Lucy Fricke – Die Diplomatin

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Friederike – Fred – Andermann hat sich im diplomatischen Dienst hochgearbeitet und wird als Konsulin nach Montevideo geschickt. Als sie gerade mit den Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten des 3. Oktobers beschäftigt ist, platzt die Meldung über eine verschwundene Bloggerin herein. Seit 24 Stunden kein Post – für die Mutter ist klar, dass dem Kind etwas zugestoßen sein muss. Fred ordnet den Fall nicht ganz so dramatisch ein, kümmert sich dennoch, nicht ahnend, dass dies ihr größtes Scheitern werden wird. Zwei Jahre später findet sie sich in Istanbul wieder, die diplomatische Stimmung ist aufgeheizt und sie selbst gerät durch eine Affäre zwischen die Fronten.

Lucy Fricke konnte mich mit ihrem Roman „Töchter“ bereits vollends begeistern, die Lebendigkeit der Figuren, die ihren Vorgänger ausgezeichnete, findet sich auch in „Die Diplomatin“ wieder. Dem Roman gelingt die Balance zwischen der Schilderung des hochförmlichen diplomatischen Dienstes und der bisweilen fast zynischen Reaktion der Protagonistin auf diesen, was zu einem lockeren Ton mit zahlreichen Seitenhieben verschmilzt.

Auch wenn ich zunächst etwas unglücklich über die relativ kurze vorgeschaltete Episode in Uruguay war, da die Haupthandlung sich in der Türkei abspielt, ist diese doch ganz wesentlich für die Entscheidungen und das Handeln Freds. Folgt sie in Uruguay noch dem Protokoll, versteckt sich hinter dem Amt, das sie bekleidet, und überlässt die wichtigen Entscheidungen der Zentrale, so ist sie in Istanbul an einem ganz anderen Punkt angelangt. Sie hat erlebt, dass auch ihre Vorgesetzten nicht alles verhindern können und falsche Entscheidungen treffen. Das Protokoll mag Sicherheit geben, aber Intuition und Menschenverstand sind womöglich manchmal überlegen.

Die Vorgänge in der türkischen Großstadt greifen das auf, was einem aus Zeitungsmeldungen der vergangenen Jahre nur allzu bekannt ist. Verhaftungen ohne Anklage, fast absurde Anschuldigungen, Menschen, die einfach verschwinden, durchsuchte Wohnungen – die ganze Palette eines Staates im Ausnahmezustand und größter Erregung baut Fricke geschickt ein. Die Opfer der Repressalien – eine Künstlerin, ihr unbescholtener Sohn, ein Journalist – sind alledem machtlos ausgeliefert und auch Fred kann trotz ihrer Position wenig bis gar nichts ausrichten.

Die Grenzen der Diplomatie und was die Erfahrungen mit den oft handlungsunfähigen Menschen machen, fängt der Roman überzeugend ein. Von geradezu banalen repräsentativen Terminen bis zu jenen, die Contenance erfordern, die fast nicht aufbringbar ist und gegen die sich alles sträubt – man fragt sich, wie lange man so etwas aushalten kann. In der Figur Freds wird diese Zerrissenheit sehr deutlich und überzeugend dargestellt.

Ein kurzer und vor allem kurzweiliger Roman, der so gar nichts vom schönen Schein des Diplomatenlebens zeigt, dem Leser aber unterhaltsame bis nachdenkliche Einblicke erlaubt.

