Camille Kouchner – La familia grande [dt. Die große Familie]

Camille Kouchner – La familia grande

Manchmal reicht ja der Autorenname, dass man neugierig auf ein Buch wird. Camille Kouchner, klar, Tochter berühmter Eltern, die über ihre Familie schreibt. Ein wenig Sensationslust und schon öffnet man ein Buch, ohne zu ahnen, dass man die Büchse der Pandora in Händen hält. Daher eine Warnung vorweg – der deutsche Klappentext beinhaltet dies, im französische nicht einmal eine winzige Andeutung – das Buch ist die Schilderung dessen, was ein verheimlichter Missbrauchsfall in der Familie anrichtet.

Camille Kouchner ist die Tochter von Bernard Kouchner, Gründer der Médecins sans Frontières und ehemaliger Außenminister, und Évelyne Pisier, ehemalige Geliebte von Fidel Castro, erste Professorin für Öffentliches Recht an der Sorbonne und hohe Beamtin im Kulturministerium. Ihre Tante, Marie-France Pisier war eine bekannte und vielfach ausgezeichnete Schauspielerin und immer präsent in ihrem Leben, da die beiden Schwestern unzertrennbar waren. Nach der Trennung der Eltern heiratet ihre Mutter Olivier Duhamel, ebenfalls angesehener Jura-Professor aus einer bekannten Intellektuellenfamilie.

Die Autorin wächst mit ihrem Zwillingsbruder Victor und dem 4 Jahre ältere Colin unbeschwert auf, der Vater war zwar überwiegend abwesend und die Mutter und Großmutter hatten sehr eigene Ansichten von Freiheit und Erziehung, doch ihre Erinnerungen sind positiv. Auch als Duhanel zu der Familie stößt, erweitert dies nur den illustren Kreis und vor allem im Sommerhaus in Südfrankreich kommen unzählige Freunde der Eltern zusammen und die Sommermonate werden von der „großen Familie“ mit viel Alkohol exzessiv ausgelebt, Kinder sind dabei immer ein natürlicher Teil des Geschehens.

Was dort auch geschah, beichtet Victor seiner Schwester erst Jahre später als sie beide 14 sind. Diese ist entsetzt, hat den Stiefvater immer vergöttert. Victor bittet sie zu schweigen, denn sie wissen, dass ihre Mutter damit nicht umgehen könnte. Nach dem Selbstmord ihrer Eltern war sie in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie sich nur schwer befreien konnte. Der Vater ist ebenso wenig als Ansprechpartner geeignet und so tragen die beiden ein Geheimnis mit sich, das sie zerstört.

Psychisch und physisch hinterlässt der Missbrauch Spuren bei beiden, erst als sie selbst Eltern werden, drängt Camille darauf zu handeln, um ihre eigenen Kinder zu schützen. Es geschieht das, was Victor immer befürchtet hat: die Tat wird nicht bestritten, aber die Schuld wird den Kindern zugeschoben. Camille, weil sie geschwiegen hat, beiden, weil sie jetzt alles zerstören und so eine Ungeheuerlichkeit ausbreiten. Die große Familie wendet sich ab, nicht aber, um den Täter zu ächten, sondern weil Camille und Victor nicht geschwiegen haben. Nur ihre Tante hält zu ihnen, nimmt den Bruch mit ihrer geliebten Schwester in Kauf, kann mit der Situation in der Familie jedoch auch nicht leben.

Seit einiger Zeit gibt es auffällig viele Berichte von französischen Frauen um die 40, die ihre Kindheitserlebnisse schildern. Gemeinsam haben sie, dass sie im Umfeld von gefeierten Persönlichkeiten aufgewachsen und oftmals durch die Hölle gegangen sind. Vanessa Springora, die ähnlich wie Victor Kouchner missbraucht wurde und man ihr jedoch einredete, dass das alles so richtig sei. Sarah Biasini, die als Tochter von Romy Schneider nach deren Tod zwar familiär behütet aufwuchs, aber von klein auf von der Presse verfolgt wurde. Das jahrelange Schweigen gehörte offenbar in den 70er bis 90er Jahren dazu, wurde von früh auf gelernt, ebenso wie das „stell dich nicht so an“ und eine Umkehr der Schuld. Jedes einzelne Buch erschreckend zu lesen und doch wichtig, für die Autorinnen, die sich damit befreien können, aber auch um eine andere Zukunft für ihre Kinder zu gestalten.

