Svealena Kutschke – Gewittertiere

Sveanlena Kutschke – Gewittertiere

Cornelia, genannt Colin, und ihr Bruder Hannes waren ihr Leben lang Außenseiter. In der Schule sind sie gemobbt worden und waren regelmäßig den Gewaltexzessen ihrer Mitschüler ausgesetzt. Nur die Tatsache, dass sie sich gegenseitig hatten, hat ihnen Halt gegeben. Ihren Eltern konnten die davon nichts erzählen. Beide verwiesen immer nur auf ihre eigene schwere Kindheit; der Vater, dessen Familie nach dem Krieg nichts für ihn hatte außer Geschimpfe und die Mutter, die bei einer nicht-sorgenden Alkoholikerin aufgewachsen ist, die sie bis ins Erwachsenenalter hinein schikaniert und ihr ein schlechtes Gewissen macht. Anfang der 90er Jahre versinkt der Vater dann vollends in einer Parallelwelt, in der er sich bedroht fühlt, von den Flüchtlingen, der Regierung, die sich nicht kümmert, und den Druck spürt, für seine Familie Verantwortung zu übernehmen. Also beginnt er, im Garten einen Schutzbunker zu bauen.

Svealena Kutschkes Roman „Gewittertiere“ lässt sich inhaltlich nicht auf einen einzigen Punkt reduzieren, viele verschiedene Themen greift sie auf, während die beiden Protagonisten beim Erwachsenwerden und –sein begleitet werden: Mobbing und Ausgrenzung; dysfunktionale Familien, in denen Eltern ihre eigenen negativen Erfahrungen ungefiltert an die Kinder weitergeben; das Leben als lesbische Frau oder mit Migrationshintergrund in einer zunehmend homophoben Welt; große Träume, die an der Realität scheitern und schlichtweg die Suche nach dem Platz in der Welt. Colin und Hannes sind keine außergewöhnlichen Menschen, die sind eigentlich authentische Durchschnittskinder und –jugendliche in einer Gesellschaft, die jedoch schon minimales Abweichen von der Norm als Bedrohung empfindet und bekämpft.

Die Eltern taugen als Vorbilder nicht. Zwar bewundert Colin ihre Mutter Nora für deren Attraktivität und die Tatsache, dass diese stets hübsch zurechtgemacht ist, sie sieht aber auch, dass es den Alkohol, zunehmend mehr, benötigt, damit diese den Alltag erträgt. Weder ihrer Mutter hat sie sich widersetzt, noch tut sie das bei ihrem Ehemann. Nora fügt sich und leidet leise in einem Leben, dass sie sich nicht gewünscht hat. Der Vater steigert sich völlig in seine Prepper-Phantasie, der Bau des Bunkers gibt ihm jedoch Beschäftigung und ein Ziel, auch wenn er immer wieder zurückgeworfen wird.

Hannes und Colin haben nie wirkliche Freunde, zu hässlich die selbstgestrickten und ältlichen Klamotten, die unförmigen Haarschnitte und Körper. Über ihr Leid schweigen sie, den Schmerz ertragen sie schweigend und nehmen die Demütigungen mit ins Erwachsenenalter. Colin ist eigentlich eine gute Schülerin und schafft erfolgreich das Studium, fühlt sich jedoch als Verkäuferin in ihrem Späti wohler als vor einer Klasse als Lehrerin. Weder im Beruf findet sie den Platz, der angemessen wäre, noch ist sie in Beziehungen fähig, sie selbst zu sein. Es bleibt immer die Angst, nicht zu genügen, etwas falsch zu machen. Hannes muss den Traum vom Zugführer früh begraben und wird schließlich Gerichtsvollzieher. Endlich hat er ein bisschen Macht, kann andere demütigen und das heimzahlen, was er selbst erleiden musste. In seiner schäbigen Hinterhauswohnung ohne Partnerin und Freunde, findet er jedoch auch kein Glück.

Es ist die Geschichte einer Familie, die es eigentlich gut hätte haben können. Keiner von ihnen hat den Krieg erlebt, mit dem Mauerfall war auch die diffuse Bedrohung des Kalten Krieges beendet und so führen sie ihren innerfamiliären Krieg, einen psychologischen, der jedoch vielleicht noch viel schlimmere Wunden hinterlässt. Nach außen wird der Schein gewahrt, es erfolgt die Abgrenzung als Schutz vor der Bedrohung, dabei liegt die größte Gefahr hinter den eigenen Mauern. Eine schonungslose Geschichte aus Deutschland, die sich so überall zutragen konnte, aber immer im Schutz des vermeintlich trauten Heims, das so gar keine Geborgenheit lieferte.