Karine Tuil – Menschliche Dinge

Karine Tuil Menschliche DInge
Karine Tuil – Menschliche Dinge

Einfluss und Macht, darum geht es im Paris 2016. Jean Farel ist seit Jahrzehnten angesehener Journalist und Moderator der wichtigsten politischen Diskussionssendung im Land. Alle Präsidenten kennt er, alle wichtigen Franzosen hat er interviewt. Seine Frau Claire ist ebenfalls gefragt als Journalistin und Essayistin, dass ihre Ehe schon lange nur noch Show für die Öffentlichkeit ist, ist für beide mit ihren jeweiligen Partnern in Ordnung. Ihr gemeinsamer Sohn Alexandre ist ebenfalls mehr als wohlgeraten: mit besten Noten die Schule abgeschlossen, an der besten Universität Frankreichs angenommen und nun Student in Stanford. Doch der Abend, an dem Jean Farel eine der höchsten Ehren des Landes zuteilwird, wird ihr Leben durcheinanderwirbeln. Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür mit einem Durchsuchungsbeschluss, es liegt eine Anzeige vor: Alexandre soll die Tochter von Claires Lebensgefährten brutal vergewaltigt haben.

Karine Tuil greift in ihrem Roman eine reale Begebenheit auf, den sogenannten „Fall Stanford“, der die allseits bekannte Verbindungskultur an den amerikanischen Universitäten mit ihren alkoholreichen Partys und den zahlreichen, meist verschwiegenen, Übergriffen auf oft noch minderjährige Studentinnen über die Landesgrenzen hinaus in den Fokus der Öffentlichkeit brachte. Tuil nähert sich dem eigentlichen Geschehen auf höchst interessante Weise, stehen zunächst Alexandres Eltern im Zentrum der Handlung, immer jedoch auch schon mit Bezug zu dem, was heute unter dem Hashtag #metoo-Debatte subsumiert wird. Facettenreich wird das Thema beleuchtet und der Komplexität dadurch auch im Rahmen von Fiktion durchaus gerecht, weshalb der Roman erwartungsgemäß 2019 gleich für mehrere angesehene französische Literaturpreise nominiert war.

„Menschliche Dinge“ ist ein vielschichtiger Roman, der zahlreiche Diskussionspunkte liefert. Obwohl die Vergewaltigung im Mittelpunkt steht, ist für mich aber die Figur Jean Farel fast noch zentraler. Er ist als Inbegriff des alten, mächtigen Mannes, der in seinem Narzissmus hervorragend skizziert ist. Es vergeht kaum eine Seite, auf der man nicht über ihn den Kopf schütteln muss, sein verächtlicher Umgang mit Frauen, die Paranoia bezüglich seines Aussehens und Ansehens, exzentrisch plant er die Ordensverleihung, sein Parallelleben mit Françoise, seine rücksichtslose Kindererziehung – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Eine hochinteressante Persönlichkeit hat die Autorin geschaffen, wobei es zahlreiche reale Vorlagen gegeben haben dürfte, man denke nur an Dominique Strauss-Kahn, den Farel an einer Stelle bewundert. Aber es gibt auch einen Bruch, der sich in seiner Langzeit-Geliebten zeigt: als Françoises Demenz immer weiter voranschreitet, verlässt er sie nicht, sondern behandelt sie liebevoll und zärtlich, fast besser als zuvor.

Auch Claire ist als Gegenpart spannend geraten, beginnt ihre Geschichte mit dem Monica Lewinsky Skandal und wird sie später durchaus als Vertreterin des Feminismus präsentiert. Sie gerät in das ganz persönliche Dilemma zwischen ihren Ansichten als öffentliche Frau und ihrem Sohn als Beschuldigtem. Dieses lässt sich nicht auflösen und sie ist es letztlich, die die ganz große Verliererin ist. Immer wieder hat sie wie viele erfolgreiche Frauen Sexismus und übergriffiges Verhalten schweigend ertragen, um ihre Karriere nicht zu gefährden und weil sie wusste, dass dies nun einmal der Preis ist, den sie als Frau dafür zu zahlen hat. Am Ende hat sie alles verloren, während ihr Mann immer noch in die Kameras lächelt.

