Tina Uebel – Dann sind wir Helden

Tine Uebel – Dann sind wir Helden

Der Held – Figur der klassischen Sagen, der außergewöhnliche Leistung vollbringt und sich dadurch von seinen Mitmenschen abhebt. Herausragende körperliche Fähigkeiten, Mut oder Kampf für höhere Ideale kennzeichnen ihn. Wer möchte nicht gerne eine solche Beschreibung auch auf sich beziehen? Vielleicht ist ja Ruth eine Heldin, wie sie sich in den Schweizer Bergen in ungeahnte Höhen hervorwagt und ihren Körper an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit führt. Oder auch Jero, der als Bergführer nicht nur Experte für komplizierte Wege ist, sondern seinen Kunden diese besonderen Erlebnisse erst ermöglicht, die sie in einen Rausch versetzen. Kathrin möchte auch etwas in anderen bewegen und wird mit ihrem Videoblog zu einem Internetstar – warum sollte auch nicht eine Hausfrau von ihrer Veranda aus wichtige Messages in die Welt senden können? Ihr 17-jähriger Sohn Simon belächelt dies etwas, aber er ist auch auf der Suche nach den ganz intensiven Erfahrungen, die er in Hannover sicherlich nicht machen kann. Ruth, Jero, Kathrin, Simon – Alltagshelden oder doch eher größenwahnsinnige Spinner?

Tina Uebels Roman spielt mit der Hybris des modernen Menschen und beleuchtet die Facetten, die uns tagtäglich überall begegnen. Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, das ausufernde Sendungsbewusstsein und die Jagd nach immer größeren und spektakuläreren Erlebnissen lenken die Figuren nicht nur vom Alltag, sondern von den naheliegenden und den essentiellen Dingen ab. Die Heldenfrage ist schnell geklärt, nicht einmal als tragische Helden taugen die Figuren. Aber ihnen zu folgen hat einen unheimlichen Unterhaltungswert, wenn auch Fremdschämen ein Wort ist, an dem man in diesem Zusammenhang nicht vorbeikommt.

„Mißgriff, denkt Ruth, während Frank sich an ihr festsaugt wie ein Putzerfisch. Aber man muß es positiv sehen, mag sich auch ihr Lustgewinn in überschaubaren Grenzen halten, so lassen sich doch seine Bemühungen möglicherweise als Hygiene verbuchen.“

Ruths Männerbekanntschaften können schon lange nicht mehr den Erwartungen Stand halten, urkomisch mit abgeklärt sarkastischem Ton beschreibt die Autorin die verächtlichen Gedanken, die der Frau so durch den Kopf gehen, während der Mann sich gerade an ihr abmüht. Die zwischenmenschlichen Beziehungen liefern weder auf körperlicher noch auf geistiger Ebene Lust oder andere Gewinne. Erst allein mit sich und der abweisenden Natur kann Ruth so etwas wie Erhabenheit spüren und sich dem Eindruck hingeben, noch etwas ganz Großes zu erleben.

Der stärkste Kontrast besteht sicher zwischen ihr und Kathrin, der Gattin ebenjenes Mannes, für den Ruth nur die Bezeichnung „Putzerfisch“ findet. Kathrin ist nicht nur einem zweifelhaften Guru verfallen – dessen Sendungsbewusstsein ebenfalls nur als ganz großes Kino bezeichnet werden kann – sondern sieht sich mit ihrem Blog als Sprachrohr der Frau von nebenan, mit der man sich austauscht und nett plaudert. Kein Klischee, kein Fettnäpfchen lässt sie aus und erobert gerade damit ihre Followers. So mancher Internetstar lässt einem verwundert die Augen reiben, Kathrin wird geradezu zum Paradebeispiel der Spezies.

„Dann sind wir Helden“ hält uns pointiert den Spiegel vor, indem die Laster der Gegenwart personifiziert auf die Spitze getrieben werden. Natürlich sind sie überzeichnet, was es jedoch leichter macht sie anzunehmen und die eigenen Fehlbarkeiten zu erkennen. Natürlich will niemand so sein und doch steckt zugegebenermaßen ja ein wenig von allen in uns selbst. Den Heldenmythos gnadenlos zurück auf den Boden der Tatsachen geholt – so geht Literatur.

Ein herzlicher Dank geht an den C.H. Beck Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Verlagsseite.

