Claudia Durastanti – Die Fremde

Claudia Durastanti – Die Fremde

Eine junge Frau zwischen den Welten. Ihre Eltern sind beide gehörlos, haben ihre eigene Sprache aber keine, die sie mit der Tochter teilen. In Brooklyn geboren wächst sie in einem süditalienischen Dorf auf, wo sie jedoch nie wirklich dazugehört. Sie weiß nicht, welcher Schicht sie angehört, verbringt die Sommer in den USA, wo sie bei den Cousinen ebenfalls eine Fremde bleibt. Auch an der Universität und später in England kann sie das Gefühl nicht ablegen, zwischen allen zu schweben und ihren Platz nicht zu finden. Sie kommt sich fast wie eine Betrügerin vor, als sie in die akademischen Kreise eindringt und verarbeitet ihre Erlebnisse und Emotionen nun literarisch, die einzige Form, die nicht in der Realwelt festgelegt ist und so auch ihr einen Heimatort liefert.

„Meine Mutter fehlte mir, wenn sie verschwand, aber sie war nebelhaft und mein Vater eine tiefschwarze Galaxie, die jede physikalische Theorie widerlegte.“

„Die Fremde“ ist Claudia Durastantis vierter Roman und scheinbar der erste, der in deutscher Übersetzung erschienen ist, obwohl die Autorin bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und sie sich als Mitbegründerin des Italian Festival of Literature in London und Beraterin der Mailänder Buchmesse einen Namen gemacht hat. Der autobiografische Roman gibt Einblicke in eine außergewöhnliche Familie und einer großen Einsamkeit, die sie als Kind und Jugendliche empfunden hat.

„ich fürchtete, jemand könnte mich als das erkennen, was ich war: eine, die sich eingeschlichen hatte. Ich trug die richtigen Kleider, besaß das gleiche Telefon wie die anderen, aber ich hatte arbeiten müssen, um es mir zu beschaffen, (…)“

Wie soll man sich in der Welt zurechtfinden, wenn die Eltern in ihrer ganz eigenen leben? Claudia Durastanti schildert die Begegnung der Eltern und den Freigeist ihrer Mutter, die – als Gehörlose außerhalb aller gesellschaftlichen Normen stehen – genau das auslebt, was sie möchte, keine Grenzen und Konventionen kennt und daher frei ist von allen Zwängen, die ihre Tochter umso stärker wahrnimmt. Diese nähert sich über Familie, Orte, Gesundheit, Arbeit und Liebe immer wieder der Mutter an, die jedoch für sie wie auch für den Rest der Familie eine Fremde bleibt.

Die große Verunsicherung und Einsamkeit des Mädchens und der jungen Frau sind in jeder Zeile zu spüren, ebenso wie die Bewunderung für die Eltern, die sich scheinbar unbeschwert finden konnten, weil sie sich finden mussten. Die Autorin findet eine poetische Sprache, um die Emotionen zum Ausdruck zu bringen und die Höhenflüge der Mutter ebenso wie die Tiefen von Verwirrung und Depression akzentuiert wiederzugeben.

Obwohl stark autobiografisch schon jetzt für mich einer der vor allem sprachlich stärksten Romane des Jahres 2021.

Ein herzlicher Dank geht an den Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Verlagsseite.

Yasmina Reza – Anne-Marie la Beauté [dt. Anne-Marie die Schönheit]

Yasmina Reza – Anne-Marie la Beauté

Anne-Marie ist alt geworden, kann nur noch wenige Schritte mit ihrem Gehstock gehen und hat auch außer der Journalistin, die sie eingeladen hat, nur noch wenige Menschen, mit denen sie reden kann. Dabei hat sie so viel zu erzählen, aus ihrem Leben und vor allem der Zeit im Theater von Clichy, wo sie ihre Schauspielkarriere starten wollte. Sie, das Mädchen vom Lande, das auch nicht wirklich mit Schönheit gesegnet war. Ganz im Gegensatz zu Gigi, Giselle Fayolle, die jeden auf dem Sofa liegend empfing, Liebhaber wie Journalisten, und die sie zeitlebens bewundert hat. Doch nun ist auch Gigi verstorben, wie all die anderen, nur Anne-Marie weilt noch auf Erden und hält die Erinnerung wach.