„Ihr ganzes Leben lang hatte ihr Handeln im Widerspruch zu den Werten gestanden, zu denen sie sich öffentlich bekannte. Auch das war Gewalt: die Lüge, das verfälschte Bild des eigenen Lebens. Die Verleugnung. Der Weg, den sie abseits der Realität eingeschlagen hatte, um diese ertragen zu können.“

Den Großteil der Handlung nehmen die Ermittlungen und der Prozess ein. Zwei sich widersprechende Aussagen, die beide wahr und falsch sein können. Gewinner gibt es hier keine, Alexandre ist seelisch gebrochen hat sein Studium und seine Berufsaussichten aufgeben müssen. Mila ist psychisch gezeichnet von den Erlebnissen und fern davon, in so etwas wie Normalität zurückkehren zu können. Es bleiben Zweifel an beiden Darstellungen, was ich von Karine Tuil sehr gelungen finde, denn genau hier liegt oftmals die Krux: Selbst- und Fremdwahrnehmung können voneinander abweichen, die gleiche Situation unterschiedlich beurteilt werden. Das darf kein Freibrief für Gewalt sein, aber ebenso wenig für spätere Anklagen aus Scham vor dem eigenen Handeln. Die Nicht-Auflösung wird dem Konflikt daher mehr als gerecht.

Noch viel mehr ließe sich sagen zu diesem herausragenden Roman, der neben den Figuren und komplexen Problematik auch durch eine pointierte Sprache überzeugt. Für mich ein Lesehighlight in jeder Hinsicht.

Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht

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Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht

Wer die Bücher „En finir avec Eddy Belleguele“ (Das Ende von Eddy) oder „Histoire de la violence“ (Im Herzen der Gewalt) gelesen hat, weiß, dass Édouard Louis aus schwierigen Verhältnissen stammt und insbesondere die Beziehung zu seinem Vater nicht einfach war. In seinem kurzen Buch analysiert er nun genau jene von Verachtung und Ringen um Anerkennung und Liebe geprägte Beziehung.

Als Kind buhlt er um die Beachtung durch seinen Vater, will so sein, wie der Vater sich seinen Sohn wünscht, dessen Ideale und Werte erfüllen. Doch früh schon scheitert er. Eddy ist unverkennbar anders und kann dieses Anderssein nicht ablegen. Von den Eltern schlägt ihm dafür bestenfalls Verachtung und Ignoranz entgegen, bisweilen auch offener Hass:

 „(…) sie hatte das schon oft gesagt, aber noch nie so hart und so direkt, bislang noch nicht –, sie sagte: Warum bist du nur so? Warum führst du dich die ganze Zeit so auf, als ob du ein Mädchen wärst? Das ganze Dorf sagt schon, du bist eine Schwuchtel, was glaubst du, wie wir uns schämen, alle lachen über dich.”

So wenig die Eltern ihn verstehen, so schwer fällt ihm als Kind und Jugendlicher die Vorbilder, die für ihn keine sein können, zu verstehen. Erst als Erwachsener versteht er die Mechanismen, die in seinem Elternhaus griffen. Der Vater, der früh die Schule verlies und erwachsen sein musste, um Geld zu verdienen und der Gewalt im eigenen Elternhaus entfliehen zu können, der gar nicht erst die Chance bekam, Träume zu entwickeln.

„Du warst ebenso das Opfer der Gewalt, die du ausübtest, wie derjenigen, der du ausgesetzt warst.”

Die Gewaltspirale reproduziert sich in den Kindern und so kann der Vater gar nicht anders als das zu leben, was er selbst kennengelernt hat.

„Als ich neulich einem Freund von dir erzählte, sagte er: »Dein Vater wollte nicht von seiner Vergangenheit erzählen, weil diese Vergangenheit ihn daran erinnert, dass er jemand anderes hätte werden können und nicht geworden ist.« Vielleicht hat er recht.”

Mit dem Verständnis wächst aber auch die Wut, dies sich nun nicht gegen den Erzeuger, sondern gegen den französischen Staat richtet, der Menschen wie sein Vater im Stich lässt. Nach einem Arbeitsunfall nun sehr eingeschränkt, sieht er sich dem System gnadenlos ausgeliefert und muss sich als Sozialschmarotzer beschimpfen lassen.