Hubert Achleitner – flüchtig

hubert achleitner flüchtig
Hubert Achleitner – flüchtig

Nach über dreißig Jahren Ehe ist Maria einfach verschwunden, doch nun meldet sich eine junge Frau, die einen Brief von ihr für Herwig hat. Er lädt sie ein in der Hoffnung zu erfahren, was geschehen war und wo Maria sich aufhält, offenbar lebt sie noch. Doch bevor aufgelöst wird, wo sich die flüchtige Gattin aufhält, folgt zunächst der Blick zurück auf ihr Leben, das schon turbulent begann mit der Geburt in der Seilbahn. Zwischen österreichischen Bergen hat sie gemeinsam mit Herwig ein Leben aufgebaut, das jedoch nach einer Fehlgeburt eine jähe Zäsur erlebte, die sich nicht mehr kitten ließ. Auf unterschiedliche Weise versuchten beide mit der Trauer umzugehen, flüchteten sich in allerlei Ersatzhandlungen, die jedoch die Wunde nicht heilen konnte, die der Verlust verursacht hatte. So flüchtig dieses kurze Glück war, so flüchtig ist letztlich auch das Leben, das einem jederzeit genommen werden kann und in dem jede flüchtige Begegnung zu einer Wegänderung und einem ganz anderen Verlauf führen kann, wie das Beispiel von Maria und Herwig zeigt.

Hubert Achleitner ist ein unter dem Namen „Hubert von Goisern“ bekannter Liedermacher und Komponist, der auch als Erfinder des Alpenrock gilt und dessen Musik und künstlerisches und sonstiges Engagement oft auch politisch ist. „flüchtig“ ist sein erster Roman, der sich kaum in wenigen Worten fassen lässt. Man merkt in jeder Zeile, wie stark die Natur mit all ihrer Gewalt auf ihn gewirkt haben muss, denn nicht wirklich die Figuren, sondern andere Kräfte treiben die Handlung, die mit einer ungemein poetischen Sprache wiedergegeben wird.

Zufälle treiben scheinbar die Handlung an und doch ist nichts zufällig in diesem Roman. Es beginnt bei den Namen: Eva Maria Magdalena – alle traditionellen Vorstellungen von Frauen vereinigt Maria in sich und diese zeigt sie auch. Herwig – die Verbindung von Heer und Kampf, der einerseits um seine Frau kämpft und doch zur Eroberung anderer Frauen zieht. Spiralförmig werden ihre Leben, auch jene der Eltern, sowie die Ereignisse der vergangenen Monate skizziert, die überkreuzen sich immer wieder, schneiden sich sogar ganz scharf und bewegen sich alle wie in einem Strudel auf ein Ziel hin.  Immer wieder kommen ihnen Naturgewalten dabei in die Quere und treffen Entscheidungen, die Außenwelt wird oftmals zur Gefahr, sei es in den Bergen oder auf dem Wasser.

Maria ist auf der Flucht vor sich selbst und ihrem Leben, doch die Reise kann keine Antworten liefern, diese findet sie nur in der inneren Einkehr. Flüchtige Begegnungen sind es dabei, die die entscheidenden Akzente setzen und die Gedanken ins Rollen bringen. Vieles, was die Figuren umtreibt, lässt sich leicht nachvollziehen und nimmt einem so mit auf die Reise, die dem Autor vor allem sprachlich überzeugend gelungen ist.

Jasmin Schreiber – Marianengraben

jasmin schreiber marianengraben
Jasmin Schreiber – Marianengraben

Fische mochte er immer besonders gern, Tim, Paulas kleiner Bruder. Und tausende Fragen an die Welt hatte er, die ihm die große Schwester versuchte zu beantworten. Doch jetzt ist Paula allein, vor allem allein mit ihrer Trauer nach Tims Unfalltod. Immer mehr verkriecht sie sich, das Leben hat sie aufgegeben, sie vegetiert nur noch vor sich hin, die Doktorarbeit wartet vergeblich auf ihre Fortsetzung. Auch ein Therapeut kann ihr nicht helfen, doch er rät ihr das Grab des Bruders zu besuchen, aber so am helllichten Tag, wenn noch andere Menschen dabei sein könnten, das will sie nicht. Also bricht sie nachts in den Friedhof ein. Doch ihr ruhiger Plausch mit dem Bruder wird jäh gestört, denn noch jemand ist auf nächtlicher Mission: Helmut, bereits über 80 und mit Schaufel bewaffnet. So absurd ihr Kennenlernen, so absurd auch der Trip, den das vermeintlich ungleiche Gespann unternimmt, denn bald schon merken sie, dass sie gar nicht so verschieden sind, Trauer und Verlust führen sie immer näher zusammen.