David Nicholls – Sweet Sorrow

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David Nicholls – Sweet Sorrow

Ein Sommer, der alles ändert. Nachdem seine Mutter erklärt, dass sie sich trennen wird und auszieht, bleibt Charlie mit seinem arbeitslosen Vater allein zurück. Immer mehr verliert er die Lust auf Schule und nimmt nur widerwillig an den Abschlussprüfungen teil. Doch dann begegnet er zufällig Fran Fisher. Sie wiederzusehen hat jedoch einen Haken: er muss sich ihrer Schauspielgruppe Full Fathom Five anschließen und in Shakespeares „Romeo und Julia“ auftreten. Eigentlich nicht seine Welt, aber was tut man nicht alles für das Mädchen, das man liebt. Doch der Moment des Glücks sollte nur kurz währen, über ihm schwebt ein Damoklesschwert, das droht, alles zunichte zu machen. Und dann tritt die Katastrophe auch ein. Zwanzig Jahre später, kurz vor seiner Hochzeit, wird er wieder an diesen Sommer erinnert und muss sich der Frage stellen, ob er es wagen soll, Fran noch einmal zu treffen.

Wenn dem Autor eines hervorragend gelingt, dann das Lebensgefühl der Teenager einzufangen. Die Unsicherheiten, widersprüchliche Gefühle, das Schwanken zwischen cool sein oder seiner inneren Stimme folgen zu wollen, die typischen Probleme mit den Eltern und eine gewisse Plan- und Orientierungslosigkeit was die Zukunft angeht – all dies findet sich im Protagonisten Charlie Lewis, der dann durch das unerwartete Verlieben vollends ins Wanken gerät. Der erwachsene Charlie hätte sicher noch mehr sagen können und dürfen, bleibt jedoch eine Figur am Rande, die nur den Rahmen liefert.

„Sweet Sorrow“ war mein erster Roman von David Nicholls und er hat mich stark an die 90er Jahre Romane von Nick Hornby erinnert. Im Zentrum der Geschichte der sympathische Loser, dem nichts so richtig auf Anhieb gelingen will, der aber irgendwie liebenswert ist und ganz sicher das Herz am rechten Fleck hat. Das zeigt Charlie vor allem im Umgang mit seinem alkoholabhängig-depressiven Vater. Eigentlich hätte er selbst genügend Probleme, muss er sich auch noch um einen Erwachsenen Kümmern, der als Erzieher völlig ausfällt.

Was mich bei Hornby immer begeisterte, findet sich auch bei Nicholls: die musikalische Einbettung des Romans. Wer in den 90ern jung war und britische Musik liebte, wird seine große Freude an „Sweet Sorrow“ haben. Daneben überzeugt Nicholls damit, dass er die erste große Liebe nicht verklärt und überhöht und zu dieser bittersüßen Liebesgeschichte den Jugendlichen auch die Realität in Form der Eltern aufbürdet.

Die erste Liebe, präsentiert wie ein Popsong, den man einen Sommer lang in Dauerschleife hört und doch nicht überdrüssig wird und der einem Jahre später, wenn er zufällig wieder einmal im Radio läuft, an die Zeit erinnert und fröhlich mitträllern lässt.

Manja Präkels – Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Manja Präkels - Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
Manja Präkels – Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Mimi Schulz wird in die geordnete Welt einer Kleinstadt im Havelland hineingeboren. Der äußere Rahmen wird durch die DDR bestimmt, der familiäre durch die Krankheit des Vaters und die Linientreue der Lehrerinnen-Mutter. Als Kind spielt Mimi gerne mit Oliver, er wohnt nebenan und so verbringen sie die Freizeit und Familienfeste zusammen, bei denen sie den Erwachsenen die Schnapskirschen klauen. Doch mit dem Mauerfall ändert sich einiges in der Ordnung der Stadt. Die vormals Begünstigten haben plötzlich das Nachsehen, viele fühlen sich von der neuen BRD und ihrem Kapitalismus im Stich gelassen, wozu noch Pläne machen für eine Zukunft, die außer Ungewissheit nichts mehr bietet? Plötzlich tauchen Nazis auf, Schlägergruppen, die auf alles eindreschen, was nicht rechtzeitig davonlaufen kann. Oliver gehört auch zu ihnen, er ist jedoch kein Mitläufer, sondern ihr Anführer, ehrenvoll „Hitler“ genannt. Und so wird der Kindheitsfreund plötzlich zum ärgsten Feind.

