eigenen Zwecke – auch wenn er sie dadurch wissentlich ins Verderben schickt: ob sie jetzt durch ihren Hungerstreik zusammenbrechen oder letztlich abgeschoben werden, so lange er seine Geschichte hat, ist für ihn alles in Ordnung.

Veenas Anwältin scheint zunächst nur daran interessiert, schnell den Fall zu Ende zu bringen, um den Schlusspunkt unter ihre Karriere zu setzen. Auch sie beherrscht die Spielregeln ihres Berufs und weiß, wie vor Gericht eine Lebensgeschichte präsentiert werden muss, um die erstrebte Entscheidung zu erreichen. Dieser zunächst berechnend-kaltherzige Auftritt wandelt sich jedoch im Laufe der Handlung und lässt die Figur schließlich in einem ganz anderen Licht erscheinen. Umgekehrt verhält es sich mit ihrer Mandantin, hat man anfangs noch viel Sympathien für sie, verlieren diese sich immer mehr und schlagen ins Gegenteil um.

Thematisch brisant und aktuell besticht der Roman für mich jedoch noch deutlich mehr mit der geschickt aufgezeigten Doppelbödigkeit der vermeintlich objektiven Wirklichkeit. Immer wieder muss man seine Meinungen revidieren und Fakten neu bewerten. Die Tatsache, dass am Ende vieles offen bleibt, entlässt den Leser mit der Ungewissheit des Lebens. Es wird einem beim Lesen dramatisch bewusst, wie fragil und wie wenig eindeutig das Konzept Wahrheit oftmals ist und wie wenig sicher man sich eigentlich sein kann.