Wieder sind es starke Emotionen, die den Text von Édouard Louis prägen, doch im Gegensatz zu seinen zwei belletristischen Büchern fällt es mir in diesem Essay deutlich schwerer, Mitgefühl zu empfinden. Zu plakativ erfolgt die Anklage am Ende. Es ist erfreulich zu sehen, dass es ihm gelingt, sich mit seinem Vater zu versöhnen, indem er erkennt, dass dieser nicht aus seiner Haut heraus kann und in einem Leben feststeckt, dass vielleicht auch nicht seins ist. Die Tirade auf der Herrschenden mag sachlich bezogen auf die Argumente richtig sein, aber Édouard Louis hat bessere Möglichkeiten, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren – und zu verändern! – als dieses fast reißerische Pamphlet.

Sarah Vaughan – Anatomie eines Skandals

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Sarah Vaughan – Anatomie eines Skandals

Holly kommt dank eines Vollstipendiums aus der nordenglischen Provinz nach Oxford, wo sie Literatur studieren will. Große Erwartungen hat sie an das Studentenleben, doch bald schon muss sie erkennen, dass sie nicht in diese Welt passt. Sie bemüht sich, passt sich an, findet in Sophie und Alison auch zwei Freundinnen. Ein Ereignis am Ende des ersten Studienjahres lässt ihre Welt jedoch zusammenbrechen. Von einem Kommilitonen, der zu den berühmt-berüchtigten Libertines gehört, die sich dank des Geldes ihrer Familien alles erlauben können, wird sie vergewaltigt und ergreift schließlich die Flucht. Zwanzig Jahre später ist sie nicht mehr das naive Mädchen, sondern eine knallharte Prozessanwältin und es scheint als sei endlich der Tag der Abrechnung gekommen.

Sarah Vaughns Roman lebt von den unterschiedlichen Perspektiven auf die Ereignisse. Im Wechsel werden die Protagonisten beleuchtet: die Anklägerin, der Angeklagte und dessen Frau. Obwohl es zunächst um den Vergewaltigungsvorwurf gegen den Politiker James Whitehouse geht, wird bald schon klar, dass eigentlich die beiden Frauen mit ihren widersprüchlichen Emotionen und Überzeugungen die interessantesten Figuren sind.

Zwei Aspekte hat Vaughan für mein Empfinden sehr überzeugend in ihrer Geschichte dargestellt: zum einen die ausufernden Partys, die die Sprösslinge der Oberschicht in den Elitelehranstalten feiern und die Arroganz, mit der sie schon in jungen Jahren den Menschen gegenübertreten, wo sie selbst noch nichts im Leben geleistet oder erreicht haben. Ihnen gehört die Welt, sie kaufen sie sich und drehen die Wahrheit wie es ihnen passt. Als Studenten und später im Berufsleben. Die dort geknüpften Bande sind hart wie Stahl und durch nichts zu erschüttern. So sichern sie sich gegenseitig ab und garantieren auch, dass niemand den Schutzwall, der sie scheinbar umgibt, durchdringt.

Der zweite Punkt liegt in der Figur von Ehefrau Sophie, die zwar nicht die cleverste Studentin zu sein scheint, aber durchaus über ausreichend Weitblick verfügt, zu durchschauen, was James mit ihr macht. Sie spielt mit, weil das die Rolle ist, zu der sie erzogen wurde und kann lange Zeit nicht über ihren Schatten springen, obwohl die Zweifel an ihr nagen. Ein wenig mehr Mut hätte es gebraucht, etwas mehr Rückgrat und die Dinge hätten anders verlaufen können. Ihre passive Schicksalsergebenheit macht sie schuldig.

Kein Gerichtsthriller, kein Drama, sondern eine Menschenstudie, die sehr gut gelungen ist und trotz des Hoffnungsschimmers am Ende ein wenig Frust zurücklässt, weil nämlich die Wahrheit nicht immer den Weg ans Licht findet und nicht jede Tat angemessen bestraft wird.