Adeline Dieudonné – Bonobo Moussaka

Adeline Dieudonné – Bonobo Moussaka

Das alljährliche Weihnachtsessen verbringen die Erzählerin und ihre beiden Kinder wie immer mit ihrem Cousin Martin, dessen Frau Françoise und deren drei Töchtern, sowie dem befreundeten Paar Philippe und Muriel, die mit ihren drei Söhnen ebenfalls in das Vorstadtreihenhäuschen kommen. Es dauert nicht lange, bis sich die eklatanten Differenzen zeigen und der Kampf um die verbale Vorherrschaft beginnt. Jedoch nicht nur zwischen den Männern, sondern auch die Paare selbst treten in einen subtilen Abrechnungskampf miteinander, der über die großen gesellschaftlichen Themen geführt wird und der bei der Erzählerin auch alte Wunden wieder aufreißt. Ein Weihnachtsfest im Kreis der Liebsten, bei dem man sich fragt: wenn die Liebsten schon so miteinander umgehen, wozu wären die ärgsten Feinde dann fähig?

Die belgische Autorin Adeline Dieudonné ist in Deutschland im vergangenen Jahr mit ihrem Roman „Das wirkliche Leben“ der Durchbruch geglückt, auch ihr Roman „Kérozène“ konnte mich restlos überzeugen. „Bonobo Moussaka“ ist unschwer erkennbar als Theaterstück konzipiert und bereits 2018, noch vor ihrem großen, vielfach ausgezeichneten Debutroman, erschienen. Tatsächlich fällt es auch viel leichter, sich die Handlung auf einer Bühne um eine gedeckte Tafel vorzustellen als den Text in Buchform zu genießen. Nichtsdestotrotz kommt auch beim Lesen die pointierte Zuspitzung der zivilisierten Runde, die hinter verschlossener Tür so manche Maske fallen lässt, gut zu tragen.

Kein großes Thema lassen die Gäste aus. Der unweigerliche Vergleich, wer das schönere Haus hat, mehr im Beruf erreicht hat, wessen Kinder wohlgeratener sind – man kennt die und die gönnerhafte Verachtung, überspielt mit nonchalanter Lässigkeit der vorgeblichen Irrelevanz, für diejenigen, die eben nur Platz 2 oder 3 im internen Ranking belegen. Die Frage nach dem Alphatier ist schnell geklärt, wenn auch noch nicht abschließend abgerechnet.

Das Gespräch dreht sich um den Platz von Frauen in der Gesellschaft, oder eher: am Herd, Umweltschutz, Migration, die politischen Ansichten – die politisch korrekten Antworten auf die großen Fragen kennt jeder, aber im intimen Kreis wird man ja wohl mal sagen können… Aber man erfährt auch einiges über die Familie der Erzählerin, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen, was durch das schlechte Verhältnis eher eine Randnotiz wird, die durch eine ganz andere Enthüllung um Längen getoppt wird.

Die Autorin führt etwas vor Augen, was doch jeder kennt: das zwanghafte Zusammentreffen mit Verwandten und vermeintlichen Freunden, zu einem gesellschaftlich diktierten Anlass, zu dem niemand Lust hat und doch jeder den Schein wart und das Spiel mitspielt. Den Ausbruch wagt keiner, nur gelegentliche Risse offenbaren die Wahrheit hinter der Fassade des freundlichen Miteinanders.

Adeline Dieudonné – Kérozène

Adeline Dieudonné – Kérozène

Eine einsame Tankstelle in einer lauen Sommernacht, irgendwo in den Ardennen. Nur das unwirkliche Licht der Leuchtreklame lässt einen Blick auf die Menschen erhaschen, die sich dort begegnen. Es ist 23 Uhr 12 und in einer Minute wird sich die ganze Welt verändern. Ein Duzend Personen, die sich aus ganz unterschiedlichen Motiven an diesem unwirklichen Ort aufhalten, werden sich kreuzen, sehen oder auch nicht, und Entscheidungen treffen, die gut sind oder vielleicht auch nicht. Chelly, impulsive Pole Dance Lehrerin, Victoire, Model mit Angst vor Delfinen, Loïc, Pannenhelfer, der nichts anbrennen lässt, Alika, philippinisches Kindermädchen, Monika, eine alte Dame, die ihren Wald retten möchte, Red Apple, ein verzweifeltes Pferd, Julie, die von ihren Schwiegereltern gynäkologischen Untersuchungen unterzogen wird – diese und andere außergewöhnliche Figuren bringen alle ihre ganz eigene Geschichte mit an den verlassenen Ort.

Die belgische Autorin Adeline Dieudonné hat mit ihrem Debüt „La vraie vie“ (Das wirkliche Leben) für Furore gesorgt, entsprechend hoch die Erwartungen an den zweiten Roman. Auch wenn die einzelnen Kapitel zunächst nur lose verbunden erscheinen, gelingt es ihr wieder, die geradezu surreal anmutende fiktive Realität glaubwürdig erscheinen zu lassen und die Wege der Figuren geschickt zu einem Ganzen zusammenzuführen. Ort und Zeit lassen schon vermuten, dass es etwas trashig werden könnte und das wird es in den Lebensgeschichten auch, aber niemand hat je behauptet, dass das Leben nur auf der Sonnenseite stattfinden würde.

