Andreas Stichmann – Eine Liebe in Pjöngjang

Andreas Stichmann – EIne Liebe in Pjöngjang

Claudia Aebischer reist als Leiterin einer Besuchergruppe zur Einweihung einer Deutschen Bibliothek nach Nordkorea. Sie war schon häufiger da, kennt die Gepflogenheiten und ist auch nicht mehr darüber verwundert, wie sich die Welt mit dem Grenzübertritt schlagartig verändert. Doch dieses Mal ist etwas anders, denn sie lernt Sunmi kennen, hochbegabte Dolmetscherin und Agentin, die ihr einen anderen Blick auf das fremde Land und sich selbst ermöglicht.

Andreas Stichmann hat bereits zahlreiche Förderstipendien und Preise erhalten, weshalb seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis nur eine Frage der Zeit war. „Eine Liebe in Pjöngjang“ entstand nach einer Nordkoreareise, wenn auch das zentrale Thema universell ist und das abgeschottete kommunistische Land nur die Kulisse für die Liebe der beiden Frauen bildet. Ein insgesamt sehr literarischer Roman mit zahlreichen Anspielungen und Intertextualitäten, der sicherlich eher Leser mit einem entsprechenden Hintergrund anspricht und begeistert.

Die beiden Protagonistinnen sind nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Handlung, sondern derart widersprüchlich, gegensätzlich und verschieden angelegt, dass ihr Tanz zueinander zu einem interessanten Spiel wird, dem man mit wachsender Spannung folgt. Es werden Grenzen überschritten, Regeln unterwandert und Freiheiten genommen, die es eigentlich nicht geben darf. Sprachlich pointiert entsteht eine Liebe jenseits von allem Kitsch und abgedroschenen Phrasen.

Pjöngjang und die Funktionsweisen des Landes werden nicht erklärt, Stichmann berichtet kaum etwas, das man nicht schon wusste oder zumindest erahnte, er politisiert nicht, sondern schafft einen Rahmen, in dem trotz aller Widrigkeiten etwas wachsen und gedeihen kann.

Ein kurzer Roman, der mich sofort begeistern konnte und nicht mehr losließ. Eine intensive Geschichte, die sich auf das Wesentliche konzentriert und genau damit überzeugt.

Matt Haig – The Midnight Library [Die Mitternachtsbibliothek]

Matt Haig – The Midnight Library

Nora Seeds Leben hätte wahrlich besser verlaufen können, mit 34 ist sie einsam und hat auch noch ihren Job verloren. Eines Abends klingelt es an ihrer Tür, ihre Katze Voltaire wurde überfahren. Wozu nun noch weiterleben? Sie beschließt dem Drama ein Ende zu setzen und findet sich plötzlich in einer Bibliothek wieder, in der die Uhr immer Mitternacht zeigt. Erwartet wird sie dort von Mrs Elm, ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin, die erklärt, dass jedes Buch ein anderes mögliches Leben Noras erzählt. Jede Entscheidung führt zu einem anderen Verlauf. Nora befindet sich gerade in der Zwischenwelt und kann ausprobieren, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie einen anderen Weg genommen hätte. Plötzlich können die Träume der ehemaligen Schwimmerin und Sängerin doch noch wahr werden.

Matt Haigs „The Midnight Library“ ist ein fantastisches Buch, das aktuell genau jene Flucht vor der Realität erlaubt, die man 2020 verzweifelt sucht. Es ist eine Reise in unterschiedliche Leben, die sich Nora als Kind und Jugendliche erträumte und die nun Realität werden könnten. Ganz unterschiedliche Verläufe darf sie ausprobieren, mal erfolgreiche Musikerin, mal Gletscherforscherin mit lebensbedrohlichem Eisbärenkontakt, mal Mutter – doch jedes Leben hat auch seine Schattenseiten wie sie feststellen muss. Jeder erfüllte Wunsch hat seinen Preis und bald schon merkt sie, dass keines der Leben perfekt ist. Vielleicht kommt eines jedoch dieser Vorstellung recht nahe –  vielleicht möchte Nora doch nicht sterben, sondern nur nicht mehr so weiterleben wie bisher. Aber einfach so in ihr altes Leben, dem sie gerade einen Endpunkt verpasst hatte, kann sie nicht.

So reizvoll das Szenario ist, es zeigt Nora doch auch, worauf es im Leben letztlich ankommt und was vielleicht doch gar nicht so wichtig ist. Vor allem nicht so entscheidend, einen Selbstmord zu begehen. Mal heiter-lustig, mal eher nachdenklich gestaltet Haig seine Geschichte und lädt den Leser dazu ein, ebenso wie Nora über verpasste Chancen, aber auch das, was gut gelaufen ist, nachzudenken.