Manja Präkels hat für ihren Debütroman den Deutschen Jugendliteraturpreis sowie den Anna-Seghers-Preis 2018 erhalten. Ich hätte das Buch nicht per se als Jugendbuch klassifiziert, auch wenn es sicherlich auch Jugendliche anspricht. Dass es jedoch beide Auszeichnungen verdient hat, steht völlig außer Frage, denn der Autorin ist gelungen, sowohl die kindlich-verklärte DDR-Idylle wie auch die Wende und die schwierigen 90er Jahre einzufangen ohne zu werten und ohne die Figuren für ihre Gedanken oder ihr Handeln abzuurteilen.

Mimis Kindheit ist recht sorgenfrei, wie dies glücklicherweise für die meisten der Fall ist. Die großen Zusammenhänge bleiben ihr verborgen, sie ist zwar eine fleißige Schülerin, was sie aber nicht von gelegentlichen Ausrutscher und Ausbrüchen bewahrt. Sie wächst heran zur Jugendlichen, die ersten näheren Begegnungen mit Jungs verlaufen eher weniger zufriedenstellend und die Dimension der Wende erschließt sich ihr eher im Kleinen mit veränderten Zukunftsplänen als in ihrer globalen Relevanz. Doch plötzlich wird die Idylle durchbrochen: die Menschen verändern sich, der Einfluss des Westens wird sichtbar und Mimi fragt sich:

Was mit unserem Land, der DDR, geschah, war aus der Froschperspektive schwer zu überblicken. Niemand sprach mehr von ihr. Waren wir noch da? Es hatte freie Wahlen gegeben. Mein neuer Reisepass wies mich als Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik aus. Aber alle redeten nur von Deutschland und meinten die BRD. Karl-Marx-Stadt hieß jetzt Chemnitz.

Doch diese Verunsicherung ist es nicht, die alles ändern wird, sondern das, was ihr Freund Zottel treffsicher auf den Punkt bringt:

Die Südafrikaner hatten gerade die Apartheid abgeschafft, aber, wie Zottel bei jedem unserer Treffen zu bemerken pflegte: »Bei uns jibt’s jetz endlich wieder Nazis. Prost!«

Zunächst sind nur die Ausländer Ziel ihrer Angriffe, dann aber auch zunehmend all jene, die den alten Staat verkörpern oder die nicht zu ihnen gehören. So wie Mimi. Es sind nicht irgendwelche Leute, die sie beschimpfen und jagen. Es sind junge Erwachsene, die sie kennt, mit denen sie als Kind gespielt und in der Jugend gelacht hat. Es dauert, bis ihr die Lage wirklich bewusst wird und als sie sich der Thematik journalistisch nähert, bringt sie sich in Lebensgefahr.

Es fällt nicht schwer mit Mimi zu sympathisieren, auch ihr Staunen ob der Veränderungen und ihre Verunsicherung und Orientierungslosigkeit sind leicht nachzuvollziehen und werden von Manja Präkels authentisch und glaubwürdig geschildert. Die Jagdszenen der Neonazis sind nicht einfach zu ertragen, man erinnert sich an die Bilder aus den 90ern und starrt umso ungläubiger auf die aktuellen Nachrichten. Wenn Literatur etwas bewegen kann, dann solche Bücher, die keine Ideologie vorgeben, nicht mit erhobenem Zeigefinger den rechten (und nicht politisch rechts-außen) Weg zeigen, sondern alternative Denkweisen anbieten und Raum für Emotionen lassen, die in Zeiten großer Verunsicherung nun einmal nicht zu leugnen sind.

Auch wenn die Thematik an Ernsthaftigkeit kaum zu überbieten ist, ist er doch über weite Strecken auch leicht und unterhaltsam. Auch wegen der Thematik erinnert er mich an die Romane von Thomas Brussig, der ebenfalls das Verbindung von unterhaltsam und dennoch relevant leichtfüßig gelingt. Ein rundum überzeugender Roman, der weiteren Werken der Autorin gespannt entgegenblicken lässt.