Der Scheinwerfer wird auf eine Figur nach der anderen gerichtet. Ein kurzer Moment, ein kurzer Blick in die Leben, die oft tragisch, voller Gewalt sind und die Figuren zu der Person gemacht haben, die an diesem Abend an der Tankstelle strandet. Die Autorin hebt die Einzigartigkeit hervor, die jedes Leben kennzeichnet, legt die tiefsten Geheimnisse und Gedanken offen, die sie versuchen verborgen zu halten.

Der Roman hat ein bisschen was von einem Horrorfilm, doch wo es gelingt, sich beim Blick auf den Bildschirm zu distanzieren, weil man weiß, dass das Blut nicht echt und das Leid nur gespielt ist, lässt Dieudonné das Grauen hier im Galopp los und überrennt einem als Leser. An Intensität steht auch dieser Roman dem ersten der Autorin in nichts nach.

Die Kritiker sind gespalten, das Urteil reicht von „banalem, aussagelosen Trash“ bis „herausragende Literatur“, ein Dazwischen scheint es kaum zu geben. Vielleicht muss man einen eigenen Zugang zu diesem speziellen Sujet und der oft sehr expliziten Sprache finden, um mit der Autorin etwas anfangen zu können. Für mich bleibt sie auch mit diesem Roman ganz weit vorne in der Liste der lesenswerten Gegenwartsautorinnen.

Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

adeline dieudonné das wirkliche leben
Adeline Dieudonné – Das wirkliche Leben

Ein Sommerabend ändert alles im Leben eines jungen Mädchens. Eigentlich will sie mit ihrem kleinen Bruder nur beim Eismann eine Leckerei holen, doch der Sahnespender explodiert und beide müssen mitansehen, wie das Gesicht des Mannes hinweggefegt wird. Bei dem 7-jährigen Gilles hinterlässt der Schock tiefe Spuren, erst spricht er gar nicht mehr, dann verändert sich sein ganzes Wesen: aus dem zugewandten, fröhlichen Kind wird ein zurückgezogener, geradezu besessener Junge, der bald schon beginnt, den aufgestauten Frust an Tieren auszulassen. Dies ist sein einziges Ventil, ähnlich wie bei seinem Vater, der seine Frustration regelmäßig an der Mutter abarbeitet. Verzweifelt und einsam muss das Mädchen mitansehen, wie das Grauen ihre Familie übernimmt. Sie sieht nur eine Chance auf Rettung: sie muss eine Zeitmaschine bauen, um an jenen Tag unheilvollen Tag zurückzukehren und ihr Eis ohne Sahne zu bestellen.

Adeline Dieudonnés Roman geht vom ersten Moment an unter die Haut. Gerade weil sie die Perspektive der jungen, namenlosen Ich-Erzählerin gewählt hat, wirkt deren Schmerz, den diese erleidet, umso stärker. Dass diese Geschichte kein wirkliches Happy-End haben kann, ist offenkundig, es bleiben beim Lesen immer nur die Fragen: wie schlimm wird es kommen, was wird noch geschehen und vor allem: wie soll ein Kind all das ertragen?

Das tragische Ereignis eines Unglücksfalls wie jenes mit dem Sahnespender genügt eigentlich schon, um sich nachhaltig im Bewusstsein eines Kindes zu verankern. Die posttraumatische Belastungsstörung, die Gilles erlitten hat, bleibt unbehandelt und die Folgen werden von Adeline Dieudonné authentisch wiedergegeben. Die verschiedenen Stadien, die der Junge durchläuft, die seine Persönlichkeit tiefgreifend verändern, werden zwar durch die Augen der nur unwesentlich älteren Schwester geschildert, aber sie ist eine aufmerksame Beobachterin und kann diese passend in Worte fassen.

Ebenso stark wirkt die häusliche Gewalterfahrung, die die Kinder machen. Es bleiben ihnen nur zwei Rollenbilder: Der Jäger und die Beute, die sich, zudem vom Vater gleichermaßen anschaulich verdeutlicht, in der Tierwelt auch wiederfinden lassen und zunächst keine Alternative oder Ausweg bieten. Es ist unglaublich, über welche Resilienz das Mädchen verfügt und wie es ihr gelingt – zunächst mit dem Ziel eine Zeitmaschine zu bauen, später mit dem größeren Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis – selbst kein destruktives Verhalten, sondern eine innere Stärke und Distanz zu entwickeln. Trotz all der Trostlosigkeit lässt sich so doch ein Funken Hoffnung in der Geschichte finden.

Es ist kein Buch für Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, zu stark würde ich das Leseerlebnis einordnen und ganz sicher davor warnen wollen. Gerade aber auch aus diesem Grund finde ich solche Erzählungen wichtig, denn eine Sache wird ebenfalls transportiert: über viele Jahre bleibt die Gewalt – physisch wie psychisch – unentdeckt, die Kinder wie auch die Mutter entwickeln immer bessere Strategien des Versteckens. Es braucht schon sehr aufmerksame und einfühlsame Menschen in der Umgebung, um diese zu erkennen und eingreifen zu können. An der Figur des Professor zeigt sich jedoch auch, dass manchmal das einfache Dasein, ohne aktives Eingreifen, schon ganz viel bedeuten kann.