Man merkt dem kurzen Text von Yasmina Reza an, dass er – genau wie viele andere ihrer Bücher – für die Bühne geschrieben wurde und dort sicherlich noch mehr wirkt als auf Papier. Die ältere Dame, die einer längst vergangenen Zeit nachhängt, gedanklich immer noch in dieser gefangen ist und sich nie von der Bewunderung der zwei Jahre älteren Kollegin lösen konnte muss fantastisch wirken mit der richtigen Schauspielerin. Wenn die Rolle in all ihren Nuancen ausgefüllt wird, benötigt das Drama keine weiteren Figuren.

Während Anne-Marie einen biederen und langweiligen, dafür aber verlässlichen Mann geheiratet hat, genoss Gigi das Leben in vollen Zügen, was sie den Klatschblättern bei der Pediküre entnehmen konnte.

« Il ne faut pas oublier une chose madame: dans notre monde on tome de haut. »

Erinnerungen, mal freudig, mal bitter, mal geradezu banal. Ein Traum von dem, was hätte sein können, aber nie war. Man kann sich die ältere Madame gut vorstellen, wie sie nun, als letzte Verbliebende, Hof hält und die Aufmerksamkeit der Journalistin bekommt, der sie ein Leben lang nachgetrauert hat. Ein Leben im Schatten, niemals kam jemand in die rue des Rondeaux, wo sie mit ihrem Mann wohnte und sich wie in die Kindheit im Norden zurückversetzt fühlte, nur noch einsamer. Doch plötzlich ist da ein Scheinwerfer, der jedoch auch nicht den Glanz zaubern kann, der nie da war. Jetzt hat sie die Bühne und lässt ihrem Mund freien Lauf.

Wie gewohnt bissig, was jedoch wieder auf die Figur zurückfällt, aber dem Leser respektive Zuschauer auch dezent den Spiegel reicht, um die eigene Erkenntnis zu ermöglichen.

Amélie Nothomb – Frappe-toi le cœur

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Amélie Nothomb – Frappe-toi le cœur

Diane ist ein sensibles und hochbegabtes Mädchen. Von ihrer Mutter Marie wird sie vom ersten Tag an mit strenger Härte und ohne Zuwendung erzogen, denn ihre Liebe benötigt diese für Dianes Bruder und Schwester. In der Schule findet sie jedoch eine gute Freundin, deren Familie sie nach dem Tod ihrer Eltern aufnimmt. Für Diane ist schon in jungen Jahren klar, dass es nur einen Beruf geben kann: den des Arztes, genaugenommen kann sie nur Kardiologin werden, denn das Herz, das sie in ihrer eigenen Familie vermisst hat, fasziniert sie zeitlebens. An der Universität trifft sie auf die Dozentin Olivia, die sie bewundert und der sie nacheifert – nicht ahnend, dass der Preis für die Bewunderung, die sie der Frau entgegenbringt, hoch sein wird.

Amélie Nothombs Bücher sind immer etwas überraschend und auf ihre ganz eigene Weise treffen sie ins Schwarze, das sich genau da befindet, wo es besonders weh tut. Wie auch schon in anderen Romanen schreibt sie in „Frappe-toi le cœur“ von Beziehungen, die nicht gelingen oder gar als Nicht-Beziehungen bezeichnet werden könnten. Das Böse, Kaltherzige des Menschen bringt sie zum Vorschein, ebenso wie die große Einsamkeit, der dieses Mal ihre junge Protagonistin ausgesetzt ist.

Es braucht nicht viel, um Diane ins Herz zu schließen, ein sensibles Mädchen, das in einem kalten familiären Umfeld aufwächst. Es verwundert nicht, dass sie in Olivia eine Frau findet, die das verkörpert, was ihre Mutter nicht ist. Die sie ermutigt, ihre Stärken sieht und fördert und die Zuwendung entgegenbringt, zu der Marie nie fähig war. Diane hätte die Gefahr womöglich sehen können, basierend auf ihren Kindheitserfahrungen, aber was blendet man nicht alles aus, wenn der Blick vernebelt ist.

Die belgische Schriftstellerin kreiert immer wieder psychologisch interessante Konstellationen in ihren Romanen. Dieses Mal sind es die schwierigen Mutter-Tochter-Beziehungen, die sie unter die Lupe nimmt und seziert. Männer sind weitgehend abwesend, nur am Rande treten sie in Erscheinung, aber für die Handlung sind sie irrelevant. Vor allem die jungen Frauen sind gefordert, Diane ebenso wie Olivias Tochter, sie müssen sich befreien und ihren Weg finden. Und dieser liegt erfreulicherweise nicht im plötzlich auftauchenden Prinz Charming, den sie passiv erwarten und der sie errettet.