Claudia Durastanti – Die Fremde

Claudia Durastanti – Die Fremde

Eine junge Frau zwischen den Welten. Ihre Eltern sind beide gehörlos, haben ihre eigene Sprache aber keine, die sie mit der Tochter teilen. In Brooklyn geboren wächst sie in einem süditalienischen Dorf auf, wo sie jedoch nie wirklich dazugehört. Sie weiß nicht, welcher Schicht sie angehört, verbringt die Sommer in den USA, wo sie bei den Cousinen ebenfalls eine Fremde bleibt. Auch an der Universität und später in England kann sie das Gefühl nicht ablegen, zwischen allen zu schweben und ihren Platz nicht zu finden. Sie kommt sich fast wie eine Betrügerin vor, als sie in die akademischen Kreise eindringt und verarbeitet ihre Erlebnisse und Emotionen nun literarisch, die einzige Form, die nicht in der Realwelt festgelegt ist und so auch ihr einen Heimatort liefert.

„Meine Mutter fehlte mir, wenn sie verschwand, aber sie war nebelhaft und mein Vater eine tiefschwarze Galaxie, die jede physikalische Theorie widerlegte.“

„Die Fremde“ ist Claudia Durastantis vierter Roman und scheinbar der erste, der in deutscher Übersetzung erschienen ist, obwohl die Autorin bereits mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde und sie sich als Mitbegründerin des Italian Festival of Literature in London und Beraterin der Mailänder Buchmesse einen Namen gemacht hat. Der autobiografische Roman gibt Einblicke in eine außergewöhnliche Familie und einer großen Einsamkeit, die sie als Kind und Jugendliche empfunden hat.

„ich fürchtete, jemand könnte mich als das erkennen, was ich war: eine, die sich eingeschlichen hatte. Ich trug die richtigen Kleider, besaß das gleiche Telefon wie die anderen, aber ich hatte arbeiten müssen, um es mir zu beschaffen, (…)“

Wie soll man sich in der Welt zurechtfinden, wenn die Eltern in ihrer ganz eigenen leben? Claudia Durastanti schildert die Begegnung der Eltern und den Freigeist ihrer Mutter, die – als Gehörlose außerhalb aller gesellschaftlichen Normen stehen – genau das auslebt, was sie möchte, keine Grenzen und Konventionen kennt und daher frei ist von allen Zwängen, die ihre Tochter umso stärker wahrnimmt. Diese nähert sich über Familie, Orte, Gesundheit, Arbeit und Liebe immer wieder der Mutter an, die jedoch für sie wie auch für den Rest der Familie eine Fremde bleibt.

Die große Verunsicherung und Einsamkeit des Mädchens und der jungen Frau sind in jeder Zeile zu spüren, ebenso wie die Bewunderung für die Eltern, die sich scheinbar unbeschwert finden konnten, weil sie sich finden mussten. Die Autorin findet eine poetische Sprache, um die Emotionen zum Ausdruck zu bringen und die Höhenflüge der Mutter ebenso wie die Tiefen von Verwirrung und Depression akzentuiert wiederzugeben.

Obwohl stark autobiografisch schon jetzt für mich einer der vor allem sprachlich stärksten Romane des Jahres 2021.

Ein herzlicher Dank geht an den Zsolnay Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Verlagsseite.

Delia Owens – Where the Crawdads Sing

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Delia Owens – Where the Crawdads Sing

Einer nach dem anderen geht. Erst die älteren Geschwister, dann die Mutter und zuletzt auch der gewalttätige Vater. Kya bleibt mit sechs Jahren allein zurück in der Hütte im Marschland von North Carolina. Anfang der 1950er Jahre ist der White Trash, der sich dort niederlässt, weitgehend vom Alltagsleben des benachbarten Örtchens ausgeschlossen, Eltern bringen ihren Kindern früh bei, sich von diesen Wilden fernzuhalten und auch der Staat unternimmt nur wenig, um die Fürsorge für Kinder wie Kya zu sichern. So wächst das Mädchen inmitten der Natur mit den Tieren auf. Formale Bildung kennt sie nicht, aber die Landschaft und Vögel bringen ihr alles bei, was sie zum Überleben wissen muss. In Tate findet sie schon in jungen Jahren einen Verbündeten, er ist der einzige, zu dem sie Vertrauen fasst und der wie sie fasziniert ist, von der Vielfalt, die das Land zu bieten hat. Sie lebt weitgehend isoliert, doch das menschliche Bedürfnis nach Zuwendung ist manchmal stärker und kommt auch ohne Enttäuschungen nicht aus.

Delia Owens Debutroman trägt unverkennbare Spuren ihrer früheren Arbeiten, hat sie bereits mehrere Bücher über die afrikanische Savanne geschrieben. Die Natur ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans, durch die Augen des jungen Mädchens, das im Einklang mit dieser versucht zu überleben, wird die Geschichte erzählt. Die Menschen sind dabei nur eine weitere, wilde Spezies, die genau wie Vögel und Flusstiere auch, ihre guten und die verabscheuenswürdigen Seiten zeigen.