Mariette Lindstein – Die Sekte. Es gibt kein Entkommen

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Mariette Lindstein – Die Sekte. Es gibt kein Entkommen

Sofia ist nach dem Ende ihres Studiums noch ratlos, wie es weitergehen soll. Auf einem Vortrag lernt sie den charismatischen Franz Oswald kennen, der sie auf die Insel Västra Dimö einlädt, wo er unter dem Begriff ViaTerra ein Programm anbietet, mit dem die Menschen wieder zu sich finden sollen. Das großzügige Anwesen und die Landschaft der Insel nehmen sie direkt gefangen. Auch die Meditationen zeigen bald schon ihre Wirkung und als Oswald ihr anbietet, die Bibliothek in seinem Zentrum zu leiten, muss Sofia nicht lange nachdenken. Die Regeln, die für die Mitarbeiter gelten, sind hart, aber nur so kann der Wandel gelingen und Oswald lebt ihnen vor, wie man mit Askese Großes erreichen kann. Doch bald schon mischen sich unter Sofias anfängliche Begeisterung auch Zweifel an dem, wie er die Gemeinschaft führt, denn die Strafen werden zunehmend drakonischer und mehr und mehr kommt sie sich eingesperrt vor und beginnt zu hinterfragen, was sich hinter den hohen Mauern abspielt.

Die Autorin Mariette Lindstein war selbst 25 Jahre lang Mitglied einer Sekte, kennt also die typischen Mechanismen und Strukturen, mit denen smarte Anführer ihre Schäfchen ruhigstellen und gefügig machen. Neben der Thrillerhandlung und der Frage, ob es Sofia gelingen wird, sich aus den Klauen der Sekte zu befreien, liegt hier die ganz große Stärke des Romans. Unterschiedliche Figuren erhalten die Gelegenheit nebenbei ihre Gründe auszubreiten, weshalb sie menschenverachtende und erniedrigende Situationen aushalten und nicht versuchen zu fliehen. Erschreckenderweise ist ihre Argumentation oft nachvollziehbar, was jedoch erklärt, weshalb es immer wieder dazu kommt, dass Menschen zum Teil Jahrzehnte eine solche Situation erdulden.

Als Leser und damit Außenstehender erkennt man recht schnell die Strategien, die Franz Oswald nutzt, um Mitglieder für ViaTerra zu gewinnen. Sofias Ankunft in der Gemeinschaft lässt sie zunächst die positiven Seiten erleben, die es ohne Frage gibt. Aus ihrer Lebenssituation heraus ist eine nachvollziehbare Entscheidung, sich den Regeln zu unterwerfen, um ein Teil der Bewegung zu werden.

Spannend wird die Geschichte ab dem Moment, ab dem das fröhlich-befreiende Gefühl einem Unbehagen weicht und sich die andere Seite des Anführers zeigt. Auch wenn man weiß, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt, sind die Demütigungen doch unerträglich und man verzweifelt schier dabei zuzusehen, wie niemand den Mut aufbringt zu widersprechen oder sich aufzulehnen. Psychisch zermürbt und physisch ausgelaugt sind sie irgendwann dazu auch nicht mehr in der Lage. So wie es den Mitarbeitern zunehmend schlechter geht, scheint Franz Oswald einerseits damit beschäftigt, da Schadensbegrenzung zu betreiben, wo unliebsame Informationen nach außen gedrungen sind und Kritik laut wird, andererseits scheint er an etwas Großem zu arbeiten, was er noch vor allen geheim hält.

Die Geschichte zieht einem sofort in einen Bann und kann sowohl als Thriller wie auch als abschreckendes Beispiel für die Funktionsweise von Sekten überzeugen. Mariette Lindstein hat die Story um Sofia als Trilogie angelegt, Band eins war für mich jedoch abgeschlossen und alle Fragen beantwortet.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zur Autorin und zur Trilogie finden sich auf der Random House Verlagsseite.

Charles Lewinsky – Der Stotterer

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Charles Lewinsky – Der Stotterer

Johannes Hosea Stärckle ist ein Meister des Wortes. Aber nur des geschriebenen Wortes, gesprochen bekommt er kaum mehr eine Silbe heraus, bevor das Stottern losgeht. Das war mal anders, aber Geschehnisse aus seiner Kindheit haben ihn zu dem gemacht, was er ist und das geschriebene Wort wurde zu seinem Beruf. Jedoch nicht als Journalist oder Schriftsteller, sondern als Betrüger, weshalb er auch jetzt eine Gefängnisstrafe absitzen muss. Dies hindert ihn jedoch nicht am Schreiben und der Padre wird sein Publikum. Ihm vertraut er sich, erzählt aus seiner Kindheit in der Sekte, den Umgang des Vaters mit seinem Stottern, aber auch dem Betrug, den er begangen hat – was klingt wie die Beichte eines Geläuterten, stellt sich jedoch bald schon als weitere Manipulation heraus. Seinen Mitinsassen bleibt sein Talent nicht verborgen und wissen ebenfalls daraus Profit zu schlagen, den Wehren kann sich der Stotterer kaum.

Charles Lewinsky ist seit vielen Jahren eine feste Größe in der Schweizer Literaturwelt. Zahlreiche seiner Romane wurden für hochrangige Preise nominiert und ausgezeichnet. Sein neuer Roman zeichnet sich für mich durch eine pointierte und treffgenaue Sprachgestaltung aus, inhaltlich konnte mich sein Protagonist nicht ganz überzeugen.