Jasmin Schreiber setzt in ihrem Debütroman gekonnt Erfahrungen als Sterbebegleiterin in eine traurige, aber auch urkomische Geschichte um. Es geht ums Sterben und ums Leben und vor allem ums Leben nach dem Sterben. Paula wie auch Helmut müssen mit dem Verlust eines geliebten Menschen umgehen und bilden so eine unerwartete Schicksalsgemeinschaft, die es ihnen jedoch erlaubt, das Leid und die Trauer zu teilen. Dominiert zu Beginn noch Paulas tiefe Depression, die sie geradezu handlungsunfähig macht, kehrt zunehmend Leben zurück und damit auch wieder Hoffnung.

»Ich glaube … ich würde nur wieder gerne leben, irgendwie. Und das auch genießen.«

»Na, endlich«, seufzte er, »damit kann man doch schon arbeiten.«

Wie kann man den Verlust betrauern und weiterleben, wenn man sich selbst die Schuld gibt? Paula wird von den Vorwürfen, die sie sich macht, innerlich aufgefressen und findet kein Ventil und keinen Menschen, um den Druck, der auf ihr lastet, entweichen zu lassen. Zu dem fremden alten Mann fasst sie Vertrauen und kann sich öffnen, denn Helmut weiß, wie es sich anfühlt, wenn die Welt sich einfach weiterdreht, während man selbst noch auf der Stelle steht und sich nicht bewegen kann, der Verlust von Sohn und Frau hat auch Spuren bei ihm hinterlassen. Aber er hat bereits Wege gefunden, damit umzugehen. Gemeinsam machen sie sich auf die Reise zu Helmuts Elternhaus in den Bergen, denn dort hat er noch etwas zu erledigen, er hat ja die Urne des Nächtens nicht ohne Grund ausgebuddelt.

Viel Situationskomik wechselt sich ab mit liebevolle Erinnerungen an den kleinen Bruder, der neugierig die Welt erforschte und mit der Trauer, die Paula immer wieder übermannt. Der Autorin gelingt dabei die perfekte Mischung, die einem immer wieder schmunzeln lässt, bevor einem die negativen Gefühle selbst übermannen. Perfekt austariert, um zu zeigen, dass es immer ein Morgen gibt und der Blick zurück gut und erlaubt ist, der Weg aber nur in eine einzige Richtung führen kann.

Paolo Cognetti – Acht Berge

Acht Berge von Paolo Cognetti
Paolo Cognetti – Acht Berge

Die Begeisterung seiner Eltern für die Berge bekommt Pietro schon als Junge mit. Als sie sich endlich entschließen, eine eigene Hütte zu kaufen, ist klar, dass er die kommenden Sommer dort verbringen wird. Schnell freundet er sich mit Bruno an, der schon als Kind seine Eltern beim Hüten der Kühe unterstützen muss. Gemeinsam erkunden Bruno und Pietro die Wälder, Wiesen und Berge – eine Leidenschaft, die sie ihr Leben lang teilen werden und die ihr wichtigstes Verbindungsglied sein wird. Als junge Männer trennen sich zwar ihre Lebenswege, nicht jedoch die Freundschaft. Als Erwachsene teilen sie neben der Liebe zu den Bergen auch das Leid, das beide auf unterschiedliche Weise erfahren. Obwohl sie verschiedener kaum sein könnten, ist das Band, das sie als Jungen geknüpft haben, fest und reißt nie.

Man kann in Paolo Cognettis Roman in jeder Zeile seine Leidenschaft für die Walliser Alpen spüren. Ich habe selten einen Roman mit derart intensiven Landschaftsbeschreibungen gelesen, die jedoch niemals langweilen, sondern im Gegenteil durch ihre Poesie und Strahlkraft problemlos die Begeisterung des Autors vermitteln und den Leser buchstäblich miterleben lassen.

Im Zentrum der Handlung stehen Pietro und Bruno. Es ist kein ganz typischer Roman über das Erwachsenwerden. Zwar hat man ganz charakteristische Phasen – die Auseinandersetzung mit den Eltern, ihren Werten und den gewählten Lebenswegen; die beruflichen Überlegungen und Entscheidungen; die erste Liebe und die große Liebe – aber letztlich ist es die Freundschaft, die all dies überdauert und die beiden Jungen und später Männer immer wieder zueinander führt. Gemeinsame Erlebnisse können verbinden und um für einander da zu sein und sich zu unterstützen bedarf es keiner dauernden Präsenz.

Auch wenn der Roman auf der Handlungsebene viele interessante und beachtenswerte Aspekte bietet, sind es letztlich die Landschaftsbeschreibungen, die Erlebnisse in der Natur und die Gewalt selbiger, die bisweilen keine Gnade kennt, die hervorstechen und in Erinnerung bleiben. Manch ein Leser man diese überfliegen, lässt man sich auf sie ein, nimmt das Lesen einen anderen Rhythmus ein, wird langsamer und intensiver.