Es war für mich nur schwer vorstellbar, dass mich eine Geschichte um ein einsames Mädchen im Marschland der 1950er Jahre interessieren könnte. Der Autorin gelingt es jedoch, die Naturbeschreibungen spannend und interessant zu gestalten, so dass man ihnen gerne folgt. Myas Überleben hingegen ist von einer unsäglich traurigen Einsamkeit geprägt, die eine kindliche Naivität nie ablegt, aber gerade durch das Unrecht, das man ihr tut, berührt und nicht wirklich kitschig wird. Der Roman spielt mit starken Emotionen auf der individuellen wie auch gesellschaftlichen Ebene, denn neben Kyas Geschichte wird auch klar, wie stark eine kleine Gemeinschaft sein kann und wie schwer das Leben für Randgruppen – Außenseiter im Marschland, Schwarze – durch diese wird und wie Vorurteile das Denken bestimmen. 

Ob dies alles authentisch und glaubwürdig ist, ist nachrangig, denn der Roman überzeugt durch eine poetische Sprache, die einem als Leser nicht kaltlässt.

Tim Boltz – Zonenrandkind

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Tim Boltz – Zonenrandkind

Wie war das wohl, in der westdeutschen Provinz in den 70ern und 80er Jahren aufzuwachsen? Nicht sehr spektakulär, das weiß jeder, dem das genauso ging. Ganz besonders abgehängt war man jedoch im osthessischen Grenzgebiet zur DDR, wo nach Osten nur der Russe drohte und es nach Westen weit war in etwas, das man Großstadt nennen konnte. Frank wird dort auf einem Dorf groß, wo das Leben eigenen und ganz typischen Regeln folgt. Die bekommt jeder mit der Muttermilch eingeflößt, damit man Zugezogene auch direkt erkennt. Erste Liebe, Mofaführerschein, alkoholreiche Kerbefeste und jeden Samstag das Fegen von Bürgersteig und Straße. Das Leben war vorbestimmt und folgte seinem gemächlichen Gang, nur unterbrochen von gelegentlich in die abgelegene Gegend einschlagenden Nachrichten wie dem Unglück von Tschernobyl. Doch 1989 wurde genau dieser Landstrich plötzlich ins Zentrum des politischen Geschehens gerückt und die Kindheit war für Frank damit endgültig vorbei.

Es gibt Bücher, deren Titel und Cover so wenig versprechen, dass man den Roman gar nicht erst zur Hand nimmt. Tim Boltzs „Zonenrandkind“ hätte mich auch eher abgeschreckt und wäre es nicht ein Adventskalendergewinn gewesen, bei dem mich tatsächlich der Klappentext neugierig gemacht hat, wäre die Geschichte an mir vorbeigegangen, was einfach unheimlich schade gewesen wäre, denn hinter der schlichten Fassade steckt nicht nur ganz viel Erinnerung an meine eigene Kindheit und Jugend auf dem Land, sondern auch ein pointierter Text mit unheimlich viel feiner Ironie, die sich nicht über das vermeintlich rückständige Leben in der Randzone lustig macht, sondern liebevoll draufblickt und mehr als einmal zum herzhaften Lachen einlädt.

Sind wir ehrlich: wer jenseits der 40 kann sich nicht an die holzvertäfelten Partykeller der Eltern erinnern oder die unsäglichen Strickpullis der Muttis oder Tanten? Der schlechte Haarschnitt und die wenig stylische Brille auf dem Cover tragen ihren Teil zur Gesamterscheinung dazu bei, die für viele schlichtweg Realität waren, wie die vergilbten Fotoalben heute noch belegen. Ach ja, das abgebildete Tier heißt übrigens „Genscher“ und reißt irgendwann im Laufe der Handlung in die Freiheit aus – ausgerechnet gen DDR.

Viel mehr lässt sich zum Inhalt auch kaum sagen. Viele Passagen kommen einem nur allzu bekannt vor, wenn man fernab der Großstadt im Grenzgebiet (in meinem Fall zwar nicht zur DDR, sondern tief im Südwesten) groß geworden ist, wo nicht viel mit Strukturentwicklung war und man nur mit viel Glück überhaupt drei grieselige Fernsehprogramme empfangen konnte. Die diffuse Angst vor „dem Russen“ und die für Kinder wenig nachvollziehbare Problematik mit „der Mauer“ sind mir auch bestens in Erinnerung. Die Dorfjugend arrangiert sich mit den Gegebenheiten und träumt von der großen weiten Welt, die jedoch letztlich auch nicht spannender ist als die Reise zurück in die überschaubare Heimat.