Genaugenommen gibt es nur eine Erzählstimme, die des Johannes Hosea Stärckle, der sich jedoch mal in Briefen an seinen Padre wendet, mal in seinem Tagebuch Trost sucht, mal als Geschichtenerzähler und auch als Briefeschreiber auftritt. Je nach Adressat wandelt sich Ton und Ausdruck, wirkt glaubwürdig und überzeugend. Dass die Straftäter sein Ausdrucksvermögen in seinem Sinne nutzt und auch im Gefängnis die Möglichkeiten von Manipulation und mitleiderregender Dramatik voll ausspielt, ist bei der Anlage des Charakters nachvollziehbar. Man muss sich am Anfang am Riemen reißen, um seinen Schelmenmärchen nicht zu glauben und in ihm nicht das Opfer zu sehen, als das er sich stilisiert.

Das Schreiben steht im Zentrum, dafür werden andere interessante Aspekte – die Hackordnung im Gefängnis, die Mechanismen, mit denen dort Macht demonstriert wird u.a. – an den Rand gedrängt, was ich etwas schade fand. Vor allem, da diese ihm letztlich seinen großen Wunsch ermöglichen.

Man kann sich mit Stärckle nicht identifizieren. Er ist zweifelsohne ein intelligenter Zeitgenosse, der geschickt die Fäden in der Hand hat, aber als Sympathieträger taugt er nicht. Eher als noch abschreckendes Beispiel, denn seine Manipulationsversuche machen vor nichts und niemandem halt.

Für mich war es letztlich etwas zu viel des Protagonisten. Keine andere Sicht, kein Schritt zurück durch eine neutrale Erzählinstanz, nicht einmal Antworten auf die zahlreichen Briefe erhält man als Leser, was einen ein wenig erdrückt. Zumal die Märchen Stärckles auch sehr viel Raum einnehmen. Sprachlich gelungen, auch die zentrale Figur interessant in der Anlage, aber letztlich genau dadurch etwas übers Ziel hinaus geschossen.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Roman und Autor finden sich auf der Verlagsseite.

Un-Su Kim – Die Plotter

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Un-Su Kim – Die Plotter

Eine Wahl für sein Leben hatte er nie. Raeseng ist schon in der Bibliothek bei Old Raccoon aufgewachsen und dort ganz selbstverständlich in das Metier eines Auftragskillers eingeführt worden. Doch die Lage in Seoul verändert sich, Wahlen stehen an, die Regierung schwächelt und es scheint als wenn unter den Plottern, die seit Jahrzehnten im Land entscheiden, wessen Tage gezählt sind, ein Machtkampf ausgebrochen ist. Auch Raeseng bemerkt, dass seine Arbeit kritischer wird und dass auch er selbst ins Visier der Plotter geraten zu sein scheint – eine Bombe in seiner Wohnung ist da doch recht eindeutig. Er forscht nach und kommt einer kleinen, aber interessanten Gruppe auf die Schliche, die ihn auf ihrer Liste stehen hat.

Koreanische Literatur ist häufig etwas härter als der durchschnittliche deutsche Krimi, auch „Die Plotter“ erfüllt in dieser Hinsicht alle Erwartungen. Menschenleben sind nichts mehr als Spielfiguren in einem Schachspiel, die bisweilen an die falsche Stelle rücken und dann aus dem Spiel entfernt werden. Ein ewiger Kampf ums Überleben, der am Ende nur einen Sieger kennen kann.

Zunächst erscheint der Auftragskiller als Protagonist eher unnahbar in seiner Abgeklärtheit und Kühle. Aber im Laufe der Handlung entwickelt Raeseng immer mehr Profil und vor allem zeigt sich seine menschliche Seite. Er ist keineswegs so gefühllos, als dass er unhinterfragt jeden Auftrag nach Vorgabe ausführt und sich keine weiteren Gedanken um seine Opfer macht. Gerade dieser humane Zug wird ihm schließlich zum Verhängnis, zeigt aber auch, dass man zwar in ein Milieu hineingeboren werden, aber trotzdem so etwas wie Mitgefühl entwickeln kann. Seine Neigung zur Literatur ist glaubwürdig motiviert, aber doch so außergewöhnlich für seinen Berufsstand, dass es die Figur umso interessanter macht.

Die Handlung ist in gewissen Maße abzusehen, die Erinnerungen Raesengs bringen diese auch weniger voran als dass sie zur Profilschärfung des Protagonisten dienen. Das Trio, das Raeseng letztlich ausmacht, hat auch eine recht unerwartete Note, in diesem Punkt kann der Roman sich wahrlich aus der Masse hervorheben: ein Mangel an Überraschungsmomenten kann man Un-Su Kim sicher nicht vorwerfen und derart eigene, ausgefeilte Charaktere findet man auch eher selten. Insgesamt ein stimmiger und außergewöhnlicher Thriller.